Dieses Dokument wurde Anfang August 2010 auf dem Weltkongress der IMT beschlossen und bildet ihre Arbeitsgrundlage für die kommende Periode. Im 1. Teil geht es um die Perspektiven der Weltwirtschaft.

Einleitung

Vor mittlerweile zwei Jahrzehnten ist der Stalinismus zusammengebrochen. In diesem Zeitraum haben wir eine beispiellose ideologische Offensive der Bürgerlichen erlebt. Der Druck bürgerlicher und kleinbürgerlicher Ideologien auf die ArbeiterInnenbewegung hat enorm zugenommen. Klassenfremde Ideen haben innerhalb der internationalen ArbeiterInnenbewegung an Einfluss gewonnen. Viele Menschen haben der Bewegung den Rücken gekehrt, andere sind geblieben, stehen aber einer sozialistischen Perspektive mit großer Skepsis und Zynismus gegenüber.

In diesem Klima gedeihen revisionistische Ideen, die den Druck des Kapitalismus widerspiegeln. Die vorgebrachten Argumente sind alles andere als neu. Keiner hat sie jemals besser vorgebracht als Eduard Bernstein vor hundert. Diesem Ansatz zufolge habe der Kapitalismus seine Probleme gelöst, Wirtschaftskrisen gehören der Vergangenheit an, Klassenkampf und Revolution stünden nicht länger auf der Tagesordnung, und wir würden "neue Ideen" benötigen, welche die "alten" Ideen von Marx und Engels ersetzen usw. usf.

Unsere Internationale ist stets entschieden gegen diese Tendenzen aufgetreten. Wir stehen für den Marxismus und einen revolutionären Klassenstandpunkt. Die Zeit hat uns Recht gegeben. In unserem Weltperspektiven-Dokument aus dem Jahre 2006 stellten wir die These auf, dass wir weltweit in eine Periode extremer Turbulenzen eintreten, eine Periode von Krisen, Kriegen, Revolutionen und Konterrevolutionen, in der die ökonomischen, sozialen und politischen Krisen sich gegenseitig bedingen. Wir glauben, dass diese allgemeine Charakterisierung der Periode, in der wir uns befinden, richtig war und durch die gegenwärtigen Entwicklungen bestätigt wird.

Wir leben in einer Periode voller Krisen, in der sich die Verhältnisse binnen weniger Wochen oder sogar Tage grundlegend verändern können. Diese generelle Instabilität manifestierte sich auf besonders dramatische Weise beim Zusammenbruch der Finanzmärkte, dem bald eine Wirtschaftskrise folgte, die ein Ausmaß annahm, das wir seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben. Auf der politischen Ebene waren die vergangenen Monate von den revolutionären Ereignissen in Honduras und vor allem im Iran geprägt, die für viele wie ein Blitz aus heiterem Himmel kamen. Diese Beispiele zeigen die Unvermeidlichkeit scharfer und plötzlicher Richtungsänderungen unter den gegebenen Verhältnissen. Jetzt steht Griechenland am Rande des Staatsbankrotts und wird von sozialen Unruhen erschüttert.

Diese Turbulenzen machen die Erarbeitung von Perspektiven noch schwieriger. Die klassische Physik konnte laminare Strömungen von Flüssigkeiten erklären und vorhersagen, sie konnte aber keine Turbulenzen erklären und vorhersagen, die eine komplizierte und chaotische Beschaffenheit haben. In einer Situation wie der jetzigen, die eindeutig den Übergang zwischen einer historischen Periode und einer anderen kennzeichnet, ist eine theoretische Analyse wichtiger denn je, aber auch schwieriger als je zuvor.

“Gerade in solchen Perioden entstehen notwendigerweise Übergangs- und Zwischensituationen und –kombinationen aller Art, die gegen die gewohnten Schemata verstoßen und doppelte, scharfe theoretische Aufmerksamkeit erfordern. Mit einem Wort, war es in einer friedlichen und geregelten Epoche (vor dem Krieg) noch möglich, von den Zinsen einiger fertiger Abstraktionen zu leben, so paukt einem heutigentags jedes neue Ereignis das wichtigste Gesetz der Dialektik ein: ‚Die Wahrheit ist stets konkret!’“ (Leo Trotzki, Bonapartismus und Faschismus, Juli 1934)

Wir leben in einer Periode von ("kleinen") Kriegen, Revolutionen und Konterrevolutionen, die Jahre oder Jahrzehnte andauern können, bis es zu einer echten Lösung kommen kann. Diese allgemeine Charakterisierung kann aber keinesfalls die Frage erschöpfend beantworten. Es besteht die Gefahr einer einseitigen und mechanischen Interpretation von Perspektiven, die, wenn sie nicht korrigiert werden, zu ernsthaften Fehlern führen können. Die allgemeine Beschreibung einer Periode allein ist nicht in der Lage die vielfältigen Veränderungen, die Unbeständigkeit des Konjunkturverlaufs, das Auf und Ab in den Klassenkämpfen und die verschiedenen Krisen und Umgruppierungsprozesse in den Massenorganisationen zu erklären.

Wir müssen jedoch ein Augenmaß bewaren. Aufgrund des Fehlens des subjektiven Faktors ist derzeit, trotz des insgesamt günstigen Kräfteverhältnisses, eine schnelle Bewegung in Richtung Revolution oder Reaktion in den entwickelten kapitalistischen Ländern ausgeschlossen. Die von Revolutionen und Konterrevolutionen geprägte Periode wird, mit Höhen und Tiefen, nicht Monate sondern Jahrzehnte dauern. Das bedeutet nicht, dass die Revolution am kommenden Montag um neun Uhr stattfinden wird oder dass die ArbeiterInnenbewegung sich in einem ständigen Aufwärtstrend befindet, ohne Niederlagen oder Rückschläge zu erleiden. Ein solches Konzept hat nichts gemein mit marxistischen Perspektiven.

Es handelt sich hierbei nicht um eine einfache Frage, sondern um einen schwierigen dialektischen Prozess. Der Übergang von einer Periode in eine vollkommen andere wird krampfartige Veränderungen in den Beziehungen zwischen den Klassen und zwischen Staaten erzeugen. Diese Spannungen werden auch an unseren eigenen Organisationen und Mitgliedern nicht spurlos vorüber gehen. Folgendes Zitat von Trotzki aus seinem Artikel "Über die Politik der KAPD" vom 24. November 1920 halten wir in diesem Sinne für sehr passend:

“Auf eine Reihe von Offensiven folgte der Rückzug, Aufständen folgten Niederlagen; Übergänge vom Angriff zur Verteidigung und bei alldem: Selbstkritik, Säuberungen, Spaltungen, Auswechseln von Führern und Methoden, neue Spaltungen und neue Vereinigungen. In diesen Feuertaufen und auf dem Amboss revolutionärer Erfahrungen ohnegleichen wird eine kommunistische Partei geschmiedet. Eine verächtliche Haltung gegenüber diesem Prozess und die Ansicht, dass es sich nur um eine Rauferei unter ‚Führern’ oder eine Familienstreitigkeit unter Opportunisten handeln würde, eine solche Haltung zeugt von extremer Kurzsichtigkeit, wenn nicht sogar Blindheit.“

Ein widersprüchlicher Prozess

Marx erklärte, dass der Schlüssel zu jeder sozialen Entwicklung in der Entwicklung der Produktivkräfte liegt. Die gegenwärtige Krise zeigt, dass die Entwicklung der Produktivkräfte weltweit an die engen Grenzen des Privateigentums und des Nationalstaates stößt. Dies ist die zentrale Ursache für die jetzige Krise. Der Ausbruch der Rezession wurde lange hinausgezögert. Der vergangene Wirtschaftsboom ging auf Kosten der ArbeiterInnenklasse und der Massen besonders in den ehemaligen Kolonien.

Von einer großen historischen Perspektive aus betrachtet ist dies schon lange der Fall. Trotzki schrieb schon 1938: "Objektiv gesprochen sind die Bedingungen für die sozialistische Weltrevolution nicht nur gegeben, sondern überreif!“ Aus historischer Sicht hat die jetzige Lage den Bankrott des kapitalistischen Systems deutlich gemacht. Trotzdem stehen wir hier vor einem Widerspruch. Wenn das alles wahr ist, warum sind dann die MarxistInnen noch immer eine derart kleine Minderheit? Letztendlich ist die Grundlage für die Schwäche der genuinen marxistischen Tendenz in der objektiven Situation zu sehen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte und die sich grundlegend von der Perspektive, die Trotzki 1938 ausgearbeitet hatte, unterschied. Der Ausgang des Zweiten Weltkriegs konnte von niemandem vorhergesagt werden. Nicht nur Trotzki sondern auch Hitler, Stalin, Churchill und Roosevelt lagen mit ihrer Einschätzung daneben.

Die UdSSR ging siegreich aus diesem Krieg hervor, was den Stalinismus enorm stärkte. Der Sturz des Kapitalismus in Osteuropa und später in China (wenn auch in der deformierten und bonapartistischen Form) vertieften diesen Prozess noch weiter. Über Jahrzehnte war daher der Weg zu den kommunistischen ArbeiterInnen weitgehend versperrt. Erst mit dem Zusammenbruch des Stalinismus begann sich die Situation wieder zu ändern, wodurch sich neue Möglichkeiten für den Aufbau der marxistischen Tendenz auftaten.

Die Niederlage der revolutionären Welle noch vor dem Ende des Krieges (in Griechenland, Italien) wurde zur politischen Voraussetzung für die neuerliche Erholung des Kapitalismus. Im Gegensatz zur Situation nach dem Ersten Weltkrieg war der US-Imperialismus gezwungen dem europäischen Kapitalismus mit Hilfe des Marshall-Plans wieder auf die Beine zu helfen. Die Zerstörungen durch den Krieg schufen die Bedingungen für den Nachkriegsboom. Neue Technologien, die während des Krieges entwickelt wurden (Chemikalien, Plastik, Atomenergie usw.), stellten neue Investitionsbereiche dar.

Diese und andere Faktoren lieferten die Basis für einen massiven Wirtschaftsaufschwung, der im Gegenzug die Grundlage für die Festigung reformistischer Illusionen in der ArbeiterInnenklasse in den entwickelten kapitalistischen Ländern bildete. Das führte dazu, dass auch der Weg zu den reformistischen ArbeiterInnen über Jahre blockiert sein sollte. Die Führung der Vierten Internationale konnte diesen Prozess nicht verstehen, weil sie eine mechanische Interpretation von Trotzkis Perspektive hatte und daraus folgend ernsthafte Fehler beging, welche die Internationale im Grunde zerstörten.

Wenn sich ein Heer im Krieg auf dem Rückzug befindet, ist die Rolle der Generäle noch wichtiger als sonst. Mit guten Generälen lässt sich ein geordneter Rückzug organisieren, was er ermöglicht die eigenen Kräfte intakt zu halten. Doch mit schlechten Generälen droht der Rückzug zu einer verheerenden Schlappe zu werden. Die Fehler und Abweichungen der sogenannten Führung der Vierten Internationale zerstörten die von Trotzki geschaffene Organisation völlig.

Die wichtigste Ursache, warum der revolutionäre Marxismus (Bolschewismus oder “Trotzkismus”) so weit zurückgeworfen wurde, liegt in der objektiven Situation in den entwickelten kapitalistischen Ländern in Europa und den USA begründet. Die Lage in den kolonialen und ex-kolonialen Ländern stellte sich ganz anders dar.

Wir müssen den Tatsachen ins Auge blicken: über eine ganze historische Periode hinweg wurden die Kräfte des genuinen Marxismus zurückgeworfen. Es wird Zeit, geduldige Arbeit und vor allem große Ereignisse brauchen, die das Proletariat und seine Organisationen aufrütteln werden, damit sich diese Situation ändert. Die einfache Wiederholung allgemeiner Feststellungen und abstrakter Formulierungen ist vollkommen ungenügend, um die konkrete Realität, die wir gerade durchlaufen, zu erklären.

Die meisten Menschen wollen zurück zu den "guten alten Zeiten". Die Führung der ArbeiterInnenklasse, der Gewerkschaften, der Sozialdemokratie, der ehemaligen KPen, der bolivarischen Bewegung usw. geht von der These aus, dass es sich bei der jetzigen Krise um ein vorübergehendes Phänomen handelt. Sie glauben, dass sie durch einige Veränderungen am System gelöst werden kann. Und wenn wir vom subjektiven Faktor sprechen, von der Führung, müssen wir auch verstehen, dass für uns die Führung dieser Organisationen ein objektiver Faktor ist. Sie ist ein wichtiger Bestandteil der objektiven Situation, die eine Zeit lang den Prozess aufhalten kann.

Zum jetzigen Zeitpunkt suchen die bürgerliche Ökonomie, die herrschende Politik, vor allem aber der Reformismus, verzweifelt nach einem Ausweg aus der Krise. Sie halten Ausschau nach einer Erholung des Konjunkturverlaufes als Rettungsanker für ihr System. Sie reden ununterbrochen von den "grünen Pflänzchen" des Aufschwungs. Die ReformistInnen glauben, dass wir mehr Kontrollmechanismen und Regulierungsmaßnahmen benötigen, um zu den einstigen Zuständen zurückkehren zu können. Das ist falsch. Diese Krise ist keine normale Krise, die nur vorübergehenden Charakter hat. Sie stellt einen grundsätzlichen Wendepunkt im historischen Prozess dar. Das bedeutet jedoch nicht, dass es nicht zu einer Wiederbelebung des Konjunkturverlaufes kommen kann. Tatsächlich weisen die jüngsten Daten darauf hin, dass eine Art Aufschwung eingesetzt hat.

Von entscheidender Bedeutung erscheint uns der dialektische Widerspruch zwischen der objektiven Lage und der Wahrnehmung derselben durch die Massen. Das menschliche Bewusstsein ist von Natur aus konservativ. Die Massen hängen hartnäckig an den bestehenden Formen und Vorstellungen der Gesellschaft, bis sie auf Grundlage massiver Hammerschläge im Zuge großer Ereignisse gezwungen werden, diese aufzugeben. Aber früher oder später holt das Bewusstsein die Realität mit einem Schlag ein. Dies ist der grundlegende Mechanismus einer Revolution.

In den entwickelten kapitalistischen Ländern wurde das Bewusstsein der ArbeiterInnen durch die Erfahrungen der letzten fünfzig Jahre geformt, in denen sie lernten Vollbeschäftigung, steigenden Lebensstandard und Reformen als Normalzustand zu sehen. Es ist deshalb nur zu verständlich, wenn sie glauben, dass es sich bei der gegenwärtigen Krise nur um eine kurzfristige Fehlentwicklung handelt. Aber die letzten fünfzig Jahre stellen eigentlich nicht den Normalzustand sondern eine historische Ausnahme dar. Die ArbeiterInnen brauchen Zeit, um das zu verstehen, aber sie werden schließlich eine harte Lektion in der Schule des Lebens lernen.

Die Ökonomie

In den letzten beiden Jahren haben wir die tiefste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg durchgemacht. Derzeit versucht die Bourgeoisie verzweifelt, das ökonomische Gleichgewicht wiederherzustellen. Sie steht aber dabei vor dem Problem, dass alle bisher dazu ergriffenen Maßnahmen das soziale und politische Gleichgewicht zerstören. Somit bleibt ihr nur die Hoffnung, die Wirtschaftskrise sei schon überwunden.

Der Produktionsrückung im Zuge dieser Krise war so stark wie noch nie zuvor in den letzten hundert Jahren. Die US-Wirtschaft war lange Zeit der Wachstumsmotor für den Boom, doch dieser Motor ist abgewürgt worden. Im Mai 2009 ist die Rate der Kapazitätsauslastung in der US- Industrie auf 68,3% zurückgegangen, d. h. 12,6% unter dem Durchschnitt für die Jahre 1972-2008. Die Staatsverschuldung ist enorm angestiegen und der US-Dollar hat stark an Wert verloren. Die Fundamente der US-Wirtschaft sind durch diese Entwicklung weiter untergraben worden. Und es drohen neue Rückschläge, welche der zarten wirtschaftlichen Erholung ein Ende setzen könnte, bevor sie sich noch konsolidiert hat.

Es ist offensichtlich, dass sich die Konjunktur leicht gebessert hat. Aber die Erholung ist ungleich und schwach sowie voller Widersprüche. Es ist unmöglich vorherzusagen, wie und in welchem Tempo sich der Prozess konkret entfalten wird. Um das zu können, bräuchten wir keine wissenschaftlichen Perspektiven, sondern eine Kristallkugel. Die Wirtschaftswissenschaften sind keine exakte Wissenschaft und werden es auch nie werden. Aber es ist nur möglich die grundlegenden Prozesse und die allgemeine Richtung, in die wir uns bewegen, zu verstehen. Es ist aber klar, dass eine schwache Erholung ohne Beschäftigungszuwachs, die noch dazu schuldenfinanziert ist und durch die nun eingeleitete Kürzungspolitik gefährdet wird, keines der Probleme lösen wird, mit denen der Kapitalismus konfrontiert ist. Im Gegenteil, es wird so eine neuerliche, noch tiefere Wirtschaftskrise vorbereitet, die einher geht mit einer tiefen sozialen und politischen Krise.

Der Präsident der US-Notenbank Ben Bernanke und seine Kollegen sprechen aufgrund von Berichten über die Entwicklung des privaten Konsums und der Bauwirtschaft von "vorsichtigen Anzeichen" eines Endes der Rezession. Nach vier aufeinanderfolgenden Quartalen des Rückgangs wuchs das BIP der USA im dritten Quartal 2009 um 3,5% und um schätzungsweise 5,7% im vierten Quartal. Trotzdem bleibt das Gesamtbild der Ökonomie düster, und es gibt Befürchtungen, dass es am Ende zu einem abermaligen Abrutschen in die Rezession (einer „W-förmigen“ Rezession) kommt. Insgesamt ist die US-Wirtschaftsleistung 2009 um 2,4% zurückgegangen, das ist der größte Rückgang seit 1946. Eine Verlangsamung des Wachstums wird für das erste Quartal 2010 vorhergesagt, da 60% des Wachstums aus dem Vorjahr aus der Wiederauffüllung aufgebrauchter Lagervorräte der Unternehmen resultierte. Dies löste eine positive Kettenreaktion in der gesamten Wirtschaft aus. Wenn die Verbraucherausgaben, wie vorhergesagt, verhalten bleiben, könnte diese Entwicklung aber zu Ende gehen.

Aus einer marxistischen Perspektive sind die Auswirkungen, welche die ökonomische Instabilität auf das Bewusstsein der ArbeiterInnen hat, aber weitaus wichtiger als der konkrete Konjunkturverlauf. In der US-Wirtschaft sind in den letzten 23 Monaten, Monat für Monat, Arbeitsplätze verloren gegangen, dabei handelt es sich um einen stärkeren Niedergang als während der Großen Depression. Im Oktober 2009 betrug die durchschnittliche Wochenarbeitszeit pro Beschäftigtem nur 33 Stunden, so wenig wie noch nie. Das gibt den Unternehmen viel Spielraum, die bestehenden Arbeitsstunden auszudehnen, ganz zu Schweigen davon, die vorhanden industriellen Kapazitäten auszuweiten, ohne neue ArbeiterInnen einstellen oder neue Fabriken bauen zu müssen. Nach Aussagen des Arbeitsministeriums wurden im November 2009 11.000 Arbeitsplätze vernichtet, nachdem in den Vormonaten 100.000 ArbeiterInnen ihren Arbeitsplatz verloren hatten. Hierbei handelt es sich um die niedrigsten Arbeitsplatzverluste seit Beginn der Rezession 2007 und die Arbeitslosenquote fiel von 10,2 % auf 10,0%. Die Tatsache, dass solche Zahlen schon als Erfolg begrüßt werden, spricht schon Bände über den Ernst der Lage.

Die US-Regierung hat riesige Geldmengen investiert, dies spiegelt sich in einer Zunahme der Beschäftigung im Bildungsbereich, im Gesundheitswesen und in weiteren Bereichen des öffentlichen Dienstes wider. Jedoch beginnen die brutalen Haushaltskürzungen der Bundesstaaten und der Gemeinden ihre Wirkung zu zeigen. Sogar der Dienstleistungssektor, der 2/3 der Wirtschaft ausmacht, ist jetzt aufgrund des schwachen Privatkonsums geschrumpft. Die riesigen Subventionen für den Automobilsektor haben zu einer bescheidenen Expansion in der verarbeitenden Industrie geführt. Die Statistiken besagen aber, dass diese Expansion Folge der Wiederauffüllung aufgebrauchter Lagerbestände ist und keine langfristige Wirkung zeigen wird.

Die Arbeitslosenrate in den USA übersprang erstmals seit 1983 die 10%-Marke und wird auch längerfristig in diesem Bereich bleiben. In einigen Bundesstaaten des so genannten Rostgürtels, wie Ohio und Michigan, ist die Arbeitslosigkeit noch weit höher. Bei Männern ist die Lage derzeit besonders schlimm, einer von fünf erwerbsfähigen Männern ist arbeitslos. Die Lage der EinwandererInnen und der Schwarzen ist noch schlechter. 34,5% der AfroamerikanerInnen haben keine Arbeit. Auch die Jugendlichen sind stark betroffen. So lag z.B. die Jugendarbeitslosigkeit im Bundesstaat Maryland im August 2009 bei ungefähr 50%, noch schlimmer war die Lage in Washington D.C., wo 55% der unter Zwanzigjährigen arbeitslos waren. Diese katastrophale Situation hat wichtige Auswirkungen auf die Zukunft.

Das Jahr 2009 endete mit dem Verlust von insgesamt 4,2 Millionen Arbeitsplätzen und einer durchschnittlichen Arbeitslosenquote von 9,3%, verglichen mit einer Durchschnittsquote von 4,6% im Jahre 2007. Seit Beginn der Rezession im Dezember 2007 sind 7,2 Millionen Arbeitsplätze weggefallen, dreimal mehr als während der Rezession von 1980-82. Die offizielle Arbeitslosenquote blieb auch im Januar 2010 bei 10%, nachdem im Dezember 85.000 weitere Arbeitsplätze verloren gegangen waren, das sind weit mehr als die 8000, die viele Experten erwartet hatten. Wenn man die "Unterbeschäftigungsrate", die ArbeiterInnen, die nur einer Teilzeitarbeit nachgehen, aber gerne Vollzeit arbeiten würden und diejenigen, die es aufgegeben haben, nach einem Arbeitsplatz zu suchen, mit einbezieht, beläuft sich die Quote auf 17,3%.

Ende 2009 stieg die Zahl derjenigen, die sechs Monate oder länger arbeitslos waren, auf 5,6 Millionen oder 35,6%, das ist ein neuer Rekord. Auf sechs ArbeiterInnen kommt eine freie Stelle. Da die US-Wirtschaft jedes Monat zusätzlich 126.000 Arbeitsplätze benötigt, um mit dem Bevölkerungswachstum Schritt zu halten, kann der an den Tag gelegte Optimismus der Bourgeoisie nur als Triumph der Hoffnung über den Realitätssinn gewertet werden.

Die US-Bundesbank glaubt, dass die Arbeitslosigkeit bis ins Jahr 2011 so hoch bleiben wird und die meisten Ökonomen denken nicht, dass sie gar erst 2013 wieder auf das "normale" Niveau von 5% zurückkehren wird. Über 5,2% aller Arbeitsplätze sind seit Beginn der Rezession abgebaut worden. Heidi Schierholz, eine Wirtschaftswissenschaftlerin am Economic Policy Institute in Washington, führte aus, dass es in den USA eine "Arbeitsplatzlücke" von fast 10 Millionen gäbe. Um diese Lücke zu schließen und innerhalb von zwei Jahren auf das Niveau von vor der Rezession zu kommen, wären monatlich 500.000 neue Arbeitsplätze nötig, ein Tempo bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze, das es seit 1950-51 nicht mehr gegeben habe.

Uns interessieren an dieser Stelle in erster Linie die Auswirkungen dieser Lage auf das Bewusstsein der ArbeiterInnen. Um was für eine Erholung handelt es sich, wenn 16 Millionen Menschen keine Arbeit finden? Wie kann sich die Wirtschaft erholen, wenn es Millionen Arbeitsplätze weniger gibt als noch vor zwei Jahren? Die Antwort ist einfach: Die KapitalistInnen lassen weniger ArbeiterInnen für weniger Lohn mehr arbeiten. Nach Angaben des Arbeitsministeriums ist die Produktivität (das Maß für das Verhältnis von Gütererzeugung zum Einsatz von Arbeit pro Arbeitsstunde) im 2. Quartal 2009 um 6,9% und im 3. Quartal um 9,5% gestiegen. Die Löhne sind 2009 gerade einmal um 1,5% erhöht worden, das ist der niedrigste Wert seit 1982. Weniger Kaufkraft bedeutet, dass weniger Waren gekauft werden können. In einer Wirtschaft, die zu 70% von den Konsumausgaben abhängt, heißt das, dass ein allmählicher Rückgang schließlich nicht zu vermeiden ist.

Die Staatsverschuldung ist im Zuge der Krise außer Kontrolle geraten. Über kurz oder lang wird das zu höheren Zinsen und zu steigender Inflation führen. Dies sind tödliche Gefahren für einen nachhaltigen Aufschwung. Selbst wenn die Rezession zu Ende geht, bleiben die Ökonomien der USA und anderer wichtiger kapitalistischer Staaten schwach und die Arbeitslosigkeit wird sich auf einem hohen Niveau festsetzen. Diese Krise wird vom Kapital benutzt werden, um den ArbeiterInnen in den entwickelten kapitalistischen Ländern einen neuen, niedrigeren Lebensstandard aufzuzwingen. Dieses Rezept wird in den vor uns liegenden Jahren zu einer Explosion von Klassenkämpfen führen.

Der Kapitalismus durchläuft seit beinahe 200 Jahren einen periodischen Zyklus von ökonomischen Auf- und Abschwüngen. Die jetzige Situation ist aber keine "normale" Erscheinung des Konjunkturzyklus, sondern markiert den Übergang zwischen verschiedenen Perioden der kapitalistischen Entwicklung. Wir sind in einer Periode angekommen, in der sich die Kurve der kapitalistischen Entwicklung in ihrer Gesamtheit nach unten bewegt. Das heißt allerdings nicht, dass es überhaupt keine Weiterentwicklung der Produktivkräfte mehr geben kann.

Lenin erklärte, dass es für den Kapitalismus keine ausweglose Situation gebe. Es gibt keine Endkrise des Systems. Die Bourgeoisie wird immer einen Weg finden, selbst aus der tiefsten Krise herauszukommen, solange nicht das System durch die bewusste Aktion der ArbeiterInnenklasse gestürzt wird. Dies gilt zweifellos auch für die jetzige Krise. Es stellt sich aber die Frage: Wie und auf wessen Kosten schaffen die Bürgerlichen es? Selbst in Zeiten des Niedergangs kann es eine vorübergehende Konjunkturerholung geben, genauso wie ein sterbender Mensch sich kurzzeitig erholen und den Eindruck vermitteln kann, dass er wieder vollkommen gesund wird. Solchen Erholungsphasen folgen schwerwiegendere Rückfälle, bis die menschliche Zivilisation, wie wir sie kennen, in der Barbarei versinkt, falls das Proletariat es nicht schafft einen revolutionären Ausweg aufzuzeigen.

In dieser Situation müssen wir versuchen auf der Grundlage einer theoretischen Auseinandersetzung die wahrscheinlichste Entwicklungslinie herauszuarbeiten. Es ist notwendig, dass wir die fundamentalen Prozesse der objektiven Situation umfassend verstehen, und uns nicht nur mit der Analyse zweitrangiger Angelegenheiten und zufälliger Tendenzen begnügen. Wir haben es hierbei mit einem komplexen dialektischen Prozess zu tun, den wir sorgfältig in all seinen Stadien untersuchen müssen. Wie Trotzki in Die Kurve der kapitalistischen Entwicklung (1923) schrieb: "Vielmehr muss ein Übergang von einer Epoche dieser Art in eine andere selbstverständlich die größten Erschütterungen im Verhältnis zwischen Klassen und Staaten erzeugen." In einem solchen Übergang befinden wir uns.

Ted Grant hat einmal die Prognose aufgestellt, dass die Bourgeoisie im Verlaufe einer tiefen Rezession die kolossalen Ressourcen einsetzen wird, die sie in den letzten fünfzig Jahren angehäuft hat, um den totalen Zusammenbruch zu vermeiden. Genau diese Strategie wurde in den letzten beiden Jahren verfolgt. Die gegenwärtige Krise, welche die Bourgeoisie vollkommen überrascht hat, hat bei den Regierungen weltweit eine Panikwelle ausgelöst. Um die Krise abzufedern, haben diese zu noch nie dagewesenen Maßnahmen gegriffen. Die Bourgeoisie fürchtet die sozialen und politischen Auswirkungen einer tiefen Rezession und sah sich gezwungen, einen großen Teil ihrer Reserven aufzubrauchen, um eine solche zu verhindern. Sie war dazu in der Lage, weil sie über Jahrzehnte des Wirtschaftswachstums eine beachtliche Fettschicht angesammelt hat. Aber diese Politik stößt jetzt an ihre Grenzen.

Jahrzehntelang hat die bürgerliche Ökonomie behauptet, der Staat dürfe nicht in die Märkte eingreifen, da diese sich selbst regulieren. Doch mit Einbruch der Krise konnte das System nur mit Staatseingriffen über Wasser gehalten werden. Massive Steueranreize und Konjunkturspritzen in den USA und China, und zu einem geringeren Ausmaß in der Eurozone und in Japan, konnten bisher einen völligen Zusammenbruch wie 1929 verhindern. Aber solche Maßnahmen können keine nachhaltige wirtschaftliche Erholung erzeugen; die getroffenen Maßnahmen werden neue Widersprüche schaffen, die noch schwieriger zu überwinden sind.

Eine "Kreditkrise”?

Die bürgerliche Ökonomie kann die Rezession nicht erklären. Sie behauptet, diese sei durch eine Kreditverknappung und den daraus resultierenden Nachfragerückgang verursacht worden. Marx hat aufgezeigt, dass eine Krise nicht durch Geldmangel ("Liquidität") hervorgerufen wird, sondern die Krise selbst diesen Geldmangel herbeiführt. Marx zufolge kann der Kredit dem Kapital vorübergehend helfen, über die Grenzen des Systems zu gehen. Aber eine Kreditzunahme ist nicht gleichbedeutend mit einer nachhaltigen Produktionssteigerung. Sie kann die Nachfrage und den Konsum zeitweise steigern, aber nur auf Kosten einer Verschärfung der Krise, sobald diese schließlich eintritt. Wir sehen genau dieses Phänomen in der jetzigen Krise, in welcher die Überproduktionskrise durch den starken Nachfragerückgang in den USA als Folge der deutlichen Kreditkürzungen enorm verschärft wurde.

Die Bourgeoisie ist in der Vergangenheit zu einer beispiellosen Ausweitung des Kreditwesens übergegangen und hat dabei große Defizite aufgebaut. Jetzt geht sie noch weiter und erhöht das Geldangebot. Diese Maßnahme wird sich in der Praxis noch als sehr verhängnisvoll erweisen. Die Grundthese, die dieser Politik zugrunde liegt, lautet, dass die wirtschaftlichen Probleme auf Zahlungsunfähigkeit und Kreditmangel beruhen. Wenn das wahr wäre, dann wäre es möglich durch die Vergabe billiger Kredite und den Druck und die Ausgabe von mehr Geld aus der Krise zu kommen. Das ist aber nicht der Fall.

Die Argumente der bürgerlichen Ökonomie enthalten meist einen Funken Wahrheit, aber sie sind immer nur einseitig, undialektisch und daher nicht in der Lage wirtschaftliche Prozesse umfassend zu sehen. Milton Friedman hatte Recht, als er behauptete, die vom Keynesianismus propagierte schuldenbasierte Finanzierung würde zu einer explosionsartigen Inflation führen. Aber der Keynesianismus hat ebenfalls Recht mit der Behauptung, dass die Kürzung der Staatsausgaben und die Senkung der Löhne einen Nachfragerückgang bewirken und die Rezession vertiefen. Beide Ansätze bieten letztlich keine Lösung: Es ist unmöglich, die Krise mit der Erhöhung der Staatsausgaben durch Kreditaufnahme und der damit verbundenen Anhäufung riesiger Schuldenberge, die in der Zukunft verzinst zurückgezahlt werden müssen, zu lösen. Auch ist es nicht möglich, Geld aus der Luft zu zaubern, ohne schließlich die Inflation nach oben zu treiben. Das wurde in den 1970er Jahren versucht und führte zu einer explosionsartigen Inflationsentwicklung und einer raschen Zunahme des Klassenkampfes in einem Land nach dem anderen. Mit anderen Worten: die Bourgeoise hat nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera.

An dieser Krise ist nichts grundlegend Neues, abgesehen von ihrem außergewöhnlichen Ausmaß und ihrer Tiefe. Dies ist wiederum nur eine Widerspiegelung der Widersprüche, die sich während des letzten Booms angehäuft haben. Bei jedem Konjunkturaufschwung florieren Spekulation und Betrug. Wenn aber die Blase platzt, kommt der Betrug ans Tageslicht und das Vertrauen bricht zusammen. Die KapitalistInnen, die so eifrig am fröhlichen Jahrmarkt des Geldverdienens beteiligt waren, kleiden sich kurzfristig in Lumpen, streuen Asche auf ihr Haupt, schlagen sich an die Brust und geben vor, dass sie ihre Lektion gelernt haben und nie wieder sündigen werden - allerdings nur bis zum nächsten Goldrausch. Gerade mal ein Jahr nach dem Höhepunkt der Krise überschütten sich die Topmanager der Unternehmen, welche am meisten von den staatlichen Rettungsaktionen profitiert haben, mit extravaganten Boni und Vergütungen und provozieren dadurch einen öffentlichen Proteststurm.

Die Bourgeoisie sah sich gezwungen, mit riesigen staatlichen Rettungspaketen die Ausweitung der Finanzkrise zu einer tiefen Rezession zu verhindern. In Folge dieser Maßnahmen haben die Defizite im Staatshaushalt monströse Dimensionen angenommen und private Unternehmen und Banken wurden künstlich am Leben gehalten, um einen größeren Zusammenbruch abzuwenden. All dies geschieht mit der politischen Absicht, den fiktiven wirtschaftlichen und industriellen Wohlstand der Boomjahre wiederzubeleben. Dies aber berücksichtigt nicht das winzige Detail, dass in dieser Art von Boom die Ursache für den finanziellen Zusammenbruch zu sehen ist.

Der Boom wurde von einer Spekulationsorgie begleitet, die in ihrem Umfang und ihrer Größe beispiellos war. Riesige Mengen fiktiven Kapitals wurden bei der so genannten Immobilienblase in das System geschossen. Der Immobilienmarkt war aber nur ein Beispiel für die Spekulation in nicht vorhandene Werte (fiktives Kapital). Die Börsenkurse stiegen weltweit auf Rekordhöhen. Der Derivatenmarkt erreichte kurz vor dem Zusammenbruch den unvorstellbaren Wert von 700 Billionen Dollar.

Die OTC-Derivate, die nicht an einer Börse, sondern direkt "über den Schalter" gehandelt werden und nicht standardisiert sind, hatten im Juni 2009 wieder einen Wert von über 600 Billionen US-Dollar erreicht.

(In Mrd. US Dollar)
Juni 2007: 516.407
Dez. 2007: 595.738
Juni 2008: 683.814
Dez. 2008: 547.371
Juni 2009: 604.622

Diese Zahlen stammen von der Bank for International Settlements Quarterly Review (Dezember 2009). Es ist schon unglaublich, dass sich die Derivatenmärkte so schnell wieder erholt haben.

Das zeigt die andere Seite der "Erholung", die fast vollständig staatlich finanziert ist, d. h. auf einer neuerlichen Ausweitung des Kreditwesens basiert. Es handelt sich hierbei um den verzweifelten Versuch der Bourgeoisie einen Ausweg aus der Krise zu finden, indem die "Blase" wieder in Gang gebracht wird. Vom Standpunkt der orthodoxen Wirtschaftswissenschaft aus ist diese Maßnahme völlig verantwortungslos. Sie bereitet den Weg für eine hohe Inflation und steigende Zinsen. In der Zukunft wird sie einen noch stärkeren Zusammenbruch der Wirtschaft mit sich bringen. Dies lässt bei Teilen der Bourgeoisie, die den Kopf noch nicht vollkommen verloren haben, die Alarmglocken schrillen. Früher oder später wird das System vor einer schmerzhaften Periode der "Anpassung" stehen, wenn das fiktive Kapital herausgepresst wird.

Während eines Booms ist jeder bereit Geld zu leihen und zu verleihen, als ob es kein Morgen gebe. Es ist leicht an Kredite zu kommen. Aber sobald der Boom zu Ende geht, versiegen die Kredite, jeder wird sparsam und will Bargeld aber keine Geldversprechen. Anstelle der rücksichtslosen Unbekümmertheit und der unverantwortlichen Verschwendung herrscht eine geizige Grundstimmung vor. Anstatt Geld zu verleihen, verlangen die Banken das schnelle Zurückzahlen der Schulden. Dieser Kurswechsel treibt kleine, aber auch größere Unternehmen in den Konkurs und trägt zur Abwärtsspirale bei. Auf diese Weise beschleunigen all die Faktoren, welche zuerst den Aufschwung befördert haben, nun den Abschwung. Dialektisch betrachtet, kehrt sich alles in sein Gegenteil um. Was Jahre des Aufbaus brauchte, kann innerhalb weniger Tage zerstört werden.

Um die Auswirkungen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs abzufedern, hat die US-Zentralbank den Zinssatz auf fast null Prozent gesenkt und Geld in die Banken gepumpt, um die Kreditvergabe wieder zu beleben. Die US-Regierung hat gewaltige Konjunkturprogramme verabschiedet. Bisher waren die Auswirkungen auf die Beschäftigungsentwicklung jedoch unerheblich. Es wurden nur 650.000 Arbeitsplätze geschaffen oder gerettet, weniger als im gesamten Monat Januar 2009 verloren gingen.

Nach Großbritannien und den USA hat auch die EU solche Rettungspakete beschlossen. Sogar die Schweiz hat riesige Kapitalmengen in ihre Banken gesteckt und Notfallmaßnahmen ergriffen, um eine Vertrauenskrise in das Finanzsystem des Landes zu verhindern. Es scheint, als ob die Bourgeoisie es geschafft habe, für eine gewisse Zeit eine tiefe Rezession aufzuschieben, die Kosten dafür sind aber noch nicht absehbar.

Die Zentralbanken haben jede Menge Geld in die Geldmärkte gepumpt, damit die Banken einander wieder Geld leihen. Das Banksystem ist momentan fast vollständig von öffentlichen Finanzspritzen abhängig, doch trotz all dieser Maßnahmen sind die Banken bisher nicht bereit, Kredite an jedermann zu vergeben, sondern nur an die Unternehmen und Hauskäufer, welche die entsprechenden Sicherheiten bieten können. Den Banken ist nämlich bewusst, dass die Krise noch nicht vorbei ist, und sie sind nicht davon überzeugt, dass sie ihr Geld wieder zurückbekommen. Während die Nominalzinsen sich Richtung null Prozent bewegen, haben die Unternehmen und Haushalte langsam reagiert, weil die Preise teilweise gefallen sind und deswegen die realen Zinsen höher lagen.

Die US-Regierung hat bereits die atemberaubende Summe von 11 Billionen Dollar an Subventionen in Form von Garantien, Investitionen, Neufinanzierungen und Liquiditätsrückstellungen zur Verfügung gestellt. Aber alle Bemühungen der Regierung, den Abwärtstrend aufzuhalten, haben bisher nur eine geringe Wirkung gezeigt. Das liegt daran, dass die fundamentale Ursache für die Krise nicht im Kreditmangel zu suchen ist, sondern in der Überproduktion. Alle Regierungsprogramme zur Stimulierung der Nachfrage werden nicht ausreichen, um Angebot und Nachfrage ins Gleichgewicht zu bringen, darin aber liegt das Hauptproblem der ungeplanten anarchischen kapitalistischen Produktionsweise.

Überproduktion

Marx und Engels erklärten schon im “Kommunistischen Manifest” (1848):
“Die bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor. Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie und des Handels nur die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Bourgeoisie und ihrer Herrschaft sind.
Es genügt, die Handelskrisen zu nennen, welche in ihrer periodischen Wiederkehr immer drohender die Existenz der ganzen bürgerlichen Gesellschaft in Frage stellen. In den Handelskrisen wird ein großer Teil nicht nur der erzeugten Produkte, sondern der bereits geschaffenen Produktivkräfte regelmäßig vernichtet. In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Epidemie der Überproduktion. Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt; eine Hungersnot, ein allgemeiner Vernichtungskrieg scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben; die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt. Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehen, dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse.; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden, sie werden von ihnen gehemmt; und sobald sie dies Hemmnis überwinden, bringen sie die ganze bürgerliche Gesellschaft in Unordnung, gefährden sie die Existenz des bürgerlichen Eigentums. Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen.

Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, daß sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.“

"Die grundlegende Ursache für die Krise in der kapitalistischen Gesellschaft, ein Phänomen, das nur in der kapitalistischen Gesellschaft existiert, liegt in der unvermeidlichen Überproduktion sowohl von Konsum- als auch von Industriegütern, dem eigentlichen Zweck der kapitalistischen Produktion. Es kann alle möglichen zweitrangigen Gründe für eine Krise geben, wie z. B. eine partielle Überproduktion in verschiedenen Industriezweigen, Finanzmanipulationen an den Börsen, inflationäre Betrügereien, Disproportionen in der Produktion und eine ganze Reihe anderer, der Hauptgrund für die Krise aber liegt in der Überproduktion. Diese wiederum wird von der Marktwirtschaft verursacht und der Teilung der Gesellschaft in Klassen, die gegenseitig im Widerspruch zueinander stehen."

Das schrieb Ted Grant vor Jahrzehnten in seiner Schrift "Will There be a Slump?" (Wird es zu einer Rezession kommen?) Der eigentliche Grund für die Krise ist die Überproduktion: Es gibt weltweit einen Kapazitätsüberfluss an Häusern, Autos und langlebigen Gebrauchsgütern. Es wird Jahre dauern, bis sich dieses Überangebot aufgelöst hat. Gemeinsam mit dem Mangel an Krediten verhindert dies eine Produktionsausweitung in der Industrie. Wenn die Politik sich beschwert, dass die Banker, nach all dem Geld was sie erhalten haben, noch immer keine Kredite gewähren, antworten diese, dass es keine ausreichende Nachfrage nach Krediten gibt. Natürlich! Ein fiktiver Konjunkturaufschwung, der auf Staatsausgaben basiert, wird schnell an die Nachfragegrenzen stoßen. Jetzt, wo die ArbeiterInnen nicht länger Kredite für den Kauf eines Hauses aufnehmen können, existiert noch weniger Spielraum für eine künstliche Ausweitung der Nachfrage.

Der Wachstumsmotor für jede echte Erholung sind das produzierende Gewerbe und die Bauwirtschaft. Dieser kann aber wegen der Überproduktion in diesen Industriezweigen auch nicht in Gang gesetzt werden (die moderne Ökonomie spricht in diesem Fall von "Überangebot" oder "Überkapazität"). Überall stehen Bürogebäude leer und die Bauindustrie ist faktisch zum Erliegen gekommen. Mit der sinkenden Nachfrage im Weltmaßstab ist das Kapital gezwungen, zu Massenentlassungen, Kurzarbeit und Fabrikschließungen zu greifen. Dies ist ein anschaulicher Beweis für die Unfähigkeit des Kapitalismus, das enorme produktive Potenzial, das er geschaffen hat, zur Entfaltung zu bringen. Es gibt z. B. weltweit eine Überproduktion an Stahl. Es gibt "zu viel Stahl" (auf der Grundlage des kapitalistischen Systems). Dies liegt vor allem im starken Rückgang bei der Herstellung von Autos begründet.

Businessweek stellte die interessante Frage, wie es überhaupt es zu Überproduktion kommt.

"Für Wirtschaftswissenschaftler ist Überkapazität ein kniffeliger Begriff. Die menschlichen Wünsche kennen keine Grenzen, wie kommt es dann, dass in der Welt zu viel produziert wird? Der Hauptgrund dafür liegt in der Kaufkraft der Menschen begründet. In vielen Konsumgüterbranchen sind die Preise noch niedrig genug, um ausreichend zu verdienen. Es wird eine Kombination aus sinkenden Preisen und der Zerstörung des Produktionspotentials nötig sein, um Angebot und Nachfrage ins Gleichgewicht zu bringen. [...] Es bleibt die Frage, wie dieses Gleichgewicht erreicht wird." (http://www.businessweek.com/magazine/content/09_07/b4119000357826.htm)

Diese Frage trifft den Kern der Sache. Kapitalismus bedeutet ungeplante Produktion zum Zwecke der Erwirtschaftung von Profiten, nicht vernünftig geplante Produktion zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse. Die gesamte Geschichte des Kapitalismus ist eine Geschichte von Krisen. Durch den Widerspruch zwischen der enormen Produktionskapazität und der notwendigerweise begrenzten Kaufkraft der Massen ("Nachfrage") kommt es immer wieder zu Überproduktionskrisen.

In der aktuellen Epoche manifestiert sich die Überproduktion als Überkapazität. In der Krise geht die Kapazitätsauslastung in allen entwickelten kapitalistischen Ländern stark zurück.

Die von der US-Zentralbank veröffentlichten Daten zur industriellen Produktion und zur Kapazitätsauslastung in den USA ergeben folgendes Bild:

2009 April (Tiefpunkt): 68,28%
2009 Dezember: 72%
1982 Dezember: 70,8%

Die Zahlen für Japan lauten:

Index, 2000=100
Feb-08: 110
Feb-09: 62,61
Aug-09: 81,75
d.h. die Kapazitätsauslastung ist zwischen Februar 2008 und Februar 2009 beinahe um die Hälfte zurückgegangen. (Regional Economic Outlook: Asia and Pacific, IMF, October 2009)

Die Kapazitätsauslastungsquote in der Eurozone lag im Juli 2009 bei 69,5%, und damit deutlich unter dem Langzeitdurchschnitt von 81,6%. Besonders hart wurde die Produktion von Investitionsgütern getroffen. In der Autoindustrie fiel die Kapazitätsauslastung sogar auf unter 60%.

Diese Zahlen stammen von der Europäischen Zentralbank (EZB)
(http://www.dowjones.de/site/2009/09/ezb-niedrige-kapazit%C3%A4tsauslastung-beeinflusst-inflation-kaum.html)

Dies alles sind Nachkriegstiefstände.

Die Automobilindustrie liefert ein anschauliches Beispiel. Im Jahre 2008 fiel die Kapazitätsauslastung weltweit auf 70,9% - eine Quote, die um 10% unter dem Durchschnitt der Jahre 1979-2008 liegt. Das Magazin Autos (31.12.08) enthielt einen Artikel mit der Überschrift "Das Überkapazitätsproblem der Autohersteller" und dem Untertitel "Die Autobauer kürzen den Produktionsüberhang ohne die Fähigkeit zu verlieren, die Produktionszahlen zu erhöhen, wenn die Leute wieder anfangen Autos zu kaufen." Dies bringt das Dilemma der KapitalistInnen deutlich zum Ausdruck. Die Automobilindustrie hat weltweit die Kapazität, um 94 Millionen Fahrzeuge jährlich herstellen zu können. Angesichts der gegenwärtigen Verkaufszahlen sind das 34 Millionen zu viel hergestellte Autos, das entspricht den Produktionszahlen von 100 Fabriken.

Die weltweite Überkapazität in der Autobranche von 30% bedeutet, dass die großen Autoproduzenten ein Drittel ihrer Fabriken schließen könnten und trotzdem noch Schwierigkeiten hätten, ihre gesamten Produkte zu verkaufen.

Aus diesem Grund hat General Motors einen Restrukturierungsplan ausgearbeitet, der den Abbau von 21.000 Arbeitsplätzen allein in seinen US-Werken vorsieht. Timken Co., der Hersteller von Kegelrollenlagern und Spezialstählen, hat angekündigt, dass er 4000 weitere Arbeitsplätze abbauen wird. Auf diese Weise droht Hunderttausenden von den Überkapazitäten betroffene ArbeiterInnen der Verlust ihres Arbeitsplatzes. Es handelt sich dabei um gut bezahlte Jobs, in gewerkschaftlich organisierten Wirtschaftszweigen, während die wenigen neuen Jobs oft in gewerkschaftsfreien Bereichen geschaffen werden und schlechter bezahlt sind.

Die Tatsache, dass es sich bei dieser Krise um eine Überproduktionskrise handelt, wird mittlerweile selbst von jenen Bürgerlichen anerkannt, die jahrelang die Möglichkeit einer solchen verneinten. Ein Artikel in der rechtskonservativen Tageszeitung The Telegraph (15. August 2009) verdeutlicht dies:

"Zu viele Stahlwerke sind gebaut worden, zu viele Werke produzieren Autos, Computerchips, Solarzellen, zu viele Schiffe, zu viele Häuser. Sie haben die Kaufkraft, der Menschen, welche die Produkte kaufen, hinter sich gelassen. So etwas Ähnliches geschah in den 1920er Jahren, als die Elektrifizierung und Fords Fließbandproduktion den Ausstoß schneller steigen ließen als die Löhne. Das war auch der Hauptgrund, warum die Rezession sich als so hartnäckig erwies, obwohl die Schulden niedriger waren als heute."

Toyota, Honda und Nissan haben ihre Gewinnspanne zurückgeschraubt. Sie drosseln die Produktion, reduzieren die Zahl der LeiharbeiterInnen und verschieben Pläne für die Eröffnung neuer Werke. Gleichzeitig streben sie an, ihren Marktanteil wiederherzustellen, sobald die Nachfrage in den USA sich erholt. Das Problem aber ist, dass sie sich einem harten Wettbewerb seitens der US-Autoindustrie stellen müssen. In Nordamerika hat die Autoindustrie die Kapazität, sieben Millionen mehr Autos zu produzieren als der Markt aufnehmen kann. Deswegen schauen die Bürgerlichen so düster in die Zukunft. Ihnen ist bewusst, dass keine ernsthafte und nachhaltige Erholung möglich ist, solange diese Überproduktion nicht beseitigt ist.

Die weltweite Überkapazität führt zu sinkenden Preisen für die KonsumentInnen, aber auch zu einem zunehmenden Wettbewerb und sinkenden Profiten für die KapitalistInnen. Wir sprechen hier nicht vom Fall der Profitrate, sondern von einem Rückgang der Profitmasse, welcher zu Produktionsrückgängen, steigender Arbeitslosigkeit, Konkursen und Fabrikschließungen führt. Auf einem schrumpfenden Weltmarkt müssen die heimischen Produzenten mit Importen konkurrieren. Autohersteller und Stahlproduzenten sehen sich mit einem "Teufelskreis" konfrontiert - einer Abwärtsspirale aus rückläufigen Produktionsmengen, Preisen und Profiten. Ein Produktionsrückgang in der Autoindustrie hat eine Verringerung der Stahl-, Elektrizitäts- und Öl- sowie der Nachfrage nach weiteren Komponenten für die Autoproduktion zur Folge.

Laut Michelle Hill von der Beraterfirma Oliver Wyman müssen die US-Autohersteller in den nächsten Jahren wenigstens ein Dutzend ihrer 53 nordamerikanischen Werke schließen, um ihre Rentabilität wiederherzustellen. Die einzige Möglichkeit zur Beseitigung der Überkapazität ist nur durch die systematische Zerstörung von Produktivkräften möglich: Fabriken werden geschlossen, als handle es sich um Streichholzschachteln, ArbeiterInnen verlieren ihre Arbeitsplätze und die Maschinen werden dem Rost überlassen, bis vielleicht neue Märkte und Investitionsbereiche auftauchen.

Die bürgerliche Ökonomie nennt das "kreative Zerstörung". Dieses Vorgehen erinnert an Prokrustes, eine Figur aus der griechischen Mythologie, der seinen Gästen die Gliedmaßen abtrennte, damit sie in sein Bett passten. Einen der zentralen Widersprüche des Kapitalismus stellt die Existenz des Nationalstaats bei gleichzeitiger Tendenz zur Herausbildung eines kapitalistischen Weltmarktes dar.

Ausweitung des Welthandels

Der wichtigste Faktor, aufgrund dessen der Kapitalismus eine tiefe Rezession über einen langen Zeitraum hinweg hat vermeiden können, war der immense Aufschwung des Welthandels („Globalisierung“). Die Zeit zwischen den Weltkriegen war durch Protektionismus und wechselseitige Währungsabwertungen gekennzeichnet, was einer Ausweitung des Welthandels entgegenwirkte und die tiefe, zehnjährige Rezession verschärfte. Aus Gründen, die wir an anderer Stelle (Vgl. Ted Grant 1963: Will there be a slump?) dargelegt haben, war der Zeitabschnitt, der nach 1945 folgte, ganz und gar anderer Natur. Zu dieser Zeit verfügten die USA über zwei Drittel des auf der Welt zugänglichen Goldes und ihre Industrien waren intakt, wohingegen Europa und Japan nach dem verloren gegangenen Krieg alle Kraftanstrengungen erst in den Wiederaufbau investieren mussten.

Der Dollar zählte „genauso viel wie Gold“ und avancierte zur Weltwährung (das britische Pfund Sterling wurde an die zweite Stelle verdrängt). Der Marshall-Plan und der Nachkriegsboom in Europa führten zu einem neuen wirtschaftlichen Aufschwung, der mehr als zwei Jahrzehnte andauern sollte. Die unvergleichliche Ausdehnung des Welthandels befähigte die Bürgerlichen in einem gewissen Ausmaß dazu, einen der grundsätzlichsten Widersprüche in ihrem System zu lösen: Die dem Kapitalismus durch den Nationalstaat gesetzte Grenzen wurden überschritten. Deshalb entwickelten sich Wissenschaft und Technologie schneller als je zuvor in der Geschichte. Der Kapitalismus zeigte wahrscheinlich zum letzten Mal, was dieses System der Ausbeutung zu leisten fähig war. Auf der Grundlage großer Investitionen erzielten die Bürgerlichen Resultate, die kaum für möglich gehalten wurden.

Dieser Prozess hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten vertieft und beschleunigt. Der Zusammenbruch der UdSSR und der stalinistischen Staaten in Osteuropa, sowie der Eintritt Chinas in den Weltmarkt und der Aufstieg Indiens zu einer regionalen Wirtschaftsmacht brachten die Einbeziehung von rund zwei Milliarden mehr Menschen in die Weltwirtschaft. Diese Tatsache allein stellte einen enormen Stimulus für den Welthandel und für die weitere Intensivierung der weltweiten Arbeitsteilung dar. Heutzutage ist jedes Land in den Weltmarkt integriert und von diesem abhängig. Genau darin liegt die Bedeutung des Begriffs „Globalisierung“.

Dieser Prozess stößt nun an seine Grenzen. Das erste Mal seit 1982 ist der Welthandel stark zurückgegangen (2009 um 14.4%). Das war ein sehr ernsthafter Einbruch, auch wenn für 2010 ein erneutes Wachstum erwartet wird. Dieser Einbruch offenbart die andere Seite der Globalisierung. Einbeziehung in den Weltmarkt bedeutet, dass auch alle sogenannten Schwellenländer nun Gegenstand der Bewegungen des Weltmarktes sind. Alle Schwellenländer waren von der Rezession und der fallenden Nachfrage in den USA betroffen. In den USA ging der private Verbrauch zurück und Protektionismus nimmt zu. Die Globalisierung manifestiert sich somit erstmals als eine globale Krise des Kapitalismus. Diese Tatsache wird auch von den ernsthafteren StrategInnen des Kapitals gesehen.

„Das Ausmaß und die Schnelligkeit der gleichzeitig erfolgenden globalen Wirtschaftskrise ist tatsächlich ohne Beispiel (seit der Großen Depression): Freier Fall des BIP, der Einkommen, des Konsums, der Industrieproduktion, der Beschäftigung, von Exporten und Importen, von Investitionen in den Hausbau und, was noch bedenklicher ist, Kapitalentwertung überall auf der Welt. Nun befinden sich viele neue Märkte am Rand einer voll ausgewachsenen Finanzkrise, beginnend mit den aufstrebenden Märkten Europas.“ (Financial Times, 3/05/09)

Diese Entwicklungen bringen einen fundamentalen Widerspruch zum Ausdruck. Während eines tiefen Abschwungs bewegen sich Preise, Profite und Löhne in einem Teufelskreis nach unten. In den letzten drei Monaten des Jahres 2008 fielen die Konsumentenpreise in den USA um nahezu 13%. Auf allen Gütermärkten fielen die Preise: Von Kleidung über Fernsehgeräte bis zu Möbeln, weil die Einzelhändler Verkaufsaktion auf Verkaufsaktion folgen ließen. Angesichts des Einbruchs der Gesamtnachfrage (Konsum, Investitionen in Häuserbau, Kapitalentwertung im Unternehmensbereich, Erneuerungs-Investitionen und Exporte) ist der durch Staatsausgaben erzeugte Stimulus vollkommen ungenügend, um die Wirtschaft in nachhaltiger Weise zu beleben. Selbst inklusive der 11 Billionen Dollar, die in den staatlichen Rettungsplan und an Garantien flossen, ist das US-Bankensystem im Grunde insolvent.

Das Kapital wird dazu gezwungen, seine Güter auf gesättigten Märkten durch schonungslosen Preiskampf abzusetzen, auch wenn sie dabei einen Verlust erwirtschaften. Sie sind dabei das Gleiche auf den Weltmärkten zu tun. Protektionismus ist nichts anderes als ein Versuch Arbeitslosigkeit zu exportieren. In einer Boomphase sind die Kapitalisten dazu in der Lage ein freundliches Übereinkommen bei der Aufteilung der Beute zu treffen. Während eines starken Abschwungs jedoch heißt das Motto: „Jeder kämpft für sich allein!“ Die KapitalistInnen kümmern sich nicht darum, was der Konkurrenz passiert. Diese Situation ist gefährlich für den Kapitalismus, denn es waren eben genau Protektionismus und wechselseitige Währungsabwertung, die den Crash von 1929 in die Große Depression verwandelten.

Protektionistische Tendenzen sind bereits sichtbar. Westeuropäische Regierungen geben ihren Autokonzernen nur dann Geld, wenn sie darin einwilligen, keine Produktionsstandorte im eigenen Land zu schließen. Volkswagen und Renault sind bereits dabei, ihre Produktion in Spanien, Portugal und Italien zurückzufahren, um Produktionsstandorte in Deutschland und Frankreich erhalten zu können. Die US-Autokonzerne fahren ihre europäischen Geschäftsaktivitäten aus dem gleichen Grund zurück.

Die ernsthaftesten Konfliktlinien verlaufen zwischen China, den USA und Europa. China hat ein Interesse daran den Yuan an den US-Dollar gebunden zu haben, um so seine Exportwirtschaft ankurbeln zu können. Über drei Jahre hinweg bis zum Juli 2008 ließ China den Yuan im Vergleich zum US-Dollar um 21% steigen, doch seither hält es an der Politik eines fixen Wechselkurses fest. Im Gegensatz zu vielen anderen Währungen wurde der Yuan dadurch abgewertet.

Protektionistische Maßnahmen in Form einer künstlichen Abwertung von Währungen haben das Chaos auf den Weltmärkten weiter verstärkt. Zuerst fiel der US-Dollar im Vergleich zu allen anderen Währungen, was automatisch zu einem Wertverlust US-amerikanischer Produkte und einem Anstieg im Wert aller anderen Produkte führte. Da der Markt von US-Konzernen dominiert wird und China sein Geld in US-Anleihen angelegt hat, hat es keine andere Wahl als die eigene Währung an den US-Dollar zu binden. Und viele US-Ökonomen vertreten mittlerweile die Auffassung, dass dies der reale Wert des Yuan ist. Der Euro legte anfangs an Wert zu, wie auch die Währungen von Ländern wie Brasilien und Südkorea. Die Krise in Griechenland hat aber diesen Markt vollständig erschüttert, und der Euro verlor wie auch die brasilianische und die südkoreanische Währung wieder an Wert. Der Yuan blieb aber an den US-Dollar gebunden! Die deutsche Exportwirtschaft wurde dadurch wieder gestärkt, was aber die Widersprüche innerhalb der Euro-Zone enorm verschärfte. Was jedoch überall gilt: der Wert des Goldes stieg von rund $ 700 (Anfang 2008) auf mehr als $ 1000.

Um im Vorfeld des G20-Gipfels Druck abzubauen, kündigte China einige vage Maßnahmen an, die einen Kurswechsel in seiner Währungspolitik darstellen sollten.

In der Zeit zwischen 1998 und 2008 nahmen die chinesischen Exporte pro Jahr um durchschnittlich 23% (gemessen in Dollar) zu. Das war mehr als doppelt so hoch wie die Zunahme des gesamten Welthandels. Wenn diese Entwicklung in diesem Tempo weiter gelaufen wäre, dann würde China innerhalb von zehn Jahren für ein Viertel der weltweiten Exporte verantwortlich zeichnen. Das wäre mehr als der 18%-Anteil an den weltweit getätigten Exporten, welchen die USA in den frühen 1950er Jahren erreicht hatten (dieser Wert ist seitdem auf 8% gefallen). In einem 2009 veröffentlichten Arbeitspapier des IWF wurde berechnet, dass, wenn China so exportabhängig wie in den letzten Jahren bleiben würde, der Anteil Chinas an den weltweit getätigten Exporten auf ungefähr 17% bis 2020 angestiegen sein müsste, um das jährliche BIP-Wachstum Chinas bei 8% halten zu können.

Wie auch immer, solche Voraussagen müssen mit Vorsicht behandelt werden. In der Vergangenheit wurden ähnliche Prognosen in Bezug auf Japan angestellt, welches seinen Höhepunkt 1986 mit 10% der weltweit getätigten Exporte erreichte – eine Rate, ähnlich jener, die China 2009 erzielte. Danach jedoch fiel der Exportanteil Japans auf weniger als 5% zurück. Die Exporte wurden von einem starken Anstieg des Yen untergraben, dessen Wert zwischen 1985 und 1988 schätzungsweise um mehr als 100% gegenüber dem Dollar zunahm. Zusammengerechnet erreichte der Exportmarktanteil der vier asiatischen Tigerstaaten (Hongkong, Singapur, Südkorea, Taiwan) einen Wert von 10%, bevor er wieder sank.

Es ist wahrscheinlich, dass Chinas Exporte in der nächsten Dekade viel langsamer wachsen werden, weil die Nachfrage in den reichen Volkswirtschaften gedämpft bleibt. Trotzdem wird Chinas Marktanteil wahrscheinlich weiter wachsen. IWF-Prognosen (World Economic Outlook) deuten an, dass Chinas Exporte im Jahr 2014 rund 12% des Welthandels ausmachen werden. Irgendwann wird China jedoch an die Grenzen protektionistischer Gegenmaßnahmen stoßen.

Die Autoren des weiter oben erwähnten IWF-Arbeitspapiers haben die Aufnahmefähigkeit der drei Exportindustrien Stahl, Schiff- und Maschinenbau untersucht und kamen zu dem Schluss, dass, um das notwendige Exportwachstum zu erlangen, China die Preise senken müsste, was immer schwieriger – entweder durch Erhöhung der Produktivität oder durch einen Rückgang der Profite - zu verwirklichen sein würde. In vielen Exportindustrien, insbesondere in der Stahlproduktion, sind die Gewinnspannen bereits jetzt sehr klein.

Chinas Exporte fielen 2009 um etwa 17% und in anderen Ländern gingen die Exporte noch stärker zurück. Als ein Resultat dieser Entwicklung übernahm China von Deutschland die Rolle des Exportweltmeisters. Chinas Anteil an den weltweit getätigten Exporten stieg 2009 auf fast 10% (1999: 3%) an. In den ersten zehn Monaten des Jahres 2009 importierten die USA 15% weniger chinesische Waren als im gleichen Zeitraum des Vorjahres, ihre restlichen Importe fielen um 33%, was Chinas Marktanteil auf einen Höchststand von 18% anhob.

Handelskonflikte mit dem Rest der Welt nehmen zu. Am 30.12.2009 billigte die Internationale Handelskommission der USA neue Zölle für den Import chinesischer Stahlröhren, welche unfair subventioniert seien. Das ist der größte Fall dieser Art, China betreffend. Am 22.12.2009 stimmten die europäischen Regierungen dafür, Anti-Dumping-Zölle auf chinesische Importschuhe auf weitere 15 Monate zu verlängern. (The Economist, 07.01.2010)

„Die Skepsis des Auslandes gegenüber der chinesischen Export-Dominanz wächst. Der Nobelpreisträger im Bereich Ökonomie des Jahres 2008, Paul Krugman, schrieb neulich in der New York Times, dass China durch Abwertung seiner Währung viel dringend benötigte Nachfrage von der am Boden liegenden Weltwirtschaft abfließen lässt. Er sagte, dass Länder, die Opfer des chinesischen Merkantilismus seien, richtig damit liegen könnten protektionistische Maßnahmen zu ergreifen.“ (ebd.)

China betont, dass seine Importe stärker als seine Exporte zugenommen hätten – eine Zunahme von 27% zwischen Januar und November 2009. Chinas Exporte sinken seitdem weiterhin. Amerikas Exporte nach China (der drittgrößte Exportmarkt der USA) stiegen um 13% zwischen Januar und Oktober 2009, während dessen Exporte nach Kanada (größter Absatzmarkt der USA) und Mexiko (zweitgrößter Absatzmarkt der USA) um 14% fielen. Auf der anderen Seite sind die Warenexporte Chinas von 36% Anteil am BIP 2007 auf ungefähr 24% Anteil am BIP 2009 eingebrochen und die Wechselkurs-Gewinne Chinas sind von elf Prozent auf geschätzte sechs Prozent Anteil am BIP gefallen. Das bedeutet, dass China während des letzten Jahres eine Art Lokomotivfunktion für die Weltwirtschaft übernommen hat. Doch diese Argumente werden den Chor der BefürworterInnen protektionistischer Maßnahmen nicht zum Verstummen bringen.

Der Konflikt zwischen China und den USA wird immer intensiver. Die Forderungen nach einer Neubewertung des Yuan werden lauter und eindringlicher. Auf dem internationalen Bankett hat sich eine bitter geführte Debatte über Chinas Währungspolitik, welche die eigene Währung an den US-Dollar bindet, entsponnen. Mächtige imperialistische Kräfte stehen sich in dieser Frage gegenüber. Die herrschende Klasse in den USA selbst ist in diesem Punkt gespalten. Die Administration Obama und Ökonomen wie der Nobelpreisgewinner Paul Krugman befürworten protektionistische Maßnahmen als Ausweg aus der Krise. Ihre Losung lautet "Buy American", und gleichzeitig erhöhen sie den Druck auf China endlich den Yuan neu zu bewerten. Paul Krugman argumentiert, dass Chinas Währungspolitik, die Handelsvorteile bringt, einen negativen Effekt auf das Wirtschaftswachstum in den USA, in Europa und Japan habe. Seiner Meinung zufolge hätte eine Neubewertung der chinesischen Währung eine „bedeutende Auswirkung“ für die Erholung der Weltwirtschaft. Chinesische Exporte wären dann weniger wettbewerbsfähig und, so Krugmans Argumentation, das würde in den USA die Beschäftigung ankurbeln. Paul Krugman ist heute das Sprachrohr der nationalistischen, protektionistischen Bourgeoisie, speziell kleinerer und mittlerer Unternehmen, die Konsumgüter herstellen (Schuh-, Textil- und Bekleidungsindustrie), die auf den Inlandsmarkt ausgerichtet sind und direkt die Konkurrenz der chinesischen Exporte zu spüren bekommen.

Stephen Roach und "The Wall Street Journal" repräsentieren den liberalen Flügel der US-Bourgeoisie, der die Globalisierung befürwortet. Dieser Teil der herrschenden Klasse ist zu Recht besorgt darüber, dass dieser Druck auf China einen Handelskrieg sowie das Abziehen von chinesischem Kapital aus dem US-Anleihenmarkt auslösen könnte. Dieser generelle Trend zum Protektionismus würde die ganze Weltwirtschaft abermals in die Rezession stoßen. Jene Schule der bürgerlichen Ökonomie, die eine mehr „internationalistische“ Doktrin der Kapitalakkumulation bevorzugt, und damit ihre direkte Verbindung zum internationalen Finanzkapital zum Ausdruck bringt, ist in einer besseren Position, um die Verknüpfungen in der Weltwirtschaft aber auch die komplexe Interessenslage des US-Imperialismus in der Welt zu erkennen. Stephen Roach bringt es ganz klar auf den Punkt: “Washingtons Versuch China als den Sündenbock darzustellen, könnte die Welt an den Rande des Abrunds führen…die Konsequenzen eines solchen Fehlers – Handelskonflikte und Protektionismus – würden die Krise von 2008/9 wie ein Kinderspiel aussehen lassen.” (Financial Times, 29. März 2010)

Vor dem Hintergrund einer schweren Weltwirtschaftskrise stecken zwei Seelen im Körper des Imperialismus. Die Tendenz Richtung Protektionismus, die den Bürgerlichen als „einfache“ Lösung erscheinen mag, ist konfrontiert mit und lebt neben seinem Siamesischen Zwilling, dem internationalen Finanzkapital, welches globale Interessen verfolgt.

In Wirklichkeit haben beide in gewissem Sinne Recht, aber beide liegen mit ihren Annahmen doch auch daneben. Die BefürworterInnen des Protektionismus wollen, dass andere Länder für die Krise zahlen sollen (sie wollen Arbeitslosigkeit nach China exportieren). Die BefürworterInnen des Freihandels warnen, dass dies zu einer neuerlichen weltweiten Rezession führen wird. Doch gleichzeitig kann eine Situation massiver Verschuldung der privaten Haushalte, der Unternehmen und des Staates in den USA nicht dauerhaft geduldet werden, denn das führte die Wirtschaft in die Rezession.

Während die Bürgerlichen in allen Ländern Lobpreisungen auf den Freihandel von sich geben, bereiten sie sich in Wirklichkeit auf eine protektionistische Wende vor. Diese Tendenzen werden in der nächsten Periode zunehmend stärker werden, weil jede kapitalistische Nation versuchen wird Arbeitslosigkeit zu exportieren und die eigenen Probleme auf den Rücken seiner Rivalen abzuwälzen. Das eröffnet ein Szenario, das mehr jenem der 1930er als jener nach 1945 gleichen wird.

Fortsetzung folgt...


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