Die Parlamentswahlen vom 4. März kamen einem politischen Erdbeben gleich. Im Zuge der Regierungsbildung hat sich die tiefe politische Krise in Italien noch einmal gewaltig verschärft.
Anm. der Redaktion: Dieser Artikel wurde am Dienstag, den 29. Mai von unserer Schwesterströmung in Italien (Sinistra, Classe, Rivoluzione) veröffentlicht, nachdem durch die Intervention des Staatspräsidenten Mattarella eine Regierungsbildung zwischen der „Fünf-Sterne-Bewegung“ (Movimento 5 Stelle, M5S) und der Rechtaußenpartei „Lega“ von Matteo Salvini scheiterte. Heute wurde nach einer erneuten 180° Kehrwende unter dem massiven Druck des Kapitals („der Märkte“) auf die Akteure, das unter allen Umständen stabile Verhältnisse braucht, doch eine leicht veränderte, reguläre Regierung der M5S-Lega angelobt, die die schärfsten „antieuropäischen“ Ecken abgeschliffen hat, der umstrittene Savona wird nicht Wirtschaftsminister, sondern „Europaminister“ und damit öffentlich kaltgestellt. Die grundlegenden Aussagen des Artikels bewahren aber trotz dieser neuen Entwicklungen ihre Gültigkeit.
Alles sah bereits nach einer Koalitionsregierung zwischen der M5S, die bei den Wahlen stimmenstärkste Kraft geworden war, und der „Lega“ unter Matteo Salvini aus. Doch dann weigerte sich Staatspräsident Sergio Mattarella, den vorgeschlagenen Wirtschaftsminister aufgrund seiner kritischen Haltung zur EU zu akzeptieren, worauf die Koalition aus Lega und M5S nicht gewillt war, die Regierung zu übernehmen. Mattarella beauftragte daraufhin den ehemaligen IWF (Internationaler Währungsfonds)-Mann Carlo Cottarelli mit der Bildung einer „neutralen Regierung“, wie er es nannte.
Diese Kehrwende hat aus heiterem Himmel heraus stattgefunden und kann nicht vollständig durch parlamentarische taktische Spielchen erklärt werden. Salvini hat ohne Zweifel viel Bauchweh bei der Koalition mit dem M5S gehabt und glaubte, dass er von Neuwahlen profitieren könnte. Staatspräsident Matarella hatte Angst davor, dass eine Lega-M5S Koalition das nächste Staatsbudget erstellen könnte. Indem er Paolo Savona als Minister ablehnte, brachte Matarella erfolgreich die Idee einer „neutralen Regierung“ wieder auf die Tagesordnung, die er schon vor einigen Wochen erfolglos vorgeschlagen hatte.
Aber diese Berechnungen sind auf sehr wackeligen Prämissen aufgebaut. Sogar die sogenannten „starken Mächte“ (der ernsthafte Flügel des italienischen Kapitalismus) sind besorgt über die Auswirkungen von Matarellas Handlungen. Confindustria (die italienische Industriellenvereinigung) hatte sich schon darauf eingestellt, eine Beziehung mit der gelb-grünen (Lega-M5S)- Koalition aufzubauen; eine Beziehung die sicher nicht idyllisch gewesen wäre, aber in der die italienischen KapitalistInnen pragmatisch damit gerechnet haben ihre Interessen durchzusetzen. Sogar der französische Präsident Macron – ein Stützpfeiler der liberalen und pro-europäischen Orthodoxie – hatte schon ein informelles Telefonat mit dem designierten Ministerpräsidenten Conte getätigt, in dem er eine Zusammenarbeit auf europäischer Ebene vorschlug.
Es entscheiden „die Märkte“
Die Perspektive einer Regierung Lega-M5S hatte die traditionelle Linke tief empört. Aber Millionen ItalienerInnen warteten - mit mehr oder weniger großen Erwartungen - gespannt darauf, ob nun tatsächlich ein Bruch mit der Politik des uneingeschränkten Spardiktats folgen würde und zumindest ein paar Verbesserungen bei den Pensionen, bei den Schulen und bei der Armutsbekämpfung gemacht würden und die Sparpolitik der letzten 10 Jahre rückgängig gemacht werden würde.
Waren diese Hoffnungen fehlgeleitet? Auf jeden Fall. Wären (und werden) diese Hoffnungen für reaktionäre Ziele, insbesondere der Lega instrumentalisiert worden? Auch daran besteht kein Zweifel. Aber es ist eine Tatsache, dass Millionen am 4. März gewählt haben in der Hoffnung, damit einen Beitrag zu leisten, dass die eigenen Lebensverhältnisse verbessert werden. Und das Ganze aus der berechtigten Überzeugung heraus, dass die Demokratische Partei und die Forza Italia, also die zentralen Regierungsparteien der letzten zwei Jahrzehnte abgewählt gehören, damit sich etwas ändern könne.
Vor dieser hoffnungsvollen Stimmung hat die herrschende Klasse Angst. Niemand hatte ernsthaft geglaubt, dass der Euro-Skeptiker Paolo Savona als Wirtschaftsminister den Euro zum Einsturz gebracht hätte. Wovor sie Angst haben, sind die „unvernünftigen Hoffnungen“ von Millionen, die im letzten Jahrzehnt der Krise eine Verschlechterung der eigenen Lebensverhältnisse gesehen haben, und keine Perspektive haben, dass sich etwas zum Besseren entwickeln könnte. Für diese Damen und Herren ist das „Volk“ nur dann genehm, so lange es die eigenen Bedingungen hinnimmt ohne zu protestieren und ohne sich aufzulehnen, so lange es für die „richtigen“ Parteien wählt. Andernfalls wird es umgehend als ignorante Masse dargestellt, die den populistischen Demagogen nur allzu leicht auf den Leim geht.Als der Staatspräsident am 27. Mai gegen Savona Veto eingelegt hat, war seine Botschaft voll von Arroganz und Heuchelei, aber in einem Punkt glasklar: Es entscheiden „die Märkte“, sprich das Finanzkapital. Es entscheiden die Zinsen auf Staatsschulden. Es entscheidet die EU. Ich entscheide in deren Namen, und ihr habt das zu akzeptieren.
Es verwundert uns nicht, dass sich der Großteil der Linken sofort vor Mattarella auf die Knie geworfen und dessen Vorgangsweise als verfassungskonform gerechtfertigt hat. Ja, es stimmt! Mattarella hat auf der Grundlage der Verfassung und der Gesetze gehandelt. Und jetzt warten wir auf die nächsten Lehrstunden von unseren verschiedensten linken „Verfassungs-Freunden“ die, seitdem der damalige Ministerpräsident Renzi 2016 sein Verfassungsreferendum verloren hatte, Italiens Verfassung regelmäßig als die „beste der Welt“ bezeichnen. Für sie ist es nur eine Frage ihrer „Umsetzung“. Diese Verfassungsfetischisten verbreiten diese Idiotien in der Linken seit Jahren. Sie alle sollten ein Jahr lang in einen Raum eingesperrt werden, wo sie der Nachricht von Matarella zuhören müssen und 100 Mal am Tag die wichtigen und einfache Erkenntnis des größten Revolutionärs des letzten Jahrhunderts abschreiben müssen: „Die Macht des Kapitals ist alles, die Börse ist alles, das Parlament, die Wahlen, das sind Marionetten, Drahtpuppen“. Lenin, „über den Staat“, Juli 1919.
Das gilt nicht nur für die „matarellistische“ Linke, die aus den Führern der „Liberi e Uguali“ (Frei und Gleich)- Koalition (einer kleinen sozialdemokratischen Parlamentsgruppe) und dem Vorsitzenden des CGIL-Gewerkschaftsdachverbandes besteht. Auch die sogenannte „radikale Linke“ des „Potere al Popolo“ (Die Macht dem Volk)- Wahlbündnisses und andere, die Mattarella für seine Vorgangsweise kritisieren, argumentieren im Namen der „Verfassung und der Demokratie“. Das gilt auch für die Führung der Metallergewerkschaft FIOM, die sich zwar nicht offen trauten zu sagen, dass sie auf der Seite von Matarella stehen würden, aber Wachsweich argumentierten, indem sie sagten dass „Balance und Gewaltenteilung entscheiden für die demokratische Stabilität des Landes“ seien.
Die Auseinandersetzung um den Euro
Die Intervention von Mattarella hat unmittelbar die Frage des Euros und der Zukunft der EU in das Zentrum der politischen Debatte gerückt. Das ist ein Fakt, und wir müssen versuchen, die Gründe dafür auszumachen.
Die EU steckt in einer tiefen Krise. Die Banken- und Staatsschuldenkrise wurde mittels der Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) und ihres Präsidenten Mario Draghi vorerst nur betäubt. Die Geldmärkte wurden mithilfe einer Nullzinspolitik und massiven Ankäufen von öffentlichen und privaten Wertpapieren erweitert. Doch diese Maßnahmen können nicht ins Unendliche angewandt werden, schon gar nicht angesichts der Tatsache, dass in den USA zusehends ein gegenteiliger Kurs gefahren wird. Das Mandat von Draghi nähert sich seinem Ende, und immer häufiger ist zu hören, dass Deutschland einen Nachfolger bevorzugen wird, der eine nicht so expansive Geldpolitik verfolgen wird.
Die Krise der Eurozone ist mittlerweile von der wirtschaftlichen Ebene auf die politische verschoben worden. Die EU-freundlichen Parteien tun sich schwer, Zustimmung bei der Wählerschaft zu bekommen. Es wird immer offensichtlicher, dass die einzelnen Mitgliedsstaaten der EU unterschiedliche Interessen verfolgen, die Widersprüche in der EU werden eher mehr als weniger, und es ist weder in der Frage der Banken, der Außenpolitik noch der Migrations- und Flüchtlingspolitik eine europäische Lösung in Sicht.
Die Vorgangsweise von Mattarella erscheint nachvollziehbarer, wenn wir von der Hypothese ausgehen, dass ein beträchtlicher Teil der herrschenden Klasse und seiner Vertreter nicht aus Angst vor Luigi Di Maio (Vorsitzender M5S) oder Paolo Savona gehandelt haben (machen wir uns nichts vor!); sondern stattdessen zu dem Entschluss gekommen ist, dass dieses prekäre Gleichgewicht, was die italienische Staatsverschuldung und Bankenkrise anlangt, im Fall einer Regierung aus Lega und M5S nicht mehr zu halten gewesen wäre.
Wenn dem so ist, und wir halten diese These für durchaus legitim, dann kann das nur bedeuten, dass wir vor einem qualitativen Sprung in der Krise des bürgerlichen politischen Systems in Italien und in Europa stehen.
Carlo Cottarelli ist ein Mann, der das Vertrauen des Kapitals, des IWF und der sogenannten “Märkte” genießt. Aber er würde der am Wenigsten repräsentativen Regierung in der Geschichte der italienischen Politik vorstehen. Selbst die Führung der Demokratischen Partei hat großes Bauchweh angesichts der wenig verlockenden Perspektive, als einzige Partei, die diese Regierung stützt, den nächsten Wahlkampf bestreiten zu müssen. Denn der Ministerpräsident dieser Regierung hat auf seiner Visitenkarte eingraviert: „ ehemaliger Mitarbeiter von Mario Monti – Spezialist in Einsparungen im Sozialbereich“.
Gewiss, man wird sich allerlei einfallen lassen, um nicht sofort wieder Wahlen ausrufen zu müssen, und Di Maio, der Parteichef der M5S scheint auch bereit sein, bei diesen parlamentarischen Spielchen mitzumachen. Sowohl seine Forderung, dass die parlamentarischen Ausschüsse zu arbeiten beginnen sollen, wie auch die Frage eines Amtsenthebungsverfahrens gegen den Staatspräsidenten (was einer Auflösung des Parlaments widerspricht) laufen darauf hinaus, dass die Führung der M5S, der stärksten Partei im Parlament, keine Neuwahlen will. Ihr Vorsitzender Di Maio wählt seine Worte nach dem Schlag ins Gesicht, den er gerade erst erhalten hat, sehr vorsichtig: „Wir werden Veranstaltungen in den größten italienischen Städten organisieren, Spaziergänge, symbolische Gesten, alles was friedlich getan werden kann um unser Recht zu betonen, unsere Zukunft bestimmen zu dürfen. Am 2. Juni, dem tag der Republik lade ich alle ein, nach Rom zu kommen.“
Spaziergänge und symbolische Aktionen…, dass sind die vorgeschlagenen Maßnahmen des Vorsitzenden der größten Partei, einen Tag, nachdem man verhindert hat, dass er eine Regierung bildet! Außerdem hat er laut und deutlich festgestellt, dass er und der von ihm bevorzugte zukünftige Wirtschaftsminister niemals die Absicht haben würden, Italien aus der Euro-Zone zu führen.
All das beweist, dass die Hoffnungen, die wie oben beschrieben in der Bevölkerung vorhanden sind, in der Realität auch Di Maio schrecken. Mit populistischer Politik Stimmen zu maximieren ist das eine, etwas ganz anderes ist es aber, die Massen auf der Straße im Kampf gegen die Herren dieses Systems zu mobilisieren.
Die Aufgaben der klassenbezogenen Linken
Seit den Parlamentswahlen Anfang März haben wir eine Reihe von Knalleffekten gesehen, und es wäre falsch, sich groß Gedanken darüber zu machen, welche Blüten diese politische Krise noch hervorbringen wird. Wir sollten uns vielmehr auf die grundlegenden Fakten und vor allem auf unsere eigenen Aufgaben in dieser Situation konzentrieren.
Die nächsten Wahlen, wann immer sie auch sein mögen, werden den Charakter eines Referendums über die EU und den Euro haben, dafür hat die Intervention von Mattarella gesorgt. Der Präsident der italienischen Industriellenvereinigung Confindustria Boccia hat bereits erklärt, dass ein Ausstieg aus dem Euro „undenkbar“ sei und das „Ende der italienischen Wirtschaft“ darstellen würde. Diese Herren werden alles unternehmen, um die Wählerschaft zu verunsichern und zu erpressen, indem sie eine soziale und wirtschaftliche Katastrophe an die Wand malen, sollten die „europafreundlichen Parteien“ nicht gewinnen. Und es ist kein Zufall, dass sich gerade Matteo Renzi von der Demokratischen Partei als einer der Führer dieser Richtung in Szene setzt.
Die Linke hat sich in diesen Tagen einmal mehr den Herausforderungen nicht gewachsen gezeigt. Das gilt nicht zuletzt für die Führung des Gewerkschaftsverbandes CGIL und der FIOM, die sich mehr oder weniger deutlich hinter die Entscheidung von Mattarella gestellt und damit gezeigt haben, dass sie völlig losgelöst von der Lebensrealität der Arbeiterschaft und selbst der Gewerkschaftsbasis agieren. Das Wahlergebnis vom 4. März ist für sie ein Buch mit sieben Siegeln, und sie sehen keine andere Option, als sich hinter die staatlichen Institutionen und die Confindustria zu stellen. Aus diesem Eck ist keine politisch vernünftige Initiative zu erwarten. Dies gilt auch für die politischen Kräfte, die in einem Naheverhältnis zur Gewerkschaftsbürokratie stehen, wie die LeU.
Es wird gewiss nicht einfach, in einer politischen Auseinandersetzung, wie sie nun zu erwarten ist und die noch polarisierter sein wird als rund um die Parlamentswahlen im März, einen Klassenstandpunkt zu vertreten und diesen öffentlich sichtbar zu machen. Doch es gibt keine Abkürzungen, die an diesem Hindernis vorbeiführen. Eine Linke, die die zentrale Bedeutung der Arbeiterklasse versteht, benötigt eine klare und unmissverständliche Position, wenn sie in diesem Wettstreit teilhaben will. Die Forderung nach einem Bruch mit der EU und dem Euro muss dabei Teil eines jeden Programmes sein, das die Absicht verfolgt, ernsthaft die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse, der Pensionisten, der Arbeitslosen und der Jugend zu verteidigen.
Hier sind jetzt all die Kräfte in der Linken gefragt, die bislang versucht haben, in dieser Frage wortreich einen Kompromiss zu finden zwischen jenen, die eine „Reform der europäischen Verträge“ vorschlagen, jenen, die einen „Bruch“ mit den Verträgen (was in der Realität eine Neuverhandlung der kapitalistischen EU bedeuten würde) wollen und jenen, die eine souveränistische Position vertreten [d.H. eine Position, auf Basis eines „nationalen Kapitalismus“ die EU zu verlassen und die Lira wieder einzuführen]. Gemeint sind damit die Rifondazione comunista, Potere al Popolo, De Magistris (der Bürgermeister von Neapel) usw.
Klarheit in dieser Frage ist das Um und Auf für einen politischen und ideologischen Bruch mit allen Strömungen der reformistischen Linken, die in letzter Instanz zu den Hauptverantwortlichen zählen, dass es überhaupt zu dieser Situation gekommen ist.
Die Art, wie sich diese politische Krise vertieft, zeigt auf ganz besondere Weise, wie verrottet das gesamte System in Wirklichkeit ist. Die Delegitimierung der politischen Institutionen ist ein Ausdruck dafür, dass die herrschende Klasse immer größere Probleme hat, die Kontrolle über das politische System zu behalten.
Millionen Menschen haben einen Ausweg aus dieser Situation gesucht, in dem sie Parteien wählten, die eine “Veränderung” versprachen. Seit Jahren erleben wir eine Akkumulation des Zorns, einen wachsenden Wunsch nach Veränderung in den am meisten ausgebeuteten Schichten der Bevölkerung. Innerhalb dieses Systems gibt es aber keinen Ausweg für sie. Früher oder später wird sich diese Stimmung nicht mehr nur an der Wahlurne, sondern auch in Massenmobilisierungen auf der Straße entladen.
Nur wenn wir in diese Perspektive investieren, ist es möglich eine starke Linke mit Verankerung in der Arbeiterklasse, eine Partei der ArbeiterInnen und aller Ausgebeuteten wiederaufzubauen, die imstande ist eine Alternative zum Populismus aufzuzeigen und einen Ausweg aus der Sackgasse zu weisen, in der dieses politische und wirtschaftliche System steckt.