Der Fall der Sowjetunion und die Einführung des Kapitalismus in Russland werden gerne als „Befreiung“ und „Weg zur Gerechtigkeit“ dargestellt. In diesem Artikel wollen wir anhand der Beispiele Bildung und Medizin zeigen, wie 100 Jahre nach der Oktoberrevolution die Realität aussieht. Von Alexander Kalabekow
Der Sowjetunion gelang es, die Zerstörung des Zweiten Weltkriegs ohne Entwicklungshilfe in enormer Geschwindigkeit zu überwinden. Das war nur durch die verstaatlichte Planwirtschaft und dem kolossalen Einsatz der Bevölkerung möglich. Die industrielle Produktion verzeichnete immense Wachstumsraten. So betrug beispielsweise die Ölproduktion im Jahr 1945 gerade mal 19,4 Millionen Tonnen, gegenüber 603 Millionen Tonnen im Jahr 1980. Die Sowjetunion entwickelte sich in einer kurzen Zeitspanne zur Weltmacht und nahm in den Bereichen der Stahl-, Eisen-, Kohle-, Öl- und Gasproduktion global den ersten Platz ein.
In der Kinderbetreuung und dem Bildungswesen fanden in diesem Zeitraum enorme Verbesserungen statt. 1937 zählte Sowjetrussland 27.500 Kindergärten, 1990 waren es 87.900 mit über 9 Mio. Angestellten. 2013 betrug die Zahl der Kindergärten jedoch gerade noch 43.000 und die Zahl der Angestellten schrumpfte seit 1990 um knapp 3 Mio. In der Bildung wurde in der Sowjetunion Großes geleistet. Hatten 1917 etwa 40% der Bevölkerung die Schule besucht, so waren es ab den 60er Jahren ca. 99%. Auch eine qualitative Steigerung fand statt. Die Sowjetunion hatte 1980 mehr WissenschaftlerInnen als USA, Japan, Großbritannien und Deutschland zusammen. Ähnliches gilt für Ingenieure. So startete der erste Satellit der eine Weltumlaufbahn erreichte, sowie der erste Mensch im All, in der Sowjetunion. Im Zeitraum von 2000 bis 2016 alleine hat sich hingegen die Zahl der allgemeinbildenden Schulen von 68.100 auf 42.600 reduziert. Insbesondere in ländlichen Gegenden ist der Rückgang massiv.
In der medizinischen Versorgung sehen wir ähnliche Zahlen. So kamen in der russischen Sowjetrepublik im Jahr 1940 auf 10.000 Menschen 7,4 Ärzte. Die Rate erhöhte sich bis 1990 auf 45. Zu diesem Zeitpunkt gab es 2.037.600 Krankenhausbetten und Krankenhauspersonal in Höhe von 1.844.000 Personen. Auf 10.000 Menschen kamen 137 Betten. Außerdem machten Hausärzte in hohem Ausmaß Hausbesuche, was heutzutage kaum vorstellbar ist. 2016 gab es 680.900 Ärzte in Russland, das macht etwa 46 Ärzte auf 10.000 Menschen. Das zeugt nicht von einer Überlegenheit des Kapitalismus. Die Zahl der Krankenhausbetten beträgt 1.197.200, was 81,6 Betten auf 10.000 Menschen macht (vor 1990: 87). Dabei soll die Anzahl der öffentlichen Krankenhäuser bis 2018 weiter um 11% sinken. Dagegen boomen private Kliniken, die jedoch ungeheure Summen für ihre Behandlungen verlangen. Die Folge ist, dass die Ansteckungsrate mit AIDS steigt und auch andere Krankheiten wie z.B. Tuberkulose grassieren. Außerhalb großer Städte ist die Versorgung nur rudimentär. Dieser Vergleich bezeugt, dass der zentralen wirtschaftlichen Planung ein enormes Potential innewohnt, und dass der Kapitalismus nicht zu einer positiven Entwicklung geführt hat.
Fesseln bürokratischer Planung
Die Planwirtschaft war enorm erfolgreich, doch sie war nach dem Aufstieg Stalins an die Macht nicht demokratisch organisiert. Als die Sowjetunion nach der Revolution international isoliert blieb, erwuchs in dem rückständigen Land eine Bürokratie, die die demokratischen Anfänge der Revolution ausrottete. Demokratie sowie Planung und Kontrolle der Wirtschaft durch die Massen konnte die Bürokratie nicht dulden, da sie dadurch ihre gesellschaftliche Stellung samt Privilegien eingebüßt hätte. Deshalb erfolgte die Entwicklung der Produktivkräfte in der Sowjetunion unter enormer Korruption und fatalem Missmanagement durch die Bürokratie. In einer Gesellschaft, in der sich die gesamte Wirtschaft in den Händen des Staates befindet, wirken die Marktmechanismen nicht mehr. Die einzig mögliche Kontrolle, ist die bewusste Kontrolle durch die Massen in jeder Phase der Erstellung und Anwendung des Plans. Stattdessen wurde die Planung von oben herab bestimmt, was mit zunehmender Wirtschaftskraft immer untragbarer wurde. Ab den 1970er Jahren nahm das Wirtschaftswachstum verstärkt ab. In den 80er Jahren entbrannte ein heftiger Kampf innerhalb der Bürokratie. Aufgrund der miserablen wirtschaftlichen Leistung, sich verschlechternden Lebensverhältnissen der Massen und daraus resultierenden Unruhen und Aufbegehren von unten, entschieden sich Teile der Bürokratie für die Restauration des Kapitalismus. Um sich ihre Privilegien zu sichern, mussten sie Kapitalisten werden.
Mafiakapitalismus und sozialer Ruin
In einer Periode von etwa 20 Jahren erfolgte die Privatisierung der staatlichen Wirtschaft und Herausbildung neuer privater Unternehmen mit mafiösen Mitteln. Hohe Sowjetbürokraten und lumpenproletarische Kriminelle transformierten sich in Oligarchen, die die heutige Wirtschaft bestimmen. Mit dem endgültigen Fall der Sowjetunion entledigten sich diese Kriminellen jeglicher Fesseln, die die Planwirtschaft ihnen noch auferlegt hatten. Diese großen Monopole sind eng verbunden mit dem entstandenen bürgerlichen Staat. Wie in jedem kapitalistischen Land wird die Politik von den Interessen der nationalen Bourgeoisie diktiert, die in Russland mit Putin als Frontmann noch offensichtlicher auftritt, als in anderen Ländern. Putin stützt sich hauptsächlich auf die Polizei und das Militär, aber balanciert gleichzeitig zwischen den verschiedenen Klasseninteressen. Auf 1000 Bürger kommen 5,8 Angestellte des Ministeriums für Innere Angelegenheiten gegenüber 2.1 in der UdSSR. Der repressive Apparat ist also gewachsen. In Russland herrscht heute eine der größten Scheren zwischen Arm und Reich vor. 2/3 des gesellschaftlichen Reichtums ist in den Händen von Millionären und 26% in den Händen von Milliardären. Die oberen 10% beherrschen 87% des Finanzvermögens privater Haushalte.
Unser Vergleich bezeugt, dass die kapitalistische Restauration Russland seit 1990 nicht mehr Freiheit, soziale Gerechtigkeit und weniger Repression gebracht hat – im Gegenteil. Die Erfolge der staatlichen Planwirtschaft der Vergangenheit zeigen, welch gigantisches Potential sie in sich trägt, umso mehr, wenn sie demokratisch gestaltet ist. Heute ist dank des technischen Fortschrittes und der gegebenen Klassenverhältnisse – die Arbeiterklasse ist global größer denn je – für eine bürokratische Degeneration nach der Revolution, wie sie in der Sowjetunion eingetreten ist, kaum Spielraum. Mehr denn je beweist der Kapitalismus gerade, dass er keinen Weg nach vorne bietet. Deshalb kämpfen wir für einen demokratischen, internationalen Sozialismus – das ist keine Utopie, sondern unsere Zukunft.