Seit einem Monat wird Bosnien von einer sozialen Protestbewegung erschüttert, die alle religiösen und nationalen Grenzen sprengt. Sandro Tsipouras und Agnes Friesenbichler waren in Tuzla und berichten über die neuen Formen der Selbstorganisation.
Schon als wir uns Tuzla näherten, stellten wir fest, dass es sich um eine für Bosnien einzigartige Stadt handelt. Vorbei an riesigen Industrieanlagen und einem imposanten PartisanInnendenkmal hinein ins Zentrum, wo man zwischen Raiffeisenbank und Hypo Alpe Adria das abgebrannte Gebäude der Kantonsregierung bewundern kann. Unzählige revolutionäre Forderungen waren an den Wänden verewigt worden. „Pensionen um 15% erhöhen!“ - „Unsere Spezialkräfte sind stärker als eure!“ - „Beendet die Zerstörung unserer Produktion!“ - „Plena für alle!“
Als wir damit beschäftigt waren, uns die Parolen übersetzen zu lassen, schlenderte ein Mann mittleren Alters vorbei und meinte nur: „Wir hätten das Gebäude einfach völlig zerstören sollen.“ Wie kommen die BewohnerInnen von Tuzla dazu, sich mit einer solchen Entschlossenheit und Wut gegen die herrschenden Zustände zu wenden?
Um die Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen und um uns ein Bild von der Lage zu machen, waren wir für eine Woche in Bosnien. Bosnien und Herzegowina ist eine Kolonie des europäischen Finanzkapitals. Das Land ist zwar offiziell eine Demokratie, über den gewählten PolitikerInnen steht jedoch der sogenannte „Hohe Repräsentant“ von EU und NATO, Valentin Inzko, der völlig nach Belieben Gesetze erlassen und PolitikerInnen austauschen kann und somit nichts anderes ist als ein Kolonialverwalter. Auch die „demokratisch“ gewählten RepräsentantInnen geben sich kaum Mühe, dieses Schauspiel überzeugend wirken zu lassen. Korruption und Wahlbetrug sind offenkundige Tatsachen. Die Lebensbedingungen der Menschen sind mit einem Wort katastrophal: Der durchschnittliche Monatslohn beträgt ungefähr 300 konvertible Mark (schon am Namen der Währung erkennt man den kolonialen Charakter!), also ca. 150 Euro – und das bei Preisen, die den österreichischen sehr ähnlich sind.
Diese Tatsachen sind in der Medienberichterstattung verschwiegen oder schöngeredet worden. Auch wir hatten vor unserer Reise nur eine sehr schwammige Vorstellung von den Zuständen in Bosnien. Als wir die Leute fragten, wie sie so überleben können, sagten sie nur, sie könnten es sich selbst nicht erklären, es sei eigentlich unmöglich. Mit dieser schrecklichen Armut machen Hypo, Raiffeisenbank, Erste Bank, Sparkasse und UniCredit, die zusammen 85% des Bankensektors kontrollieren, ein Milliardengeschäft. Allein die Dichte an Banken in Tuzla ist beeindruckend und viel höher als beispielsweise in Wien.
Nachdem wir diesen Einfluss des europäischen und speziell österreichischen Finanzsektors auf Bosnien verstanden, konnten wir uns ausmalen, welchen Effekt eine Hypo-Pleite auf das Land hätte. Gut also, dass die Leute schon jetzt beginnen, sich zur Wehr zu setzen und Plena zu bilden.
Was ist ein Plenum?
In Bosnien haben sich während der Proteste im Februar Plena gegründet, die es in Teilen des Landes geschafft haben, die lokale Regierung zum Rücktritt zu zwingen. Dort diskutieren die Menschen frei und demokratisch darüber, wie sie ihre Zukunft gestalten wollen. Hier werden Forderungen der Bewegung beschlossen. So wird „direkte Demokratie“ nicht nur passiv eingefordert, sondern real praktiziert. Somit sind die Plena die Keimzellen einer wirklich demokratischen Gesellschaft, in der sich die Probleme lösen lassen, die im „demokratischen“ Kapitalismus unlösbar sind. Es liegt in der Natur der Sache, dass im Frühstadium einer Revolution dabei sehr viel Verwirrung herrscht: So fordern beispielsweise in Bihac Liberale auf den Plena die Senkung der Löhne im staatlichen Sektor und ein Ende der „Gewalt auf beiden Seiten“.
In der Industriestadt Tuzla jedoch hat das Plenum einen völlig anderen Charakter. Die Deklaration vom 7. Februar, die wir in unserer letzten Ausgabe abgedruckt haben, ist ein Dokument der proletarischen Revolution. Es ist das erklärte Ziel des Plenums von Tuzla, dass diese Deklaration von allen Plena in Bosnien unterstützt wird. Sie fordert die Rücknahme aller kriminellen Privatisierungen – und in Bosnien sind das alle Privatisierungen seit dem Zerfall Jugoslawiens – und die Bildung einer „Expertenregierung“. Im Gegensatz zu anderen „Expertenregierungen“, wie wir sie in Italien und in Griechenland gesehen haben, ist damit eine Regierung aus MinisterInnen gemeint, die – ausnahmsweise! - auch etwas von dem Thema verstehen, für das sie zuständig sind. Das Plenum in Tuzla hat KandidatInnen dafür vorgeschlagen, doch es wurde auf der Plenumssitzung auch betont, dass diese zukünftigen MinisterInnen der Deklaration vom 7. Februar verpflichtet und dem Plenum Rechenschaft schuldig sind.
Es wurden Arbeitsgruppen in verschiedenen Bereichen gebildet, die aus abstrakten Forderungen wie zum Beispiel „besseres Leben“ konkrete Vorschläge machen sollen. Es gibt eine Gruppe von JuristInnen, die diese Vorschläge zu Gesetzestexten formuliert. Zum Beispiel sollen alle staatlichen Gelder zuerst für soziale Zwecke, wie Gesundheitsversorgung, Pensionen, Arbeitslosengeld usw. verwendet werden, bevor die Regierungsmitglieder ihre Gehälter erhalten. Daran merkt man, dass es trotz aller Entschlossenheit Illusionen in den bürgerlichen Staatsapparat gibt. Ein Parlament und ein Staat, die gerade in Bosnien am offensichtlichsten ausschließlich der Wahrung europäischer Profitinteressen dienen, können niemals ein derartiges Gesetz erlassen. Nur die Plena selbst haben das Potential, sich zu einem Staatsapparat zu entwickeln, der wirklich den arbeitenden Menschen dient. Dazu muss es Plena in jeder Nachbarschaft, jedem Betrieb, jeder Stadt geben.
Solange die Plena die Durchführung ihrer Forderungen vom bürgerlichen Staat erwarten, wird sich die Situation in Bosnien nicht bessern. Deshalb ist es sehr wahrscheinlich, dass die erste Welle der Revolution abebben wird. Das haben wir selbst in Tuzla am Plenum beobachten können. Es gab Kritik an der Art und Weise, wie das Plenum geführt wird, doch anstatt die verwirrten und unfähigen Moderatoren abzuwählen und zu ersetzen, haben zwei Drittel der immerhin 600 Leute, die am Anfang anwesend waren, das Plenum entrüstet verlassen. Deshalb war es dem Plenum nicht möglich, konstruktive Beschlüsse zu fassen. Es herrscht sehr viel Verwirrung vor, wie man die Ziele der Februardeklaration erreichen soll. Gleichzeitig hat sich der bürgerliche Staat von seinem anfänglichen Schock erholt und sieht die Plena mehr als Gruppentherapiesitzung anstatt als Bedrohung. So kam es, dass die Aufforderung des Plenums an die Regierung, die Expertenregierung bis zum 1. März einzusetzen, völlig ignoriert wurde.
Doch solange die Probleme der bosnischen Bevölkerung nicht gelöst sind, wird es weitere Proteste geben.
Wir haben gesehen, wie einfach es dort ist, an den konkreten Erfahrungen der Menschen anzuknüpfen: Unsere Ideen wurden mit höchstem Interesse und großer Begeisterung aufgenommen. Ein politischer Aktivist hat es so ausgedrückt: Sie wissen, wie es sich anfühlt, in Fabriken zu arbeiten, die ihnen selbst gehören. In Jugoslawien haben, im Gegensatz zu den stalinistischen Staaten des Ostblocks, historisch einzigartige, starke Elemente der Arbeiterkontrolle existiert. Diese Tradition, diese Idee, die in der Erinnerung der Menschen weiterlebt, müssen wir aufgreifen. Es gilt, sie von den Fehlern und stalinistischen Einflüssen, die zum Untergang Jugoslawiens führten, zu bereinigen und sie zum Programm für die Zukunft zu machen.
In Bosnien haben wir gemerkt, wie unbedeutend und lächerlich die künstlich gezogenen Grenzen am Balkan sind. Da es während der Proteste in Bosnien auch Proteste in Serbien, Kroatien und Mazedonien gab, können wir davon ausgehen, dass die nächste Welle der Revolution sich nicht auf Bosnien beschränken wird. Die Bourgeoisie hat es 25 Jahre lang geschafft, die Menschen in Jugoslawien durch Nationalismus und Religion zu spalten. Das ist vorbei.