Über das von Erdogan angestrebte Präsidialsystem findet ein Referendum statt. Über dessen Charakter und die Perspektiven des Klassenkampfes schreibt Martin Halder.
Die jüngsten Terroranschläge in der Türkei, wie jene in der Silvesternacht in Istanbul (der Funke berichtete), werden in klassischer Manier von Erdogan ausgenutzt, um politisches Kapital daraus zu schlagen. Im Namen der „Stabilisierung“ und der „Sicherheit“ werden Demokratieabbau sowie staatliche Repression befeuert. So wurde der Ausnahmezustand bereits ein zweites Mal verlängert und endet nun erst am 19. April.
Aber nicht nur Terrorakte, auch der Putschversuch im Sommer letzten Jahres kam Erdogan gelegen, um den Staatsapparat einer regelrechten „Säuberung“ zu unterziehen. 100.000 Staatbedienstete wurden ausgewechselt oder suspendiert. Ausserdem gewannen die brutalen Repressionen gegen die HDP, einer Linkspartei mit starker Verankerung unter der kurdischen Minderheit, im Dezember an fahrt. Hunderte HDP-PolitikerInnen wurden verhaftet und Dutzende Parteibüros von der Polizei zerstört.
Vor diesem Hintergrund ist auch die Einführung des Präsidialsystems zu sehen, welches Erdogan seit längerer Zeit umsetzen will. Für dieses Vorhaben konnte die regierende AKP im Parlament zusammen mit der rechtsextremen MHP eine 3/5 Mehrheit bekommen. Das macht den Weg frei für ein Referendum, welches über diese Frage voraussichtlich im April entscheiden wird.
Insgesamt besteht das gesamte Gesetzespaket aus 18 Verfassungsänderungen, welche die Befugnisse des Parlaments massiv einschränken und dem Präsidenten die Möglichkeit geben, den Staat nach seinen Vorstellungen zu führen. Laut dem Vorschlag würden alle Funktionen des Ministerpräsidenten und des Ministerrats in die Hände des Staatspräsidenten übergehen. Er hätte somit das Recht zur Ernennung und Entlassung von MinisterInnen. Der Präsident dürfte Dekrete erlassen, was zurzeit nur im Rahmen des Ausnahmezustands möglich ist, sowie das Parlament auflösen. Weiters wäre der Präsident in Zukunft uneingeschränkt der Oberbefehlshaber der Streitkräfte und würde über die Ernennung hoher Beamten umfassendere Kontrolle über das Justiz- und Bildungssystem erhalten.
Es sollte festgehalten werden, dass einige dieser Punkte jetzt schon Realität sind. So herrscht seit Sommer Ausnahmezustand und Angestellte und Funktionäre in Politik, Justiz, Militär, Medien und Bildungswesen werden nach Erdogans Willen ausgetauscht. Die Verfassungsänderungen sollen in dieser Situation als demokratische Legitimierung des neuen Status Quo in der Türkei dienen. In seinen Allmachtsfantasien könnte sich der „Sultan“ aber dieses mal verrechnet haben.
Denn das Referendum könnte durchaus scheitern. Einer aktuelle Umfrage nach lehnen 58 % der Bevölkerung Erdogans Plan ab. Das zeigt das Potenzial auf, das eine entschlossen geführte Nein-Kampagne hätte. Die Aufgabe der Linken ist es in dieser Situation, eine entschlossen vorgetragene „Nein“- Kampagne zu führen, die den Abbau der Demokratie mit der immer schlechter werdenden wirtschaftlichen Situation in Verbindung bringt und. So könnte das Referendum, das Erdogans Macht zementieren soll, genau zum Gegenteil führen. Entschlusslosigkeit und abstrakte „Demokratie“-Appelle wird Erdogan aber nur dafür nützen, dem Volk die Pistole auf die Brust zu setzen und sich wie schon bei den letzten Parlamentswahlen als einzige Alternative zum Chaos zu präsentieren.
Die anhaltende Krise führt dazu, dass Erdogan sich immer weniger auf breite Schichten der Bevölkerung stützen kann, sondern seine Herrschaft mehr und mehr auf direkte Unterdrückung durch den Staatsapparat, in letzter Instanz Polizei und Militär, begründen muss. Wenn Erdogan reihenweise Zeitungen verbietet und immer mehr Macht in seinen Händen konzentriert ist das kein Zeichen der Stärke, sondern der extremen Instabilität und der Widersprüche des Kapitalismus. Die steigende gesellschaftliche Dynamik, die jetzt Erdogan versucht dazu zu nutzen, sich zum Diktator aufzuschwingen, wird in der Zukunft erneut Kräfte von unten auf die Strassen und in den Kampf tragen. Eine zentrale Rolle wird hier die Arbeiterklasse in der Türkei spielen, die die stärkste in der Region ist und stolze klassenkämpferische und revolutionäre Traditionen hat.