Das Phänomen Corbyn spülte hunderttausende neue Mitglieder in die britische Labour Party und inspirierte viele mehr, politisch aktiv zu werden. Doch Corbyn weiß nichts mit der Massenunterstützung anzufangen. Von Willy Hämmerle.

Zweimal setzte sich Corbyn in Urabstimmungen gegen die Parteirechte als Parteivorsitzender durch. Dies gelang durch eine massenhafte Mobilisierung von AnhängerInnen, die sich in der Labour Party registrierten oder in der neugeschaffenen Bewegung namens Momentum organisierten.

Tausende neue AktivistInnen sahen in Momentum das Werkzeug, um Corbyn und sein Programm gegen Spardiktatur und Establishment zu unterstützen. Im Oktober 2016 organisierte Momentum ein Netzwerk von über 170.000 UnterstützerInnen, Hunderttausende mehr waren der Labour Party beigetreten.

Momentum

Die Gründung von Momentum wurde durch eine Clique aus dem Umfeld der Corbyn-Kampagne initiiert, federführend war dabei ein gewisser Jon Lansman. KarrieristInnen erkannten die Zeichen der Zeit, sammelten sich um Lansman und sprangen auf den Corbyn-Zug auf. Schon zu Beginn trafen sie Vorkehrungen für die bürokratische Kontrolle der Bewegung. So wird Momentum formell als Unternehmen (Momentum Ltd.) geführt. Sämtliche Verfügungsgewalt über die Daten der Mitglieder, der Gelder, der Homepage usw. liegt somit in den Händen Lansmans, dem Eigentümer der Firma. Formal jedoch oblag die nationale Führung einem „National Committee“ (NC), mit einem „Steering Committee“ (SC) als ständigem Ausschuss. In der Realität waren diese Gremien lange Zeit nur Feigenblätter für die versteckte Autorität der führenden Clique um Lansman.

Zu Beginn schien das Kalkül aufzugehen, jedoch rechnete sie nicht mit der Radikalität der Mitglieder. Der Ruf nach Abwahl („deselection“) der rechten Labour-Parlamentsmitglieder (Blairites) wurde laut und fand unter denjenigen, die durch Corbyn politisiert wurden, schnell eine klare Mehrheit. Die Spitzen von Momentum mussten diese Forderung unterstützen, wenn sie sich nicht diskreditieren wollten. Sie taten dies aber nur in Worten und beschränkten sich selbst dabei bloß auf individuelle Statements und Interviews. Das SC verzichtete auf eine offizielle öffentliche Positionierung, und untersagte den lokalen Strukturen sich aktiv für die Abwahl der Rechten einzusetzen. Dies alles mit der Intention, die Bewegung dafür zu instrumentalisieren, einen „ehrenhaften Kompromiss“ mit den Blairites zu schließen und einen guten Deal für sich selbst herauszuschlagen.

Auch in anderen Fragen stellten sich Lansman und Co in der Praxis immer wieder gegen die Forderungen der eigenen Basis. Im gleichen Atemzug wie sie davon sprachen, die Labour Party demokratischer zu gestalten, blockierten sie den demokratischen Prozess innerhalb der Bewegung. Das National Committee (NC), das mehrheitlich aus demokratisch gewählten VertreterInnen bestand, geriet zunehmend in Konflikt mit der Führungsclique und dem Steering Committee (SC), in dem Lansman noch eine knappe Mehrheit hatte. Dieses verhinderte monatelang das Abhalten einer Sitzung des NC, dem es auf dem Papier eigentlich rechenschaftspflichtig wäre. Aktivitäten der regionalen Gruppen wurden regelmäßig untersagt. Lansman nutzte den Zugriff auf die Emailadressen, um sich direkt an die Basis zu wenden, und versuchte bis zuletzt die Durchführung einer Delegiertenkonferenz zu verhindern und die Mitglieder davon zu überzeugen stattdessen eine „Onlinekonferenz“ abzuhalten.

All dies führte zu Chaos und Stillstand in der Organisation, allerdings auch zu einem Auflehnen der Basis gegen die intransparenten und diktatorischen Vorgaben von oben. Der Reihe nach veröffentlichten regionale Komitees Resolutionen gegen die Blockaden der Führungsclique. Die Basis und das NC ließen sich nicht mehr länger abspeisen und zogen die notwendigen Schlüsse. In einer für lange Zeit hinausgezögerten Sitzung beschloss die gewählte Führung am 3.12.2016 das Abhalten einer Delegiertenkonferenz im Februar zur Klärung der politischen Ausrichtung.

Nacht der langen Messer

Im Lichte dieser Entwicklungen sah sich die Führungsclique schlussendlich gezwungen, die Notbremse zu ziehen. Als die Planungskommission am 10. Jänner ihren Plan für die Konferenz vorlegte, führte die leitende Clique nur wenige Stunden danach einen beispiellosen Putsch durch.

Knapp einen Monat vor der geplanten Konferenz wurden die AktivistInnen mit einer kurzen Mail vor vollendete Tatsachen gestellt. In ihr wurden die neuen, sofort in Kraft tretenden, „Statuten“ vorgestellt, die dazu beitragen sollem „die Transparenz zu erhöhen“, „den Fokus auf Aktionen und Kampagnen zu legen“ und „die Bürokratie zu reduzieren“. Die „Bürokratie“, gemeint sind damit die bisher gewählten Führungsgremien auf nationaler und lokaler Ebene, wurde aufgelöst und de facto durch eine interne Diktatur ersetzt. Die höchsten Gremien sollen in Zukunft mehrheitlich nicht mehr gewählt, sondern von verschiedenen Abteilungen der tatsächlichen Bürokratie bestimmt werden, den Labour ParlamentarierInnen, der Gewerkschaftsführung und sogar von einer Reihe von s.g. affiliierten „Organisationen“, wie unter anderem etwa „Left Futures“, dem persönlichen Blog von Jon Lansman. Nur mehr 12 von 26 Mitgliedern der neuen National Coordinating Group werden noch von der Mitgliedschaft gewählt.

Das Komitee zur Planung der Konferenz wurde ohne Vorwarnung aufgelöst und durch ein neues Tochterunternehmen der „Momentum Ltd“ ersetzt, das prompt ankündigte, die inhaltlichen und programmatischen Diskussionen zu streichen und stattdessen die Konferenz zu einem Treffen für das Training von AktivistInnen, Networking und Abhalten von Workshops zu machen. So soll also der „Fokus auf Aktionen und Kampagnen“ ausschauen. Anstatt eine richtungsweisende Konferenz zur demokratischen Entscheidungsfindung abzuhalten, sollen die Mitglieder nur mehr über die bereits feststehenden Beschlüsse der führenden Clique informiert werden.

Corbyn und die Führung der Labour Party

Wie in Momentum ist auch die Situation in der Labour Party ein unhaltbarer morscher Zustand. Allerspätestens seit dem letzten Putschversuch im vergangenen Sommer sind die Fronten in der LP endgültig geklärt. Seit seiner Wahl im Herbst 2015 hatte Corbyn mehrmals die Gelegenheit, Schluss mit dem alten Partei-Establishment zu machen und die Labour Party in eine neue Richtung zu führen: ihre demokratischen Strukturen wiederzubeleben und ihr, gestützt auf die Massen an neuen Mitgliedern, wieder ein sozialistisches Programm zu geben. Stattdessen zauderte er, und seine ständigen Kompromisse mit dem rechten Flügel wurden stets mit Illoyalität und Sabotage beantwortet. Das Einzige was dabei herauskam, war den Rechten mehr Spielraum für ihre Manöver zu schaffen und seine eigenen Anhänger zu entmutigen.

Die Parteirechte, die den direkten Willen der herrschenden Klasse ausdrückt, hat gelernt, dass sie eine direkte Konfrontation nicht gewinnen kann. Sie nutzen seine selbsterzwungene Isolation, um seine Autorität ständig zu untergraben und die ganze Bewegung langsam zu ersticken. Corbyns zögernde Planlosigkeit gegenüber dem bürgerlichen Apparat und den bürgerlichen ParlamentarierInnen ist dabei der zentrale Faktor. Je länger dieser Zustand anhält, desto günstiger ist die Ausgangsposition der Rechten in der unausweichlich kommenden Konfrontation. Die Krise in Momentum entspricht dabei der Krise in der Labour Party.

Die offene Frage in der Bewegung ist eine Frage der Führung. Die energische Unterstützung von Corbyns Anti-Sparprogramm-Kampagne, die Massenproteste gegen Trump, bei denen Zehntausende im ganzen Land auf die Straßen strömten, oder der vor kurzem stattgefundene Streik der Londoner U-Bahn sind nur der jüngste Ausdruck für die Kampfbereitschaft der britischen ArbeiterInnen und Jugendlichen, die massenhaft zum politischen Leben erweckt sind. Daran kann kein Manöver etwas ändern. Sie sind die einzige Basis, auf die sich Corbyn stützen kann und muss. Es wäre ein leichtes diese Kräfte zu organisieren, und Labour zu einer sozialistischen Kampfpartei der Arbeiterklasse zu machen. Allein, bisher fehlte ihm dazu der Mut. Bringt er diesen nicht mehr auf und kapituliert endgültig, ist dies ein schwerer Schlag gegen die Arbeiterbewegung und wirft sie potenziell für eine lange Zeit zurück.


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