Türkei. Es scheint, als würde Präsident Erdogan fester im Sattel sitzen als je zuvor. Doch unter der ruhigen Oberfläche tut sich einiges. Florian Keller beschreibt die Lage.
Im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ tritt der Kaiser nackt vor seine Untertanen, in dem Glauben, die edelsten Kleider anzuhaben. Niemand will sagen, dass er nackt ist, bis ein kleines Kind ruft: „aber er hat ja gar nichts an“. Daraufhin verbreitet sich der Ruf im ganzen Volk, bis schließlich alle den Ruf angestimmt haben. Der Kaiser, merkt jetzt, dass er vollkommen nackt vor seinen Untertanen dasteht.
Der Präsident der Türkei Erdogan, der sich manchmal wohl selbst gerne als Sultan sieht, ist noch nicht ganz so weit. Nach dem Putschversuch gegen ihn im Juli dieses Jahres schien seine Machtstellung unantastbar zu sein. Über 50.000 Menschen wurden seither aus dem Staatsdienst entlassen. Über 150 Zeitungen, Radio- oder Fernsehsender wurden geschlossen. Hunderte tatsächliche oder angebliche MitverschwörerInnen wurden verhaftet. Dabei traf es nicht nur AnhängerInnen der angeblich hinter dem Putschversuch steckende „Gülen-Bewegung“, einer Bewegung rund um den konservativen Geistlichen Fetullah Gülen, der noch bis vor wenigen Jahren einer der engsten Verbündeten Erdogans war.
Auch SympathisantInnen der kurdischen Befreiungsbewegung und viele Linke wurden in dieser Verhaftungs- und Entlassungswelle zur Zielscheibe. 22 BürgermeisterInnen der kurdischen HDP in großen Städten wurden von oben einfach ausgetauscht. Seit dem Putschversuch herrscht der Ausnahmezustand, in dem de Facto ohne Parlament regiert werden kann. Erdogans scheinbare Stärke ist jedoch in Wirklichkeit nur Ausdruck seiner Schwäche und der schwinden Stabilität des türkischen Kapitalismus.
Den Beginn seiner Präsidentschaft kennzeichnete ein großer Wirtschaftsaufschwung, der die Basis für gewisse Reformen und Zugeständnisse an die ArbeiterInnen und Armen legte. Das wiederum war die Grundlage für eine Serie von Wahlsiegen, die seine AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) einfahren konnte. Gleichzeitig wurde auf dieser Basis ein Friedensprozess in den kurdisch bewohnten Gebieten gestartet, Erdogan rückte näher an die EU und kultivierte in der Region die außenpolitische Doktrin, dass die Türkei „null Probleme mit Nachbarn“ haben sollte.
Heute haben sich all diese Vorzeichen der Herrschaft Erdogans geändert. Aus Stärke wurde Schwäche. Die Wirtschaft ist in einem extrem schlechten Zustand. Im 3. Quartal 2016 gab es das erste Mal seit 2009 einen Wirtschaftseinbruch. Die Währung der Türkei, die türkische Lira, steckt in einem Dauertief. Die Regierung ruft die Bevölkerung mittlerweile sogar dazu auf, ihre Dollars unter dem Kopfkissen in die Landeswährung Lira umzutauschen, um die Währung zu stützen. Gleichzeitig opferte Erdogan den Frieden für den Erhalt seiner eigenen Herrschaft und provozierte einen erneuten Bürgerkrieg in den kurdischen Gebieten. Auch die außenpolitische Doktrin „null Probleme mit Nachbarn“ ist gescheitert, böse Zungen behaupten, dass daraus „Null Nachbarn ohne Probleme“ geworden ist.
Nachdem Erdogan nicht mehr mit Zugeständnissen regieren kann, regiert er jetzt mit Spaltung, Unterdrückung und dadurch, dass er seine eigene Person „alternativlos“ macht. An die Stelle von Wirtschaftswachstum wurde die Islamisierung des öffentlichen Raumes, der Gesetzgebung und der Bildung gesetzt. An Stelle von Brot gibt es für die türkische Arbeiterklasse nur noch den geistigen Fusel der Religion.
Nach der Verhaftung der Vorsitzenden und einiger Abgeordneten der linken HDP (Demokratische Partei der Völker) im November gab es schon eine Reihe von Protestkundgebungen und Demonstrationen. Unter anderem wurde nach einer Demonstration mit 50.000 TeilnehmerInnen ein Gesetz zurückgenommen, das unter bestimmten Bedingungen die Vergewaltigung Minderjähriger legalisiert hätte. Erdogan steht in Wirklichkeit schon genau so nackt da, wie der Kaiser aus dem Märchen. Und nur die türkische Arbeiterklasse und die kurdische Bewegung kann ihm das beweisen, sobald sie kollektiv in Bewegung gerät.