Am 20. Mai haben die israelische Armee und die Hamas einen Waffenstillstand vereinbart, der zum Zeitpunkt der Drucklegung dieser Ausgabe hält. Florian Keller beleuchtet die Hintergründe und zeigt, wem dieser Waffenstillstand zu verdanken ist.

Das Bombardement des Gazastreifens hat international große Wellen geschlagen. Die Regierungen in den USA und Europa rechtfertigten diese Angriffe und machen sich damit zum Komplizen der zynischen Politik von Israels Premier Netanjahu, der für seine eigenen politischen Ziele über Leichen geht. Die Angriffe auf den Gazastreifen kosteten 243 Menschenleben, 12 Menschen starben in Israel. Der ungleiche Krieg hat eine Protestwelle in Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf ausgelöst, die weltweit Hunderttausende auf die Straßen gebracht und die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung wieder ins Licht der Weltöffentlichkeit gerückt hat.

Der israelische Imperialismus

Das Schicksal der PalästinenserInnen ist schon seit Jahrzehnten eines von Vertreibung, Unterdrückung und Krieg. Dass diese Angriffe gerade jetzt stattfinden liegt jedoch vor allem daran, dass Netanjahu verzweifelt um die Macht in Israel ringt. Dazu stützt er sich immer mehr auf die Verschärfung der imperialistischen Politik gegenüber den PalästinenserInnen und die Spaltung der israelischen Bevölkerung entlang religiöser und nationaler Linien mithilfe rassistischer Politik.

Israel besitzt die schlagkräftigste Armee im Nahen Osten und ist vor allem durch ihren wiederholten Einsatz die mächtigste imperialistische Macht der Region. Israel ist aber auch eines der Industrieländer mit der größten sozialen Ungleichheit. Schon Anfang 2020 waren 30% der Kinder von Armut betroffen. Seitdem haben sich durch die Krise und die steigende Arbeitslosigkeit die Widersprüche weiter zugespitzt.

Politisch bringt das Netanjahu immer mehr unter Druck. Auch nach vier Wahlen seit 2019 hat das Land keine stabile Regierung. Im Sommer 2020 gingen zehntausende Menschen gegen Korruption und die autoritären Tendenzen des Regimes auf die Straße. In dieser Situation ist Netanjahu immer mehr darauf angewiesen, mit außenpolitischen Erfolgen und dem Schüren des Konflikts mit den PalästinenserInnen eine Stimmung der „nationalen Einheit“ in Israel selbst zu schaffen.

Das führte in den letzten Jahren zu einer beispiellosen Offensive gegen die palästinensische Bevölkerung in den besetzten Gebieten und gegen die grundlegendsten demokratischen Rechte der arabischen Israelis selbst. So peitschte Netanjahu 2018 das Verfassungsgesetz „Israel – Der Nationalstaat des jüdischen Volkes“ durch das Parlament, das unter anderem jüdische Siedlungen als „Nationalen Wert“ festschreibt und generell die Diskriminierung der arabischen Minderheit in Israel zementiert.

Mit der Unterstützung des US-Imperialismus in der Person von Donald Trump annektierte Israel auch einseitig Ostjerusalem und begrub damit jede Hoffnung auf eine verhandelte „Zweistaatenlösung“, die in Wirklichkeit aber ohnedies von Anfang an eine Illusion war. Die jahrelange Blockade des Gazastreifens hat diesen zum größten Freiluftgefängnis der Welt gemacht, in dem katastrophale gesundheitliche, soziale und wirtschaftliche Bedingungen herrschen.

In Israel und den besetzen Gebieten gibt es andauernde Übergriffe rechtsextremer jüdischer Siedler und der Polizei, die arabische Familien aus ihren Wohnungen vertreiben und/oder deren Häuser zerstören.

Auch die jüngste Eskalation geht direkt auf eine Provokation rechter Siedler und des israelischen Staatsapparates zurück. Nur wenige Tage zuvor war eine erneute Regierungsbildung Netanjahus gescheitert und verschiedene Oppositionskräfte suchten nach einem Kompromiss, um ihn entmachten zu können. Doch nachdem es im Ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah wieder zu Zwangsräumungen gekommen war, folgten dagegen entschlossene palästinensische Proteste. Das war nur die Spitze des Eisberges einer in den letzten Jahren immer stärker anwachsenden Massenbewegung der Jugend, die dazu entschlossen ist, gegen die Unterdrückung zu kämpfen. Die islamistische Hamas und die nationalistische Fatah stehen und standen bei dieser Bewegung immer außen vor.

Hamas und Fatah

In einer klar kalkulierten Provokation stürmte die israelische Polizei daraufhin die Al-Aqsa-Moschee, die drittheiligste Stätte des Islam. Um das Gesicht in den Augen der Massen nicht völlig zu verlieren, stellte die Hamas, die den Gazastreifen kontrolliert, Israel daraufhin ein Ultimatum, das Netanjahu natürlich verstreichen ließ. Daraufhin begann der Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen und das israelische Bombardement, mit dem auch jeder Gedanke an einen Regierungswechsel in Israel vom Tisch war.

Die Raketen der Hamas sind vom militärischen Standpunkt aus gesehen keinerlei Bedrohung für die israelische Armee. 90% werden schon von der israelischen Luftabwehr abgeschossen. Der wichtigste Effekt, den sie in Israel haben, ist, dass sie dem Staatsapparat als willkommene Begründung für die israelischen Bombenangriffe auf den Gazastreifen und die brutalen Unterdrückungsmaßnahmen der palästinensischen Befreiungsbewegung dienen. Von der Weltöffentlichkeit fast völlig ignoriert starben mindestens 26 Palästinenser im besetzten Westjordanland im Zuge von Demonstrationen gegen die Besatzung, die von israelischen Soldaten und Polizisten beschossen wurden. Mehr als 500 DemonstrantInnen wurden verletzt.

Als ob die PalästinenserInnen nicht schon genug unter der israelischen Besatzung und Gewalt leiden würden, müssen sie so auch noch mit ihrer eigenen unfähigen oder gar offen reaktionären Führung fertig werden, die sich die Rollen vom „good cop“ und vom „bad cop“ teilen. Die Fatah, die die palästinensischen Autonomiegebiete im Westjordanland kontrolliert, hat den Status quo der Besatzung akzeptiert.

Die reaktionäre Hamas wiederrum, die den Gazastreifen kontrolliert, wird trotz der martialischen Rhetorik und den Bombenangriffen ebenfalls von Israel geduldet: Deutlich wurde das etwa am Anfang des Jahres, als das Golfemirat Katar seine Hilfen für die Hamas im Gazastreifen auf 360 Mio. $ verdoppelte. Wie die „Times of Israel“ berichtete, finden diese Zahlungen seit 2018 mit der Zustimmung Israels statt.

Der einzige Weg vorwärts

Doch die palästinensischen ArbeiterInnen und Jugendlichen haben einen Weg gefunden, die israelische Regierung in Angst und Schrecken zu versetzen, auch wenn diese das nie zugeben würde. Am 18. Mai fand in den Palästinensergebieten ein Generalstreik statt, der aber zum ersten Mal auch in Israel selbst von vielen arabischen ArbeiterInnen befolgt worden ist. Er hat allein dem israelischen Bausektor, der stark von arabischen Arbeitskräften abhängig ist, ungefähr 40 Mio. $ (an einem Tag!) gekostet: Der israelische Verband der Bauindustrie berichtete, dass von 65.000 arabischen Bauarbeitern an diesem Tag nur 150 zur Arbeit erschienen waren. Die israelische Zeitung „Haaretz“ zitierte einen jüdisch-israelischen Bauarbeiter folgendermaßen:

„In Bet Schemesch, das gerade einen Bauboom erlebt, standen alle Kräne still. Ein Kranführer sagte, dass viele der Arbeiter Araber seien, die streiken würden, und fügte hinzu: ‚Wenn wir alle so für Arbeiterrechte kämpfen würden, vielleicht würden wir dann etwas erreichen.‘“

Auch wenn dem Kapital der Generalstreik schon so ziemlich weh getan haben muss, genau diese Perspektive des israelischen Kranführers ist es, vor der die herrschende Klasse in Israel höllische Angst hat: Dem gemeinsamen Klassenkampf von arabischen und jüdischen ArbeiterInnen. Auch erste Friedensdemonstrationen in Israel selbst, von denen die größte seit Jahren in Tel Aviv immerhin einige tausend Menschen auf die Straße bringen konnte, werden das verstärkt haben. Die Angst der herrschenden Klasse vor so einer Perspektive war der wirkliche Grund für den schnellen Waffenstillstand, nicht der Druck der USA oder „humanitäre Erwägungen“.

Die Kapitalisten in Israel stützen sich sowohl auf die Ausbeutung der jüdisch-israelischen ArbeiterInnen, als auch auf die imperialistische Unterdrückung der PalästinenserInnen, die es ihnen ermöglicht, mit Dumpinglöhnen zu produzieren. Objektiv gesehen haben also jüdische ArbeiterInnen und die PalästinenserInnen den gleichen Gegner. Gleichzeitig stützt sich die herrschende Klasse auf die Spaltung dieser beiden Bevölkerungsteile mit der dauernden Drohung des Krieges und der Unterdrückung und Diskriminierung der PalästinenserInnen.

Als Friedrich Engels 1874 analysierte, welche Auswirkungen die Unterdrückung Polens auf den Kampf gegen den Zarismus in Russland hatte, schrieb er:

„Ein Volk, das andere unterdrückt, kann sich nicht selbst emanzipieren. Die Macht, deren es zur Unterdrückung der andern bedarf, wendet sich schließlich immer gegen es selbst.“

Und wie man letzten Sommer sehen konnte, wurden die in der Unterdrückung der PalästinenserInnen geschulten Sicherheitsapparate auch ohne mit der Wimper zu zucken gegen Demonstrationen in Israel selbst eingesetzt, als sie für Netanjahu gefährlich wurden. Daher muss sich auch die israelische Arbeiterklasse die Befreiung der PalästinenserInnen auf die Fahne schreiben.

Der Generalstreik vom 18. Mai hat das Potential aufgezeigt, die gesamte Dynamik in diesem Konflikt zu ändern.

Daher:

  • Für einen Aufstand gegen die israelische Besatzung des Westjordanlands und die Blockade des Gazastreifens!
  • Nieder mit allen rassistischen Gesetzen und Maßnahmen, die die arabische und muslimische Bevölkerung in Israel benachteiligen!
  • Nieder mit der Armut und den Kapitalisten, die durch sie reich werden!
  • Für ein Bündnis der palästinensischen Massen mit der israelischen Arbeiterklasse: für einen Generalstreik über alle konfessionellen und nationalen Grenzen hinweg um volle nationale Rechte und soziale Verbesserungen gegen das Netanjahu-Regime!
  • Für das Recht auf ein Heimatland sowohl für PalästinenserInnen als auch für Juden und Jüdinnen im Rahmen einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens!

Imperialismus und Antisemitismus

Auf welcher Seite die österreichische Bundesregierung in diesem Konflikt steht, zeigte Kurz, indem er auf dem Bundeskanzleramt eine Israel-Flagge hissen ließ, während gleichzeitig eine Demonstration von türkisch-kurdischen Linken in Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf in Wien verboten wurde, obwohl sich die aufrufenden Organisationen klar gegen Islamismus und Antisemitismus positionierten.

Für uns ist eines klar: Antisemitismus ist, wie jede Form des Rassismus, ein tödliches Gift, dass die Arbeiterklasse spaltet und daher von der Arbeiterbewegung mit allen Mitteln bekämpft werden muss. Doch die Heuchelei der Bundesregierung in dieser Frage nimmt schon fast absurde Ausmaße an. Während die Bundesregierung eine Kundgebung in „Solidarität mit Israel“ organisierte, um vorgeblich gegen Antisemitismus zu demonstrieren, ließ sie zeitgleich eine Demonstration in Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf mit der absurden und rassistischen Begründung verbieten, dass „aufgrund der Teilnahme von jungen Männern mit türkischen, afghanischen und arabischen Wurzeln Ausschreitungen zu erwarten seien“.

Nebenbei bemerkt hat diese Bundesregierung auch kein Problem damit, mit tatsächlichen Antisemiten, wie z.B. dem türkischen Präsidenten Erdogan oder den Saudis zusammenzuarbeiten. Für die Arbeiterbewegung in Österreich heißt es, sich klar gegen jede Form des Rassismus, auch und gerade gegen Antisemitismus zu positionieren und gleichzeitig internationale Solidarität mit dem Befreiungskampf der PalästinenserInnen hierzulande zu organisieren.

Unsere Regierung ist kein Verbündeter, sondern ein Gegner in diesem Kampf. Wie schon Karl Liebknecht richtig feststellte: Der Hauptfeind steht im eigenen Land!

(Funke Nr. 194/26.5.2021)


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