Begleitet von Protesten und Demonstrationen übernahm Ende Juli eine Gruppe von Militärs in Niger die Macht. Das neue Regime stellt sich gegen den bisher dominanten französischen Imperialismus. Sandro Tsipouras geht der Frage nach, was das über die gegenwärtige Epoche aussagt.

Einwohner der Hauptstadt Niamey zeigten ihre Unterstützung für den Putsch, drückten ihre Ablehnung gegenüber der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich aus und schwenkten russische Fahnen. Diese Demonstrationen sind ein Ausdruck der tiefen Unzufriedenheit der Massen mit den Zuständen im Land.

Instabilität und Bonapartismus

Niger leidet unter extremer wirtschaftlicher Abhängigkeit. Über 41 Prozent der Bevölkerung leben in absoluter Armut, die Mehrheit hat keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung und sanitären Einrichtungen. Ein Viertel der Neugeborenen stirbt noch im ersten Lebensjahr. Die Lebensbedingungen sind geprägt von nomadischer Weidewirtschaft, Subsistenzlandwirtschaft und prekären Beschäftigungsverhältnissen im informellen Sektor. Die Arbeiterklasse ist in wenigen Bergwerken konzentriert. In Teilen des Landes gibt es immer noch Sklaverei, schätzungsweise 7 Prozent der Bevölkerung müssen Zwangsarbeit leisten.

Das Land ist reich an natürlichen Ressourcen wie Uran, Gold und Öl, doch die Menschen profitieren von diesem Reichtum nicht. Die Uranminen in Niger befinden sich im Besitz des französischen Konzerns Orano. Gleichzeitig fließt internationale Entwicklungshilfe in Milliardenhöhe in eine korrupte Staatsbürokratie, die die Interessen der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich verwaltet.

Die Instabilität in der Region wird durch den Klimawandel und die Ausbreitung von Terrorismus als Nebenprodukt westlicher Militärinterventionen im Nahen Osten und in Nordafrika enorm verstärkt. In den vergangenen Jahren haben sich in der gesamten Sahelzone Proteste und revolutionäre Bewegungen gegen die bestehenden Regierungen und ihre französischen Herren formiert. Die Forderung nach dem Abzug ausländischer Streitkräfte, die Erinnerung an die Unabhängigkeitskämpfe, die Erfahrung der Revolution in Burkina Faso (1983–87) und ihres charismatischen Führers Thomas Sankara stehen dabei politisch im Vordergrund.

In dieser komplexen Dynamik sind es oft Jungoffiziere, die sich gegen die verhassten Regierungen erheben und ein Militärregime bilden. Ihr Ziel dabei ist, der Gefahr für die herrschende Klasse ein stabiles Regime entgegenzusetzen. Dabei können sie zu diesem Zeitpunkt oft tatsächlich auf die Unterstützung der Massen, insbesondere der Jugend zählen. Der Fall von Ibrahim Traore, einem 34-jährigen Offizier in Burkina Faso, ist ein typisches Beispiel.

Das Fehlen einer starken Arbeiterklasse als auch einer starken Bourgeoisie sowie einer klaren revolutionären Alternative führt dazu, dass der Klassenkampf in Auseinandersetzungen zwischen sozialen Schichten und politischen Ausrichtungen innerhalb des Staatsapparates einen Ausdruck findet. Der Staatsstreich in Niger steht in einer Reihe von Militärputschen in den vergangenen zwei Jahren – in Guinea, Mali, Burkina Faso, Niger, Tschad und Sudan – mit der sich ein Großteil der Sahelzone dem westlichen Einfluss entzogen hat.

Um Spielraum gegen die Dominanz Frankreichs zu gewinnen, wenden diese Regimes sich außenpolitisch an Russland, was zu einer Verschiebung der geopolitischen Dynamik auf dem Kontinent führt. Der allgemeine Charakter unserer Epoche – die Zunahme des Protektionismus und der verschärfte Kampf zwischen den Imperialisten um die Aufteilung der Welt – findet hier ebenso seinen Ausdruck wie im Krieg in der Ukraine.

Die Imperialisten und die Massen

Der russische Imperialismus setzt auf eine antikoloniale Rhetorik und versucht in Afrika (momentan erfolgreich), eine militärische Gegenmacht zum westlichen Einfluss aufzubauen. Die russische Söldnertruppe Wagner ist präsent, hat in verschiedenen Konflikten militärisch interveniert und hat auch der nigrischen Militärregierung ihre Unterstützung angeboten. Dies ist lukrativ, schon jetzt ist sie etwa in Mali in Uran-, Diamanten- und Goldminen involviert.

Frankreich hat in dieser Situation am meisten zu verlieren. Die Entwicklung in Niger würde nicht nur den europäischen Zugang zu Gold und Uran in der Region gefährden, sondern auch den im letzten Jahr begonnenen Bau einer Gaspipeline von Nigeria nach Algerien. Die Energiesicherheit der EU steht erneut auf dem Spiel. Die Machtübernahme der Offiziere in Niger kommt auch der Errichtung eines geplanten EU-Militärstützpunktes zuvor. Kein Wunder also, dass der Westen und seine Verbündeten so viel Druck wie möglich ausüben, um die alte Regierung von Mohamed Bazoum wiederherzustellen.

Frankreichs Präsident Emanuel Macron warnte lautstark und wütend, er werde „keinen Angriff gegen Frankreich und seine Interessen dulden“ und versprach „sofortiges und kompromissloses“ Handeln in einem solchen Fall. Doch trotz der hitzigen Rhetorik beschränkte sich die Reaktion Frankreichs und der EU bisher auf die Einstellung der Finanzhilfe und die Evakuierung europäischer Bürger. Der französische Außenminister hat jede Absicht einer militärischen Intervention dementiert, womit er nur die militärische Impotenz des europäischen Imperialismus in der Region ausdrückt.

Die ECOWAS (Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft, eine Agentur des französischen Imperialismus) hingegen hat versucht, auf den Putsch in Niger zu reagieren, indem sie ein militärisches Ultimatum zur Wiederherstellung der gestürzten Regierung gestellt hat. Diese – anfänglich – entschlossene Haltung der ECOWAS ist im Vergleich zu ihrer früheren Zurückhaltung bei den Putschen in Mali, Guinea und Burkina Faso bemerkenswert und ein klares Anzeichen für die Nervosität der Imperialisten.

Am 3. August kehrte eine Delegation der ECOWAS nach Hause zurück, ohne eine diplomatische Lösung der Krise gefunden zu haben. Am selben Tag nahmen tausende regierungsnahe Demonstranten an einer Kundgebung auf dem Unabhängigkeitsplatz in der nigrischen Hauptstadt Niamey teil und riefen Parolen wie „Nieder mit Frankreich!“ und „Lang lebe Russland!“. Die Demonstration wurde von der „M62-Bewegung“ unterstützt, die sich letztes Jahr aus Protest gegen die steigenden Lebenshaltungskosten und Korruptionsskandale der Regierung gegründet hatte. Ein Demonstrant brachte die Stimmung auf den Punkt: „Nach meinem Studium in diesem Land habe ich wegen des von Frankreich unterstützten Regimes keinen Job mehr… Das alles muss weg!“

Die Militärregierungen von Mali, Guinea und Burkina Faso haben auf das ECOWAS-Ultimatum mit Gegenmaßnahmen reagiert und sich gegen eine militärische Intervention ausgesprochen. Am 12. August gingen Demonstranten im nigerianischen Bundesstaat Kano an der Grenze zu Niger auf die Straße, schwenkten gemeinsam Flaggen von Nigeria und Niger und riefen: „Nigrer sind unsere Brüder, Nigrer sind unsere Familie.“

Die Pläne der ECOWAS, in Niger wieder den „Normalzustand“ herzustellen, sind vorerst gescheitert. Die Bewegungen der Jugend, die Manöver des westlichen und russischen Imperialismus und die ökonomische Krise des Kapitalismus verdichten sich zu einem komplexen Geflecht von politischer und sozialer Instabilität.

Nieder mit dem Imperialismus und seinen lokalen Helfershelfern! Für die sozialistische Föderation Afrikas als Teil einer sozialistischen Weltföderation!

(Funke Nr. 216/30.8.2023)


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