In den französischen Präsidentschaftswahlen manifestiert sich die Krise der bürgerlichen Demokratie und des herrschenden Systems. Der mögliche Wahlsieg von Marine Le Pen wäre ein Brexit zur Potenz. Die Hintergründe beleuchtet Martin Gutlederer.
Die kommenden Präsidentschaftswahlen in Frankreich sind die unvorhersehbarsten seit Generationen. Der angestaute Ärger in der französischen Gesellschaft hat sich zu einer ausgewachsenen Krise entwickelt. 2017 ist nichts mehr, wie es war: Zum ersten Mal seit 1958 könnte es passieren, dass keines der traditionellen Lager – Konservative vs. Sozialisten – es überhaupt in die zweite Wahlrunde bei der Präsidentschaftswahl schafft. Die Präsidentschaft Hollandes ist völlig fertig, er ist derart unbeliebt, dass er das erste Mal in der Geschichte Frankreichs als amtierender Präsident auf eine Wiederkandidatur verzichtet.
Die Massen nehmen die permanente Sparpolitik in Frankreich nicht mehr hin. Von Platzbesetzungen der Bewegung „Nuit Debout“ über Schülerproteste, Bauernunruhen, Straßenkämpfe in den desolaten Vorstädten bis zur monatelangen militanten Streikbewegung gegen die Arbeitsmarktreform im Jahr 2016 bewegen sich die französischen Massen wieder. Gerade in einem Land wie Frankreich, in dem der Klassenkampf – wie bereits Friedrich Engels feststellte – wie in keiner anderen Nation bis zum Ende geführt wird, ist dies Ausdruck einer vorrevolutionären Gärung. Eine weitere Widerspiegelung der Systemkrise ist der Zusammenbruch der traditionellen politischen Lager. The Economist argumentiert: „Die unmittelbarste Ursache der Revolution ist der Zorn der Wähler über die unbrauchbare und mit sich selbst beschäftigte herrschende Klasse.“ 81% der FranzösInnen denken, dass die „Welt schlechter wird“, während nur 3% auf eine Besserung hoffen.
In den Augen der Menschen haben sich die PolitikerInnen diskreditiert und jeder, der in Zusammenhang mit der aktuellen Situation gebracht wird, ist den Massen verhasst. Der chancenlose Kandidat der Sozialisten (PS), Benoît Hamon, weit davon entfernt, eine linke Kandidatur darzustellen (er war selbst Minister der Regierung und hat die Kürzungen der Regierungen Hollandes mitgetragen), ist den Parteigranden der „Sozialistischen Partei“ (PS) viel zu links.
Der Liebling der Bourgoisie ist Emmanuel Macron, der sich 2016 von der PS abgespalten und eine liberale Retorten-Bewegung geschaffen hat. Diese will weder links noch rechts sein, jedenfalls aber eine massive Kürzung der Sozialausgaben und eine weitere Aushöhlung der Arbeitsschutzgesetzgebung durchsetzen. Im Gegensatz zu den anderen Kandidaten steht Macron eindeutig positiv zum Sparregime der EU und ihrer aggressiven Außenpolitik gegenüber Russland. Ein Großteil des sozialistischen Apparates stellt sich hinter Macron, in seinem Windschatten gesellt sich auch der ehemalige PCF(Kommunistiche Partei)-Vorsitzende Robert Hue ins Lager der kunterbunt auffrisierten Spardiktatur. Zunehmend optieren auch konservative PolitikerInnen für diese Bewegung, die sich „En Marche“ nennt. In Macron verdichten sich die Bemühungen des Kapitals, eine politische Marionette des Systems zu schaffen, ohne dabei aber als Teil des Establishments zu wirken.
Aber auch bei den Konservativen sieht die Lage nicht besser aus: François Fillon, der unter dem Motto „saubere Politik“ antrat, hat 900.000 Euro für seine geliebten Familienmitglieder veruntreut. Wöchentlich kommen neue Nettigkeiten rund um seine Person an die Oberfläche. Der Druck zurückzutreten wird auf ihn ihm immer höher. Mittlerweile sprechen sich Teile der Konservativen offen für einen Putsch gegen den eigenen Kandidaten aus, während dieser seine Anhänger auf die Straße mobilisiert. Die Konservativen stehen vor dem Gordischen Knoten, einen von der Presse niedergeschriebenen Kandidaten zu haben, der sich aber uneinsichtig gibt und sich nicht entfernen lässt, ohne die Partei in eine noch tiefere Krise zu stürzen. Das Personal dieser bürgerlichen Partei ist aber derart verbraucht, dass sich weit und breit kein heldenhafter „Alexander der Große“ wird finden lassen, um diesen Knoten zu zerschlagen.
Eine aussichtsreiche Kandidatin der Rechten ist Marine Le Pen. Sie ist ein Kristallisationspunkt der Unzufriedenheit großer Schichten der Arbeiterklasse. Ungefähr die Hälfte aller klassischen ArbeiterInnen und ungefähr 40% der gesamten Arbeiterklasse geben an, Le Pen wählen zu wollen, und sprechen sich damit einhergehend für einen Austritt Frankreichs aus der EU aus. Marine Le Pen will ihnen diese Entscheidung für sich und die Front National leichter machen und versucht, sich und ihre Partei von den auffälligsten rechtsradikalen Makeln zu lösen und als Systemalternative zu präsentieren. Sie attackiert den Verlust von Arbeitsplätzen, die EU und das Establishment. Die Wahl von Le Pen mit einem möglichen Austritt Frankreichs aus der EU wäre von den Folgen her ein Brexit zur Potenz und versetzt die herrschende Klasse entsprechend in Aufruhr.
Die Verantwortung für den möglichen Erfolg von Marine Le Pen liegt in der Politik des nationalen Schulterschlusses, den de facto alle Parteien der Arbeiterklasse vertreten. Während die PS unter Hollande diesen bereits real umsetzt, zeigt sich die Kommunistische Partei unfähig, diesem etwas entgegenzusetzen, sondern malt lieber das Gespenst des Faschismus an die Wand, um die Arbeiterklasse in eine Neuauflage der Volksfront von 1936 zu treiben. Volksfront heißt in diesem Fall: Die Unterordnung der Arbeiterklasse unter das Programm des Kapitals, um das vermeintlich „größere Übel“ Marine Le Pen zu verhindern. Der Parteichef der Kommunisten nennt dies ein Bündnis „aller lebendigen Kräfte“ der Linken. Treffender wäre wohl die Nacht der lebenden Toten. Das Ergebnis, das hierbei droht, ist bereits aus Griechenland bekannt: Die „Pasokisierung“ eines Teiles der Arbeiterbewegung und die Demoralisierung der Massen, die letztlich zu einer neuen Offensive der Bürgerlichen führen wird.
Der einzige Kandidat, der eine Alternative anbietet, ist Jean-Luc Mélenchon mit „France Insoumise” („Rebellisches Frankreich“). Er ist der einzige, der offen gegen die Spardiktatur antritt und eine Alternative formuliert. Zwar bleibt er in seiner Rhetorik vage und unkonkret und formuliert keinen bewussten Klassenstandpunkt, jedoch spricht er deutlich und offen die Probleme der Massen an und ist damit für viele ArbeiterInnen eine Alternative, nicht nur zum Establishment, sondern auch zu Marine Le Pen und damit ihr schärfster Konkurrent.
Die größte Gefahr dabei, wie bereits oben angesprochen, ist folgende: Der durch die politische Krise in greifbare Nähe rückende Wahlsieg von Le Pen lässt viele Linke in eine Logik des „geringeren Übels“ verfallen oder dazu aufrufen, sich hinter allem zu versammeln, solange es nicht Le Pen ist. Diese Hysterie, die fast alle Teile der Linken in Österreich ergriffen hat, steht auch in Frankreich bevor, wo sich eine Situation abzeichnet, in der Le Pen gegen einen liberalen oder konservativen Befürworter der Spardiktatur in der Stichwahl enden könnte, was zu der paradoxen Situation führen könnte, dass Linke für Fillon oder Macron aufrufen.
In so einer Strategie ist die Niederlage der Arbeiterbewegung bereits angelegt. Was es braucht, sind nicht wahltaktische Zusammenschlüsse und das „geringere Übel“, sondern eine offene Kandidatur für die Arbeiterklasse. Derzeit ist dies die Plattform von Mélenchon. MarxistInnen der International Marxist Tendency, der auch der Funke angehört, unterstützen diese Kandidatur. Sie bringen sich in ihr ein, ohne gleichzeitig einen Hehl aus den angesprochenen Schwächen ihres Programms zu machen. Letztlich können die gesellschaftlichen Probleme in Frankreich wie bereits im revolutionären Jahr 1968 nur durch eine sozialistische Revolution gelöst werden, die wir bis zum Schluss fortführen müssen.