Seit dem 06. Oktober ging die nigerianische Jugend landesweit massenhaft auf der Straße und forderte die Abschaffung der Polizeieinheit „Special Anti-Robbery Squad“ (SARS) – eine der beeindruckendsten Jugendbewegung in der Geschichte des Landes. Von Laura Höllhumer.

Unmittelbarer Auslöser war die Ermordung eines jungen Mannes durch die Polizeieinheit SARS, die seit den 90er Jahren erpresst, misshandelt und tötet.

SARS ist jedoch nur eines von vielen Problemen in Nigeria: Es herrscht extreme Armut und das politische Establishment ist durch und durch korrupt. Weiters finden ständig Vertreibungen der nordwestlichen Bevölkerung durch den Terror von Boko Haram statt. Die Auswirkungen der COVID-Pandemie und die Wirtschaftskrise kommen zusätzlich zu bereits düsteren wirtschaftlichen Aussichten. Deren Last trägt die Arbeiterklasse und die Jugend durch Preissteigerungen, Steuererhöhungen und Arbeitslosigkeit (27,1%, mit den Unterbeschäftigten sogar 55,7%).

Der Mord durch SARS war ein Vorfall zu viel und schnell breiteten sich landesweit Proteste aus. Die Polizei befand sich in der Defensive, ihre Strategie war eine Mischung aus Angriffen auf die Demonstrationen durch Kriminelle, und Zugeständnissen (SARS wurde offiziell aufgelöst und wird unter anderem Namen neukonstituiert). Aber das hatte nicht den erhofften Effekt. Weder Repression, noch das Entfernen einiger „schwarzen Schafe“ aus der Polizei brachten die Menschen von der Straße. Am 20. Oktober zeigte die herrschende Elite in Nigeria ihr wahres Gesicht: Soldaten eröffneten das Feuer auf unbewaffnete, friedliche Demonstranten an der, im Rahmen der Proteste besetzten, Mautstelle in Lagos. Bei dem Massaker starben etwa 15 Menschen und ca. 100 wurden verletzt.

Der spontane Jugendaufstand möchte eine führerlose Bewegung sein, angesichts der korrupten Eliten und des wiederkehrenden Verrats der Führung der Arbeiterbewegung ein nachvollziehbarer Impuls. Erst im September hatte die Gewerkschaftsführung einen geplanten Generalstreik gegen Preiserhöhungen kurzfristig abgeblasen. Das Misstrauen gegen alles, was als „politisch“ gilt, ist groß. Das, und die Ablehnung politischer Debatten innerhalb der Bewegung stellen aber auch eine enorme Schwäche dar.

So nützten Kriminelle und auch viele verzweifelte Arme das Chaos und das Fehlen organisierter Proteste nach dem Vorfall des 20. Oktober aus, um brandzustiften und zu plündern. Eine Führung mit Perspektive hätte Demo-Schutz und Selbstverteidigung, sowie die Ausweitung der Proteste auf die Arbeiterklasse organisieren können. Über die Polizeigewalt hinausgehend, hätten die vielen Probleme der nigerianischen Gesellschaft adressiert werden können. So könnte man aufzeigen, wie Polizeigewalt mit dem herrschenden System zusammenhängt. Der Gegner – die herrschende Klasse und der Staat – ist bestens organisiert und bewaffnet. Doch die Ertränkung der Proteste in Gewalt und Repression wird keine der gesellschaftlichen Probleme lösen.

Die aktuelle Bewegung ist der Beginn eines tieferen Prozesses, denn die Jugend, wie Trotzki herausstrich, agiert als sensibles Barometer der Unzufriedenheit in der Gesellschaft. Die kommenden Klassenkämpfe bringen das Potential einer revolutionären Umgestaltung der nigerianischen Gesellschaft. Als bevölkerungsreichstes Land Afrikas (200 Mio. EinwohnerInnen) und die größte Volkswirtschaft des Kontinents, wird eine revolutionäre Bewegung in diesem Land profunde Auswirkungen auf ganz Afrika haben.


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