Am 30.6. trat das Ärzte-Team der Zentralen Notaufnahme (ZNA) der Klinik Ottakring in einen einstündigen Warnstreik. Wir sprachen mit der Sprecherin des Streikkomitees, Dr.in Aglaia Kotal, um eine Zwischenbilanz zu ziehen.
Frau Kotal, Streiks gelten nicht als Spezialgebiet der Medizin. Was treibt Sie auf die Barrikaden?
Vor dem kommenden Winter muss was passieren, dies ist der Grundgedanke, der das Team anspornt. Wir bekommen die meisten Rettungszufahrten in Wien, teilweise auch vom anderen Ende der Stadt. Wir sind aber mittlerweile so ausgedünnt im Team – zu viel Arbeit für zu wenige Schultern. Und in unserem Job kann das echt gefährlich für unsere Patientinnen und Patienten werden. Es kommt wieder eine Grippe- und/oder Covid-Welle, und das können wir nicht mehr stemmen. Wir haben über viele Monate Gefährdungs- und Überlastungsanzeigen geschrieben, Öffentlichkeit geschaffen, es wurde applaudiert, wir versuchten in den kollegialen Gremien das Maximum des Möglichen rauszuholen, aber wir scheitern am System. Die Idee, mal was Neues auszuprobieren, ist also nicht so megarevolutionär, sondern eine schlichte Notwendigkeit. Der einstündige Warnstreik war der momentane Höhepunkt einer stufenweise Eskalation.
Was ist das „System“?
Der öffentliche Versorgungsauftrag wird in Wien durch die Berufsrettung und den Gesundheitsverbund, den Betreiber der städtischen Spitäler, geleistet. Die Stadt wächst jedes Jahr um mehrere zehntausend Personen, aber die Infrastruktur (wie Spitäler) kommt da nicht mit, im Gegenteil. In den letzten Jahren kam es zu einer regelrechten Flucht der Mitarbeiter aus den städtischen Spitälern. Also ohne private Gesundheitsanbieter geht es sich kapazitätsmäßig nicht aus. Es fließt also öffentliches Geld in private Spitalsbetreiber, die sich die Patienten(anzahl) aussuchen.
Auch innerhalb des öffentlichen Bereiches gibt es eine Tendenz zur Auslagerung: Dienstleistungen (Putzen, Labor, Diagnose…) werden fremdvergeben und zurückgekauft, und ein gewisses Ausmaß an Betten wird für Sonderklassepatienten freigehalten. Man braucht einen gewissen Idealismus, um als Spitalsärztin zu arbeiten, aber auch als niedergelassener Arzt mit Kassenvertrag. Innerhalb von drei Minuten kann man keine befriedigende Anamnese, Diagnose und Therapieansatz entwickeln. Der Praktiker im niedergelassenen Bereich braucht einen raschen Patientendurchfluss am Tag, um genug Geld für Leasing-, Kreditraten etc. und natürlich für sich und die Löhne des Personals zu verdienen. Klar ist es heute lukrativ als Privat- oder Wahlarzt zu arbeiten. Aber es ist auch eine individuelle Frage der Ethik, da hat man mehr Zeit für Patienten. Es kommt also alles ins Schwimmen, auch die Strukturen.
Früher gab es eine eher zentralistische Steuerung des Versorgungsauftrages im damaligen KAV, heute erfolgt das dezentral und betriebswirtschaftlich, ohne dass die Strukturen angepasst worden wären. Verantwortung wird hin- und hergeschoben. Die zuständigen Stellen zu finden, gleicht einer Schnitzeljagd und wehe man hält den Dienstweg nicht ein! Wir im öffentlichen Bereich, die an den Patienten arbeiten und die Grundversorgung sicherstellen, arbeiten direkt an der Basis, werden aber nicht gefragt, sondern es wird nur auf das weit entfernte Spitzenmanagement gehört. Das ist aber meiner Meinung nach mit der momentanen Krisensituation massiv überfordert.
Wie organisiert ihr euren Arbeitskampf?
Wir haben unsere Forderungen formuliert, ein Streikkomitee von 10 KollegInnen gebildet, und alle öffentlich informiert, dass wir einen Warnstreik vorbereiten. Zwei von uns wurden zu Streikkomiteesprechern gewählt, Kollege Severin Ehrengruber und ich. Das hat sich als Vorteil herausgestellt, denn der Sturm ging sofort los. Solange der Streik in der Schwebe war, versuchte man uns einzuschüchtern und öffentlich zu diskreditieren, da muss man durch. Der 30. Juni hat dann gezeigt, dass wir nur die Speerspitze sind und nicht die Solisten, Quertreiber und Verräter, als die man uns darstellte. Wir waren viele, die ganze ZNA, viele aus allen Bereichen des Spitals und auch ehemalige Kollegen, die sich weiter verbunden mit der Klinik fühlen. Streikbrecher gab es keine, aber viel Kreativität und Engagement: Schilder, Transparente, greifbares Engagement allerorten, wunderbare schriftliche und gesprochene Beiträge, darunter auch von der Liste Solidarität, die ja in der Pflege verankert ist, auch in der ZNA.
Habt ihr greifbare Resultate?
Ja, es gibt die Zusagen, einige Anschaffungen und bauliche Verbesserungen umzusetzen. Wir bekommen auch mehr Springer aus anderen Häusern, und vielleicht werden Rettungsanfahrten reorganisiert. Darüber wissen wir nichts, man glaubt, mit uns nicht reden zu müssen. Aber das Wichtigste ist die Stabilisierung der Personalsituation. Wir brauchen Bedingungen, dass die Abwanderungswelle sofort stoppt, Kollegen kündigen aktuell weiter und das Recruiting stockt. Zentral ist also die unmittelbare Erhöhung der Entlohnung als stabilisierende Maßnahme. Unsere Evaluierung ergab, dass wir noch nicht am Ziel sind, in einer Abstimmung sprachen sich die Kollegen deutlich dafür aus, den Arbeitnehmerkampf zu intensivieren. Daran arbeiten wir aktuell.
Euch wird vorgeworfen, dass ihr eine politische Kampagne der Ärztekammer gegen das Rote Wien führt.
Ich stehe der ÄK politisch kritisch gegenüber, aber sie hat eine enorm wichtige Aufklärungsarbeit geleistet. Sie hat ein Rechtsgutachten erstellen lassen, das eine wichtige Frage entmythologisiert: Es ist eben nicht das alleinige Recht des ÖGB einen Streik zu organisieren, sondern das dürfen alle Arbeitnehmer, die das sachlich begründen können. Gut, dass das rechtlich und praktisch klargestellt ist! Und dann wurde den Verantwortlichen klar, dass ich ja eine „Rote“ bin und SPÖ-Mandatarin in Hernals, also konnte die Erzählung, es handle sich um eine Ärztekammerhetze, um das Rote Wien zu stürzen, so nicht stimmen. Die Medien machten es gerne zu einem Konflikt Rot gegen Rot, der es aber nicht per se ist – welches Interesse sollte ich haben, das Rote Wien zu stürzen? Ich will meine Patienten schützen – die Wienerinnen und Wiener – und natürlich alles versuchen, damit mein Team nicht zerfällt!
Stadtrat Hacker bemängelt, dass es viel internes Potential gäbe, da viele im Gesundheitsbereich nur Teilzeit arbeiten.
Weil man es anders nicht aushält. Ich selbst hatte mich in eine Sepsis hineingearbeitet. Teilzeit ist eine Schutzmaßnahme für die eigene Gesundheit. Wir sind ja vom Arbeitszeitgesetz ausgenommen, dürfen über ein halbes Jahr lang 72 Stunden die Woche arbeiten. Wegen der Dienstplanunterdeckung ist Einspringen ja völlig normal bei uns. Und weil er die „ach so schrecklichen“ Nebenbeschäftigungen kritisiert hat: Meine Nebenbeschäftigung ist es, ein gewähltes Mandat in einer Bezirksvertretung zu haben, für die SPÖ. Soll ich also nicht kommunalpolitisch tätig sein, seiner Logik nach? Andere haben Vertretungsstunden in Kassenordinationen, weil es uns als Spitalsärzte untersagt ist, parallel einen eigenen Kassenvertrag zu haben. Sollen die also aufhören ihre Bevölkerung zu behandeln in Zeiten des Hausärztemangels? Und einige haben in Pandemiezeiten in Impfstraßen geimpft – ein Hacker-Projekt, soweit ich mich erinnere.
Bisher haben wir noch nicht über die Gewerkschaft und die Personalvertretung gesprochen.
Bis auf die Basisinitiative, ja. In der Privatwirtschaft war ich Mitglied, jetzt nicht mehr. Sowohl unsere Personalvertretung (PV) vor Ort als auch die zuständige Gewerkschaft younion sind unter der Ärzteschaft nicht wirklich ein Thema. Wir haben die gewerkschaftliche Organisation einfach nicht in unserer DNS und die PV verteilt Eiscreme und Mineralwasser, aber was deren eigentliche Aufgaben wären, das ist – glaube ich – vielen im Spital gar nicht bewusst. Da könnte man nachbessern und Aufklärungsarbeit leisten. Aber ehrlich gesagt, was macht man mit einer Personalvertretung, die auf der Seite des Arbeitgebers steht – auf Bussi Bussi mit der hiesigen Pflegedirektion und per Du mit der Generaldirektorin?
Die PV fällt dadurch auf, dass sie Druck auf die anderen Berufsgruppen ausübt, sich nicht zu wehren und sich vom Streik fernzuhalten. Die ZNA ist bei uns im Haus gleich neben dem Büro der PV, aber nie wären sie auch nur einmal zu uns reingekommen. Wir waren bereits Anfang des Jahres durch heftige Gefährdungsanzeigen und schreckliche Fotos unserer überfüllten Ambulanz in den Medien – spätestens dann wäre es doch fein gewesen, wenn die PV mal nachfragt, was eigentlich los ist, oder? Ich bin eine Woche vor der Streikankündigung dann zu ihnen und habe mich vorgestellt und die aktuelle Situation skizziert. Ich habe die Vorsitzende eingeladen, dass sie vorher mal bei uns nachfragen, wie die Lage ist, bevor sie den Medien wenig hilfreiche Interviews über uns geben. Ich bin selbst eine gewählte Vertreterin und bin der Ansicht, dass Vertretungsarbeit auch eine aufsuchende Arbeit ist. Wenn wo der Hut brennt, dann muss ich dort hin und nachfragen, was ich tun kann!
Wir argumentieren, dass man die Möglichkeiten des Personalvertretungsrechts nützt, um die Streikbewegung auszuweiten. Konkret etwa eine Basiskampagne zur Durchsetzung von Dienststellenversammlungen aller Beschäftigungsgruppen im Spital, um einen streikhaften Notbetrieb einzuleiten. Hast du dazu einen Standpunkt?
Ich beschäftige mich mit diesem Vorschlag, gehe aber nicht von einem großen Erfolg aus. Die Gewerkschaft und die PV hätten genug Zeit gehabt, sich mit uns in Verbindung zu setzen. Wir werden erneut, der Vollständigkeit halber, um deren Unterstützung bitten. Wie gesagt, Gewerkschaft und Personalvertretung sind nicht die Speerspitze der Belegschaft, oder die Vermittler zwischen Belegschaft und Arbeitergeber, sondern in unserem Fall die Wellenbrecher gegen die Beschäftigten. Der Ansatz ist also konterintuitiv, die Interessensvertretung zudem ein undurchschaubares Gewirr von Ausschüssen etc… Aber ich bin dabei, mir das anzuschauen. Jetzt ist aber mal volle Konzentration auf die unmittelbarsten Dringlichkeiten: Bedingungen durchsetzen, um die Personalsituation vor dem Winter zu stabilisieren.
Dazu weiter viel Erfolg!
(Das Interview führte Emanuel Tomaselli)
(Funke Nr.216/30.8.2023)