Die EU-Wahl ist geschlagen und damit ein für die KapitalistInnen Europas nicht unwichtiger Moment, der über die Stabilität ihrer EU mitentscheidet und damit auch darüber, wie handlungsfähig die EU in einer kommenden Wirtschaftskrise und im globalen Handelskrieg dasteht. Von Yola Kipcak.
Es wurden wochenlang die Werbetrommeln gerührt, um die Bedeutung der Wahl in die Köpfe aller EU-BürgerInnen zu klopfen. Die Wahlbeteiligung stieg in vielen EU-Mitgliedsstaaten – auch in Österreich ist sie mit 59 Prozent um 13 Prozent höher als das letzte Mal. Damit ist aus der Sicht des Kapitals zumindest ein wichtiges Ziel erreicht: die gesteigerte Legitimität der EU und ihrer Institutionen.
Wirkliche Illusionen machen sich jedoch nicht viele Menschen über die EU – immerhin 60 Prozent1 der österreichischen WählerInnen finden, dass es in der EU vor allem um die Interessen der großen Unternehmen geht, und dass die sozialen Anliegen dort keine Rolle spielen. Insgesamt 62 Prozent wollten in der Wahl daher auch ein innenpolitisches Zeichen setzen.
Die (ehemaligen) Koalitionsparteien
In Österreich gelang es Sebastian Kurz sich als unangefochtener Führer der Bürgerlichen und als Sieger zu etablieren - die ÖVP-WählerInnen nannten ihn als drittwichtigsten Wahlgrund, obwohl er keinen EU-Listenplatz hatte. Vom Kapital massiv unterstützt, verkörpert Sebastian Kurz die „Stabilität“ in unsicheren Zeiten und signalisiert gleichzeitig, dass mit ihm als Politik-Macher zumindest ‚irgendwas‘ weitergeht. Dies ergab 34,6 Prozent, ein Plus sowohl gegenüber der letzten EU-Wahl (plus 7,6 Prozent) als auch in Plus gegenüber der Nationalratswahl von 2017 (plus 2,5 Prozent).
Die brodelnde Unzufriedenheit in der Bevölkerung fand ihren Ausdruck abermals – bei der FPÖ. Der ehemalige Minderheitenpartner der Bürgerblockregierung machte eine lupenreine bürgerliche Politik, deren asozialer Inhalt von einem wichtigen Teil ihrer Wählerschaft - der Arbeiterklasse und den Armen – noch nicht als solcher begriffen wird. Auch dank Ibiza konnte die FPÖ sich demagogisch als Opfer einer Elitenverschwörung präsentieren und ihre WählerInnen haben generell kein positives Bild von Politik: zwei Drittel der FPÖ-WählerInnen finden, dass Parteien sowieso nur Stimmen wollen und sich für die Wähler nicht interessieren; 80 Prozent finden die EU-Mitgliedschaft schlecht und 68 Prozent denken, dass sich die EU in den letzten Jahren negativ entwickelt hat. Und mit dieser nüchternen Haltung auf die politische Realität entschieden sie sich für die FPÖ, die 17 Prozent erreichte, und zwar wegen ihrer Arbeit in Österreich (für 15 Prozent der Hauptwahlgrund) oder als Protest gegen die EU (13 Prozent).
Und Ibiza?
Der Ibiza-Skandal wurde von den Medien als entscheidend für die EU-Wahl aufgebauscht und ein mögliches Ende der „Populisten“ erträumt. Tatsächlich gaben laut SORA-Umfrage auch ca. ein Viertel der Wahlberechtigten an, dass die Regierungskrise für ihre Wahlentscheidung eine Rolle gespielt hat.
Doch in den Wahlergebnissen machte das real kaum einen Unterschied: 8 Prozent gingen deshalb doch wählen, 9 Prozent blieben deshalb daheim und 7 Prozent wählten deshalb eine andere Partei – was aber keineswegs heißt, dass diese 7 Prozent zulasten den FPÖ gingen. Denn 8 Prozent der FPÖ-WählerInnen machten gerade wegen des Videos ihr Kreuz bei der FPÖ. Und HC Strache bekam von über 37.000 WählerInnen „jetzt erst recht“ eine Vorzugsstimme – was ihn vom 42. auf den ersten Listenplatz bringt.
Die Rechtspopulisten sind also keinesfalls nachhaltig geschwächt aus dieser Wahl hervorgegangen – auch nicht gesamteuropäisch. Dennoch konnte ein weiteres wichtiges Ziel des Großkapitals erreicht werden: Der gesamteuropäische Verlust der großkoalitionären Fraktionen (Europäische Volkspartei und Sozialisten&Demokraten) wurde erfolgreich vom liberalen Lager aufgefangen, mit einem guten Ergebnis der Grünen und der neoliberalen ALDE (in Österreich NEOS). Auch in Österreich sahen wir ein Grünen-Revival. Sie profitierten zweifelsohne von den Klimaprotesten, wurden aber auch von mehr als der Hälfte ihrer WählerInnen als Bollwerk gegen die „nationalistischen Kräfte in Europa“ gesehen – die SPÖ konnte hiermit ganz offensichtlich nicht punkten.
Kraftlose SP
Man sollte meinen, dass nach einer schwarz-blauen Regierungskrise die Oppositionsparteien gut aussteigen. Und immerhin: Was die Menschen in Diskussionen über die EU-Wahl am meisten beschäftigte waren gleichermaßen Sozialpolitik, Umwelt- und Klimaschutz, Zuwanderung und das Erstarken von nationalistischen Kräften in Europa. Alles Themen, die die SPÖ im EU-Wahlkampf aufgriff … und dabei völlig unglaubwürdig blieb.
Von allen im EU-Parlament vertretenen Parteien hat die SPÖ die schlechtesten Werte, was „Glaubwürdigkeit, um die Missstände der EU zu kontrollieren“ betrifft; ihr Spitzenkandidat weckte keinen Enthusiasmus und null Vertrauen, dass er tatsächlich ein wirksames Werkzeug gegen die Konzerne sei. Von denjenigen, die Umfrageinstitute als „Arbeiter“ kategorisieren, wählten Dreiviertel lieber die bürgerlichen Parteien ÖVP und die FPÖ, als die SPÖ (17 Prozent) – was ein unterdurchschnittlich niedriger Wert ist. Nur in den engsten Kreisen in bzw. rund um die Partei und in den gewerkschaftlichen Strukturen konnten die sozialdemokratischen KandidatInnen eine minimale Strahlkraft entwickeln.
… bis auf Julia Herr
Allein die Kandidatin Julia Herr, Vorsitzende der Sozialistischen Jugend, entwickelte in der größeren Öffentlichkeit ein klares politisches Profil. Unter anderem fand ihre (wenn auch zögerlich vorgebrachte) Forderung nach Verstaatlichungen ein großes Echo in Medien und Öffentlichkeit. Vor allem die schnelle Reaktion der Sozialistischen Jugend auf die Regierungskrise kam ihr zugute. Julia Herr war die Erste die am 18.5. zur Demo am Ballhausplatz aufrief und dort klar Stellung gegen die „Regierung der Reichen“ bezog. In den darauffolgenden Tagen, in denen zentrale Parteiapparat der SPÖ an der Linie der „Stabilität“ festhielt, positionierte auch sie sich vier Tage lang nicht öffentlich für den Misstrauensantrag, schwenkte dann jedoch als eine der Ersten auf diese Linie ein. Die Dynamik der Sozialistischen Jugend, die ein klares antikapitalistisches und anti-schwarz-blau Selbstverständnis hat, ließ ihr keine andere Möglichkeit. Aufgrund dieser Positionierungen war eine Vorzugstimme für Julia Herr die deutlichste Möglichkeit für eine klassenkämpferische Option an den Urnen zu stimmen. Allein in Wien haben über 9.400 WählerInnen eine Vorzugsstimme an sie vergeben. Das sind mehr als die gesammelten Stimmen von KPÖplus (8470).
[1] Sämtliche Umfragedaten stammen von SORA
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