Nach eineinhalb Monaten, die von Großprotesten geprägt waren, erzwangen die AlgerierInnen den Rücktritt des greisen Präsidenten Abd al-Aziz Bouteflika. Aber den Massen ist klar, dass dieser Rücktritt alleine gar nichts ändern wird. Daniel Ghanimi berichtet.

 

Der Rücktritt von Bouteflika hat in der politischen Landschaft Nordafrikas eingeschlagen wie eine Bombe. Algerien war seit dem ersten Höhepunkt der arabischen Revolution ein, relativ gesehen, scheinbarer Pol der Stabilität. Doch jetzt konnte die Regierung nichts anderes tun, als mit juristischen Spielereien zu verdecken, dass gerade eine Massenbewegung den Präsidenten gestürzt hatte.

Der Rücktritt Bouteflikas wurde mit Artikel 102 der algerischen Verfassung begründet. Dieser besagt, dass der Präsident zurücktreten muss, wenn er nicht mehr gesundheitlich in der Lage ist, das Land zu regieren. Doch tatsächlich wurde die Regierung gezwungen, gegenüber dem Druck der Massenerhebung nachzugeben, um die herrschende Ordnung aufrechtzuerhalten. In dieser Bewegung stehen die ArbeiterInnen und die Jugend an vorderster Front. Alleine im März gab es vier Aktionstage, an denen Millionen von DemonstrantInnen auf der Straße waren, und zwei Generalstreiks, die große Teile der staatlichen Betriebe und Teile der Privatwirtschaft zu einem kompletten Stillstand brachten. In einigen mittelgroßen Städten wie Bejaia (130.000 EinwohnerInnen) und Tizi Ouzou (90.000) organisierten die lokalen Organisationen der UGTA, die größte Gewerkschaft des Landes, Generalstreiks und hatten de facto die komplette Macht in ihren Händen. Diese Streikbewegung, die den Rückhalt der gesamten Arbeiterklasse Algeriens hatte, fand in der Gewerkschaftsbürokratie aber einen direkten Feind, denn sie hat Angst vor einer unabhängigen revolutionären Arbeiterbewegung. Doch die Massen lassen sich momentan nicht bremsen. So wurde „Nieder mit Sidi Said“ (Vorsitzender der UGTA) eine weit verbreitete Parole auf den Demonstrationen.
Am 16. April führten die andauernden Proteste so schließlich zu einem weiteren Rücktritt, dem des Vorsitzenden des Verfassungsrates Tayip Belaiz.

Die Rolle der Armee

Als Folge dieser Bewegung distanzierten sich immer mehr Teile der alten Elite von Bouteflika und gaben sich als FreundInnen der DemonstrantInnen aus. So betonte der Armeechef Ahmed Gaid Salah, der sich anfangs demonstrativ auf Bouteflikas Seite gestellt hatte, davon, dass der Präsident nicht mehr in der Lage sei zu regieren, und sprach sich für seinen sofortigen Rücktritt aus – was schließlich das Schicksal Bouteflikas besiegelte.

Der Armeeführung, welche der Rückendeckung des französischen Imperialismus vertraut, ist klar, dass sich die Massenbewegung nicht einfach so in Luft auflösen wird. Sie hat diejenigen im alten Regime, die aus Angst um ihre Privilegien an Bouteflika festhielten vor vollendete Tatsachen gestellt. Sie ist darauf erpicht (faule) Kompromisse zu schließen, um die Macht der herrschenden Klasse stabil zu halten.

Salah spricht davon, dass „Volk und Armee auf der gleichen Seite stehen“. Doch die Armee war und ist noch immer ein entscheidender Machtfaktor des Regimes. Zwar nahm sie Ali Haddad, Geschäftsmann und Vertreter der größten Unternehmervereinigung des Landes fest, als er das Land mit großen Bargeldsummen verlassen wollte, und erfüllte so eine wesentliche Forderung der Massenbewegung. Doch Maßnahmen wie diese sind der Versuch der Armee, einzelne RepräsentantInnen der alten Ordnung zu entfernen, um das System in seiner Gesamtheit stabil zu halten.

Die Armee scheint auf folgendes Szenario hinzuarbeiten: Es kommt am 4.Juli zu den typischen Scheinwahlen mit handverlesenen KandidatInnen, die letztendlich alles beim Alten belassen. So wäre es der Armee gelungen, den Kapitalismus in Algerien stabil zu halten und die Massenbewegung zu schwächen – und das ohne eine gewaltsame Niederschlagung der Streiks und Demonstrationen. Denn die Armeeführung weiß: Viele einfache Soldaten und Unteroffiziere sympathisieren mit der Bewegung, sind selbst die Kinder von ArbeiterInnen. Wenn sie gegen die Bevölkerung eingesetzt werden, wird die Armee zerbrechen. Schon jetzt gibt es Videos die belegen, dass vereinzelt selbst Bereitschaftspolizisten auf die Seite der DemonstrantInnen überliefen.

Die falschen Freunde der Massen

Als die Proteste ausbrachen, waren die liberalen und reformistischen „Oppositionellen“ die ersten, die davon sprachen, dass „nationale Einheit“ das Gebot der Stunde sein solle, um „Demokratie“ und „Rechtstaatlichkeit“ zu erlangen. Zudem forderten sie, „bekannte Personen“ (diejenigen, die der herrschenden Klasse gegenüber loyal sind) an die Spitze der Massenerhebung zu stellen. Diese Orientierung zeigt, dass diese Damen und Herren letztendlich nur die andere Seite der Medaille der brutalen Unterdrückung von Bouteflika und Co. sind, indem sie sich entweder nicht vorstellen können, dass die ArbeiterInnen und Jugendlichen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können, oder sich selbst vor dieser Perspektive fürchten, weil auch ihre Privilegien dann in Frage stehen würden!

Die Aufgabe der gründlichen Beseitigung des ganzen unterdrückerischen Systems kann nur von der Arbeiterklasse und der Jugend übernommen werden, die den Rücktritt Bouteflikas auf den Straßen Algiers mit der Parole „Das ist erst der Anfang!“ beantwortet hat. Ihnen ist klar, wie wenig die Wahlen am 4.Juli ändern können. Die Proteste gehen in der annähernd gleichen Intensität wie zuvor weiter. Die Bewegung lässt sich nicht durch Worte und symbolische Gesten wie der gerichtlichen Untersuchung von zwölf, mit Bouteflika verbundenen, Oligarchen Ende März bremsen. Das ist die richtige Orientierung.

Denn tatsächlich können Elend und Unterdrückung nur durch eine Vollendung der Revolution überwunden werden, die die Beseitigung des Kapitalismus, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und den Aufbau einer demokratischen Planwirtschaft zur Befriedigung der Lebensbedürfnisse der Massen zum Ziel hat.

(Funke Nr. 173/Mai 2019)


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