Frankreich. 8400 Verhaftungen, tausende Verletzte, mehrere Tote. So lautet die Bilanz der Repression gegen die nun dreimonatige Gelbwestenbewegung in der demokratischen Musternation Frankreich. Willy Hämmerle berichtet.
Die Venezolaner haben das Recht, sich frei und demokratisch Ausdruck zu verschaffen“, twitterte der französische Präsident Macron Anfang Februar. Dieses Vorrecht scheint aber nur denjenigen vorbehalten zu sein, die gerade einen von den USA angestifteten Putschversuch unterstützen. Die Gelbwesten in Frankreich haben leider keine Imperialmacht hinter sich stehen und müssen sich mit etwas weniger Freiheit und Demokratie zufriedengeben.
Bereits im letzten Jahr ging die Polizei mit äußerster Härte gegen die Gelbwesten vor und machte auch vor SchülerInnen (wir berichteten im Funke Nr. 169 S. 11) keinen Halt. Mittlerweile verschärfte sich das Vorgehen noch weiter, der Einsatz von Hartgummigeschossen zwang sogar schon die Menschenrechtskommissarin des Europarats dazu, ihre „ernsthafte Besorgnis“ zu erklären.
Innen- und Gesundheitsministerium weigerten sich lange beharrlich, Zahlen zu Verletzungen und Verhaftungen zu präsentieren. Ende Jänner wurde jedoch eine erste Bilanz präsentiert: 1700 Verletzte sollen es gewesen sein, davon 50 schwer. Alleine die Recherchegruppe „Désarmons-les!“ (Entwaffnen wir sie!) führt aber schon 127 Fälle von Schwerverletzten bis Ende Jänner auf. Darunter befinden sich vier Menschen, denen eine Hand abgerissen wurde und zwanzig, die ein Auge verloren haben. Insgesamt ist von 186 Menschen bekannt, dass sie von Gummigeschossen, die verbotenerweise oft auf Kopfhöhe abgefeuert werden, im Gesicht getroffen wurden. Tatsächlich müssen die offiziellen Zahlen also stark untertrieben sein.
Macron selbst bedauert elf Tote, die aber Opfer „menschlicher Dummheit“ gewesen seien, und nicht der Ordnungsgewalt. Wir können nur spekulieren, wer im Fall der 80-Jährigen Zineb Redouane aus Marseille, die starb, nachdem eine Tränengasgranate in ihre Wohnung geschossen wurde, der Dumme war.
Anfang Februar verwandelte das Parlament die Versammlungsfreiheit von einem demokratischen Grundrecht zu einem Zugeständnis der Polizei. Diese soll ab nun einfach so Demonstrationsverbote aussprechen können, auch ohne richterliche Anordnung. Bei Nichtbefolgung drohen sechs Monate Haft und Geldstrafen bis zu 7500 Euro. Schon vor der Verabschiedung dieses Gesetzes nahmen die Behörden 8400 Festnahmen vor, von denen 1800 bereits verurteilt worden sind. Weitere 316 befanden sich Mitte Februar in Untersuchungshaft. Die Anklagegründe lauten häufig „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ oder „Durchführung einer unangemeldeten Spontandemonstration“.
Die staatliche Tollwut reicht bis ins Absurde. In Paris wurde während einer Gelbwestendemo ein Bäcker verhaftet und zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt, nachdem er einem bewaffneten Zivilpolizisten den Zutritt zu seinem Lokal verweigerte. Und ein Skandal um Alexandre Benalla schafft es auch immer wieder in die Zeitungen. Dieser machte sich einen Spaß daraus, eine Polizeiuniform anzuziehen und letztes Jahr am 1. Mai auf TeilnehmerInnen einer Kundgebung einzudreschen. Benalla, der zu diesem Zeitpunkt Sicherheitschef und persönlicher Leibwächter von Macron war, wurde dabei neben gelangweilt zusehenden Polizisten gefilmt und, obwohl das Filmmaterial in Regierungskreisen bekannt war, erst zwei Monate später entlassen, nachdem es den Medien zugespielt wurde. Während in diesem Fall noch verhandelt wird, wurden in der Zwischenzeit zwei seiner Opfer zu Geld- und Bewährungsstrafen verurteilt – wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt.
Trotz allem denken die Gelbwesten nicht daran aufzuhören. Aller Versuche des Innenministeriums zum Trotz, sinkende Teilnehmerzahlen und den Schein einer abflauenden Bewegung zu konstruieren, strömen noch immer jeden Samstag mehr als 100.000 Menschen im ganzen Land auf die Straßen. Die bisherigen Zugeständnisse, die brutale Repression und alle „Gesprächsangebote“ führten allesamt nicht zum erhofften Rückgang, weder in der Anzahl der Teilnehmenden, noch in ihrem Ansehen in der Gesamtbevölkerung.
Stattdessen zieht eine Mehrheit der Gelbwesten nach drei Monaten permanenter Mobilisierung den Schluss, dass es nicht ausreicht, jedes Wochenende demonstrieren zu gehen. Der Gedanke, dass die Bewegung nur nach vorne gehen kann, wenn sie sich auf die Betriebe ausweitet, verankert sich immer stärker. Als die Gewerkschaft CGT verkündete, dass am 5. Februar (ein Dienstag) ein Aktions- und Streiktag stattfinden soll, wurden Rufe nach einem Generalstreik laut und viele lokale Gelbwestengruppen riefen dazu auf, sich an den Streiks zu beteiligen. Die „Versammlung der Versammlungen“, eine Konferenz von Gelbwestenvertretern aus dem ganzen Land, die sich Ende Jänner in der Kleinstadt Commercy versammelten, hielt fest: „Wir rufen dazu auf, am 5. Februar eine massive, unbefristete Streikbewegung zu beginnen.“
Obwohl die Mobilisierung ein eindrucksvoller Erfolg war (die CGT spricht von ca. 300.000 Teilnehmenden im ganzen Land) wurde dieses Ziel nicht erreicht. Zwar drängt alles zu einem Generalstreik, aber so einer kann nicht einfach verkündet werden, er muss auch praktisch organisiert werden und braucht die breiteste Einbindung der Teilnehmenden. Die Frage nach einer Führung der Arbeiterbewegung, die tatsächlich die Bewegung nach vorne treibt, anstatt bei allen Fragen zu bremsen und einen Kompromiss zu suchen (insbesondere im Falle der CGT), drängt somit immer mehr in den Vordergrund. So wird beim CGT-Gewerkschaftskongress im Mai zum ersten Mal seit langem eine organisierte linke Opposition auftreten.
Eine tiefgehendere Organisierung der Bewegung ist aber bisher nur ein Randphänomen. Diese Schwäche erlaubt es auch zufälligen Akteuren so zu tun, als würden sie für die Bewegung sprechen. So jemand ist auch Christophe Chalençon, ein rechter Nationalist, der unter anderem von einem Militärputsch träumt und deshalb gerne von den bürgerlichen Medien zum Interview gebeten wird, um die Gelbwesten als Ganzes zu diskreditieren. Er und andere stehen zwar unter heftiger Kritik aus der Bewegung, solange aber aufgrund mangelnder Organisierung das Vakuum an der Spitze bestehen bleibt, fällt es ihnen leicht, sich als „Führer“ der Bewegung zu stilisieren.
Eine vereinte Gelbwestenbewegung, mit Versammlungen auf allen Ebenen, einem zielgerichteten Aktionsplan und einer demokratisch gewählten Führung, die diesen umsetzen kann, würde nicht nur schnell mit denen fertig werden, die sich an ihre Spitze geschwindelt haben. So einer Bewegung könnten auch Macron und alle Polizeigewalt der Welt nichts entgegensetzen.
(Funke Nr. 171/März 2019)