Der Aufstand in Sri Lanka, der den Sturz des Präsidenten erzwang, lässt erahnen, welche politischen Ereignisse wir künftig weltweit sehen werden. Eine Analyse von Laura Höllhumer.
Aus akutem Treibstoffmangel ist das Verkehrssystem zusammengebrochen: Es blieb den Zehntausenden von wütenden Sri Lankesen also nichts anderes übrig, als zu Fuß ins Zentrum der Hauptstadt Colombo zu marschieren und dort zu protestieren. Die Weigerung des Präsidenten Gotabaya „Gota“ Rajapaksa, zurückzutreten, hatte eine explosive politische Stimmung erzeugt. Vor dem Präsidentenpalast versammelte sich Anfang Juli eine riesige Menschenmenge. Stunden später konnte via Internet die ganze Welt an der darauffolgenden revolutionären Poolparty teilhaben und bekam Einblick in die prunkvollen Gemächer des Präsidenten, in dessen Himmelbett jetzt einfache Arbeiter und Straßenverkäufer entspannten. Gota goes home: Der Präsident tritt zurück und flieht am nächsten Tag ins Ausland. Die gestürmte Präsidentenvilla wird übrigens danach von der Protestbewegung in eine öffentliche Bücherei aus gespendeten Büchern umfunktioniert - bis der neue Präsident sie gewaltsam räumen ließ.
In Sri Lanka hatte sich das wirtschaftliche Chaos durch den Staatsbankrott in eine politische Krise verwandelt. Dabei wirkte die Regierung lange Zeit äußerst stabil. Vertraute des Präsidenten besetzten immer mehr wichtige Ämter und er selbst konzentrierte zunehmend mehr Macht in seinen Händen. Innerhalb weniger Wochen entglitt ihm all das unter dem Druck der wirtschaftlichen Krise. Der Strom musste rationiert und bis zu 13 Stunden pro Tag abgeschaltet werden. Der Mangel an Treibstoff führte dazu, dass keine Lebensmittel mehr in die Städte transportiert werden konnten. Die Schulen hatten kein Papier und die Krankenhäuser keine Medikamente. Das wirtschaftliche Leid trieb die gesamte Bevölkerung auf die Straße. Sogar die tiefen ethnischen Spaltungen nach 26 Jahren Bürgerkrieg wurden im Kampf gegen die untragbaren sozialen Zustände überwunden.
Diese Vorgänge sorgten auch international für großes Aufsehen. So schrieb die Financial Times: „Wirtschaftlicher Druck führt zu politischer Instabilität, und wirtschaftlicher Druck herrscht überall.“ Und weiter: „Sri Lanka wird nicht das letzte Land sein, das sich zwischen der Subventionierung lebensnotwendiger Güter und der Bezahlung von Gläubigern entscheiden muss.“ Bloomberg prognostiziert eine „historische Serie von Zahlungsausfällen“, die den Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika bevorsteht und listet 19 Länder auf, für die diese Gefahr unmittelbar droht. Darunter sind El Salvador, Ghana, Tunesien, Ägypten, Pakistan und Argentinien.
„Wir leben in der Hölle!“
Für all diese Länder ist die aktuelle Lage der Weltwirtschaft wie ein giftiger Cocktail. Als Antwort auf die höchste Inflation in den USA seit 40 Jahren hob die Fed die Zinssätze stark an. Das hat für viele Länder massive Auswirkungen, weil ihre hohe Staatsverschuldung „untragbar“ wird. Der Anstieg der Treibstoff- und Lebensmittelpreise in Folge des Ukrainekriegs bedeutete dann den letzten Schubs in den wirtschaftlichen Abgrund. Zwei Monate nach Kriegsbeginn erklärte Sri Lanka im Mai die Zahlungsunfähigkeit. Damit begannen die Versorgungsprobleme, die schließlich den Präsidenten zu Fall brachten.
Seitdem haben auch Pakistan und Bangladesch beim Internationalen Währungsfonds (IWF) um eine Rettung durch Notfallkredite angesucht. Auch in Pakistan kommt es zu 14-stündigen Blackouts. Eine brutale Hitzewelle im Sommer mit 50°C und mehr wurde mittlerweile von zerstörerischen Überschwemmungen abgelöst. Das wird begleitet durch Versorgungsknappheit bei allen lebenswichtigen Gütern. „Wir leben in der Hölle!“, fasste es ein Pakistani gegenüber dem Guardian zusammen.
Benzin oder Essen?
In Lateinamerika sehen wir bereits in El Salvador, Argentinien und zuletzt Panama ähnliche Symptome wirtschaftlicher Verwerfungen, die revolutionäre Entwicklungen einläuten können. Bei den Straßenblockaden in Panama, nach dem Vorbild von Ecuador, las man auf Protestschildern „Gasolina o Comida?“ („Benzin oder Essen?“), eine Frage, die sich mittlerweile Millionen von Menschen stellen müssen.
Es wird weltweit genug Nahrung produziert, um 10 Mrd. Menschen zu ernähren. Allerdings verhindern die Funktionsweise des Weltmarktes, Krieg und Krise die Versorgung mit Lebensmitteln von Millionen. Ägypten hat bisher 80% seines Weizenbedarfs mit Importen aus Russland und der Ukraine gedeckt. Nun droht dort die schlimmste Nahrungsmittelkrise der modernen Geschichte. Angesichts dessen zeigt die herrschenden Klasse, wie arrogant und abgehoben sie ist. Der ägyptische Präsident Sisi empfahl der Bevölkerung sogar „Blätter zu essen“.
Im Libanon leben seit dem Staatsbankrott 2020 vier von fünf Libanesen unterhalb der Armutsgrenze. Jeden Tag bilden sich kilometerlange Schlangen vor den Bäckereien und der Hunger treibt viele Menschen in die Verzweiflung. Im August 2020 wurden durch eine Explosion im Hafen von Beirut noch dazu große Lagerstände von Weizen vernichtet. Die Tragödie war das Resultat fahrlässigen Handelns korrupter Beamter und danach kursierten Slogans wie: „Heute trauern wir, morgen wird geputzt, am nächsten Tag werden die Guillotinen aufgestellt.“
Revolutionäre Periode
Lenin schrieb 1908 in einem Artikel von der Anhäufung von Zündstoff in der Weltpolitik. Mit diesen Worten lässt sich auch die heutige Lage sehr gut beschreiben. Das Leid und damit auch die Wut der Massen nehmen mit jedem Monat zu. Wir sind erneut in einer Situation, wo die Lebensumstände für die unteren Klassen untragbar werden. Aber auch für die Herrschenden gibt es kein weiter wie bisher: Sie sind in der Krise gespalten und ihr System wird von Skandalen erschüttert. All das sind Symptome einer kommenden Revolution. Die entwickelten kapitalistischen Länder bleiben von dieser Entwicklung nicht ausgenommen.
Das einzig Sinnvolle ist es heute, eine marxistische Organisation aufzubauen, und zwar international. Revolutionäre Situationen, wie wir sie ansatzweise vor kurzem in Sri Lanka gesehen haben, schaffen die Bedingungen, unter denen wir den Kapitalismus mit all seinen Krisen ein für alle Mal beseitigen können. Fehlt eine solche Organisation, wird sich die Reaktion wie derzeit in Sri Lanka aber behaupten und mit Repression antworten. Doch selbst diese Phasen werden unter den gegenwärtigen Bedingungen der weltweiten Krise nur das Vorspiel für einen neuerlichen Ausbruch großer Klassenkämpfe sein.
(Funke Nr. 206/30.8.2022)