Am 08.02. hat der Bürgerkrieg des türkischen Staates gegen die Kurden einen neuen Höhepunkt erreicht. Bis zu sechzig Menschen wurden in einem Wohnhaus ermordet. Doch gibt es noch keine Anzeichen, dass sich der Widerstand in Kurdistan auch von den grausamsten Attacken einschüchtern lässt. Von Kurt Bührle.
Cizre gehört zu den Städten, in denen die prokurdischen Parteien besonders stark vertreten sind, und ist spätestens seit September 2015 Brennpunkt des kurdischen Widerstands. Gewählte Abgeordnete der Kurdenparteien wurden ebenso drangsaliert wie ihre WählerInnen. Bereits im August hat die Jugend in manchen Vierteln Blockaden errichtet und Gräben ausgehoben, um sich gegen die zunehmende Willkür des Staatsapparats, gegen faschistische Banden und andere Handlanger des Regimes zu wehren. Daraufhin wurde die Stadt von der türkischen Armee belagert und Ausgangssperren verhängt.
Weit davon entfernt, sich unterkriegen zu lassen geschah, was bislang in diesem Konflikt einzigartig geblieben ist: Nach neun Tagen Ausgangsperre, einer drohenden Hungersnot und zwei duztend Toten auf Seiten der Bevölkerung versammelte sich praktisch die gesamte Stadt zu einer Demonstration gegen die Belagerung.
Erdoğan hat sich für die grausamste Terrorisierung also jene Stadt als Ziel ausgesucht, die am entschlossensten Widerstand leistete. Indem er den Widerstand dort zu brechen versucht, zielt er darauf ab, der ganzen Bewegung den Kopf abzuschlagen.
In diesem Zusammenhang müssen wir betonen, dass eine friedliche Verhandlungslösung, die innerhalb der kurdischen Befreiungsbewegung, in HDP und PKK immer wieder bemüht wird, eine Illusion ist. Erdoğan und seine Clique sind an keinem Frieden interessiert. Das Regime braucht den Krieg, um die Arbeiterklasse in der Türkei entlang nationaler Linien zu spalten und die strategischen Interessen des türkischen Kapitals in Syrien zu wahren.
Die Durchsetzung der demokratischen und nationalen Forderungen der KurdInnen verlangt einen klaren internationalistischen Appell an die unterdrückten ArbeiterInnen und Jugendlichen der West-Türkei, sich gemeinsam gegen den gemeinsamen Unterdrücker zu erheben.
Alles Terroristen, alles Kämpfer?
Die bürgerlichen türkischen Medien behaupten der Krieg sei eine Anti-Terror-Aktion. Die Herrschenden aller Länder sind sich darin einig, dass die PKK eine terroristische Organisation sei. Uneinigkeit herrscht bei der Einschätzung ihrer in Syrien beheimateten Schwesterorganisation YPG. Man sieht, dass die Imperialisten keine prinzipielle Haltung gegenüber unterdrückten Nationen und ihren Befreiungsbewegungen haben: Man gebraucht sie, solange sie dem eigenen strategischen Interesse dienen, und liefert sie wieder ihren Schlächtern aus, sobald sie nicht mehr gebraucht werden.
Dabei ist es nicht „die PKK“, die klassische Guerilla der kurdischen Befreiungsbewegung, die in den Städten und Vierteln der Ost-Türkei kämpft. Sie hat sich in organisierter Form erst in jüngster Zeit in die Gefechte eingemischt und agiert selbst jetzt noch sehr zögerlich. Auch kann die PKK-Führung die kurdische Massenbewegung nicht wie eine Guerilla-Einheit befehlen. In Wahrheit entwickelte sich gerade zu Beginn der Bewegung, während die Führung voll auf Verhandlungen setzte, der Widerstand unter dem Banner der YDG-H in vielen Städten spontan. Nicht die Befehle der PKK führten zu den Kämpfen, im Gegenteil, der sich spontan entwickelnde Massen-Widerstand treibt die Führung der PKK und der gesamten kurdischen Befreiungsbewegung nach vorn. Im Grunde sind diejenigen, die in den Städten kämpfen, lokale Jugendliche, junge Männer und Frauen, die das wenige verteidigen, das sie haben.
Die Jugendorganisation YDG-H steht in politischer Solidarität mit der PKK. Sie ist keine klassische Guerilla, sondern ist eine in den Städten verankerte Massenorganisation der Jugend. Ihr bewaffneter Kampf ist ein notwendiger Akt der Selbstverteidigung.
Wessen Krieg?
Erdoğans-Regime schwimmen die Felle immer schneller davon. Der Krieg, den er im türkischen und zunehmend auch wieder im syrischen Teil Kurdistans führt, ist Ausdruck der Schwäche des türkischen Kapitalismus. Die wirtschaftliche Situation der Türkei erschwert es zunehmend die Zustimmung oder zumindest die passive Ruhe der Arbeiterklasse zu erkaufen. Das schwache Wirtschaftswachstum geht mit steigender Arbeitslosigkeit (offiziell 11%) und massiver Inflation einher. Weit davon entfernt in Syrien den Einfluss ausweiten zu können, droht der Türkei ein ausgedehntes, von seinen politischen Todfeinden kontrolliertes, autonomes Kurdistan. Dazu kommen immer neue Konflikte mit wichtigen Handelspartnern wie Russland, und ein offener Konflikt mit der traditionellen Schutzmacht USA, die mangels jedwelcher Alternativen in Syrien die kurdische Bewegung militärisch unterstützt. Kurz: Alle Großmachtphantasien Erdoğans haben sich in den vergangen Wochen und Monaten in ihr Gegenteil verkehrt.
In dieser explosiven Situation kommt die frische Unterstützung der EU gerade recht. Angela Merkel ist offensichtlich bereit alles zu tun um ihren „kranken Mann am Bosporus“ bei der Stange zu halten. Um die Flüchtlinge aus Syrien vor dem Erreichen Europas abzufangen, ist die EU bereit bis zu 5 Mrd. € zu überweisen. Die EU-Kommission hat auch aktiv die letzten Wahlen zugunsten der AKP beeinflusst und einen Bericht über die Menschenrechtslage in der Türkei bewusst bis nach den Wahlen zurückgehalten. Nur so viel zum „Friedensprojekt“ EU.
SPÖ- Doppelspiel
Auch SPÖ-Klubobmann Schieder verurteilte via Presseaussendung die Angriffe in Cizre, just bevor sich die Armee ohnehin kurzfristig zurückzog. In bester SPÖ-Regierungsmanier spielen die GenossInnen ein Doppelspiel. Während Faymann in der Flüchtlingsfrage FPÖ-Politik umsetzt, drängt er auch voll auf den Kurs der EU, die Rolle des europäischen Türstehers an das verbrecherische Erdoğan-Regime auszulagern. Hier sind keine Prinzipen der Menschenrechte oder Solidarität, sondern nur politisches Kalkül am Werk.
Wie also kann der Widerstand siegen?
Der internationalen Zusammenarbeit der Herrschenden in unserer Unterdrückung und Ausbeutung müssen wir unsere internationale Solidarität entgegensetzen. Wir verurteilen die Machenschaften von Merkel, Faymann und Co. zutiefst. Das Zentrum für diese Solidarität der ArbeiterInnen und unterdrückten Jugendlichen muss dabei die Einheit der KurdInnen und der türkischen Arbeiterklasse sein – genau das, was Erdoğan fürchtet wie den Teufel. Alles, was die Grundlagen dieser Einheit zerstört, verurteilen wir zutiefst. Etwa den Anschlag der sogenannten „Freiheitsadler Kurdistans“ auf einen Flughafen in Istanbul und ihre Ankündigung für jeden der 60 Toten von Cizre einen Anschlag auf eine türkische Stadt zu verüben.
Der heldenhafte Abwehrkampf der kurdischen Jugend gegen die türkische Armee ist ein Beispiel dafür, wie machtvoll der Widerstand sein kann, wenn die Unterdrückten erst ihre Angst verloren haben. Doch die türkische Armee wird nicht militärisch zu besiegen sein. Sie ist hochmodern und gleichzeitig eine der größten der Welt.
Der Sieg gegen Erdoğan und damit gegen den türkischen Kapitalismus kann nur mit den Mitteln des Massenkampfes gelingen. Dazu müssen wir politische Forderungen in den Mittelpunkt rücken, die die Einheit der unterdrückten Nation der KurdInnen mit den türkischen ArbeiterInnen herzustellen vermögen. Der Sultan wird nur gestürzt werden, wenn die Soldaten in der Armee die Befehle ihrer Vorgesetzten verweigern, auf Zivilisten zu schießen; wenn das Land durch massenhafte Streiks der ArbeiterInnen, Demonstrationen und Aufstände auch im westlichen Teil des Landes lahmgelegt wird; wenn die YPG keine politische Kompromisse mit dem Imperialismus eingeht. Nur eine Revolution in der gesamten Türkei kann den Kampf des kurdischen Volkes um Freiheit zu einem siegreichen Ende bringen. Und nur eine Beseitigung des Kapitalismus wird dafür garantieren, dass der Sieg der bereits begonnen Revolution gesichert ist!