Das Theater um den Brexit ist instabiler als je zuvor. Parlament, Medien und der Staatsapparat befinden sich im permanenten Krisenzustand und nur ein Akteur kommt nicht zu Wort: die Arbeiterklasse. Willy Hämmerle berichtet.

 

Boris Johnsons Kampagne, mit der er von nicht einmal 100.000 Mitgliedern der konservativen Tory Party zum neuen Vorsitzenden (und damit zum neuen Premierminister) gewählt wurde, bestand nur aus einem Thema: Brexit, so schnell wie möglich und um jeden Preis (siehe Funke Nr. 176: "Establishment auf der Intensivstation")

No-Deal-Brexit

Aber dieses Ziel, das den Interessen des britischen Kapitals (dieses braucht zumindest einen geregelten Ausstieg aus der EU) völlig entgegensteht, ist über die „üblichen Kanäle“ nicht zu realisieren. Bis auf eine fanatische Minderheit in den Reihen der Tories, die einen No-Deal-Brexit ohne Abkommen mit der EU durchboxen wollen, kann er nicht auf die Unterstützung des britischen Parlaments zählen. Dieses ist sich allerdings auch nur in dieser speziellen Frage einig. Darüber hinaus gibt es zwar einiges an Geschwätz, in Wirklichkeit herrscht aber seit Monaten der Stillstand – in keiner relevanten Frage konnte bisher irgendein Fortschritt erzielt werden. Stattdessen wurde der Brexit nur immer weiter aufgeschoben, zuletzt bis zum 31. Oktober.

Im Angesicht eines immer realistischer werdenden No-Deal-Szenarios wurde jedoch vor allem die Möglichkeit einer parteiübergreifenden Allianz gegen einen solchen Brexit immer konkreter diskutiert. Auch die Frage nach einem zweiten Referendum, um möglicherweise sogar einen Verbleib in der EU zu erreichen, wird immer wieder aufgeworfen. Aber diese wackelige Koalition aus moderaten „Rebellen“ der konservativen Partei, den liberalen Parteien und einiger rechter Labour Abgeordneter hat ein Problem – der Oppositionsführer und Labour-Chef heißt immer noch Jeremy Corbyn.

Dieser bot nämlich sogar an, eine Übergangsregierung zu leiten, die zuerst einen weiteren Aufschub des Brexits und danach sofortige Neuwahlen erwirken soll. Doch kaum war das Angebot ausgesprochen, zeigte sich das wahre Gesicht der andren Parteien. Die einen (SNP, Grüne) stimmten zwar zähneknirschend zu, aber für die Liberal Democrats und die „Unabhängigen“ (eine rechte Abspaltung der Labour Partei) ist die Aussicht eines Premierministers Corbyn, selbst für ein paar Wochen, schon zu viel. Denn: Im Gegensatz zu den meisten anderen ParlamentarierInnen vertritt Corbyn nicht nur seine eigenen Interessen, oder die seiner Geldgeber, sondern hat hinter sich eine linke Labour-Basis, die zuletzt den Grundsatz des kollektiven Eigentums wieder mehrheitlich unterstützt (siehe Artikel zu Clause IV). Sich auf einen Premierminister Corbyn einzulassen, bedeutet gleichzeitig auch, an dieses potenzielle Pulverfass die Lunte zu legen.

Wem gehört die Demokratie?

Unter solchen Umständen wagte Johnson, was Theresa May zuvor wohl nur zu gerne gemacht hätte. Um den Anti-Brexit-Plänen des Parlaments zuvorzukommen, bat er die Queen Ende August, das Parlament bis zum 14. Oktober in den verlängerten Urlaub zu schicken, was diese prompt akzeptierte. In Großbritannien, wo es keine einheitliche Verfassung gibt, sondern nur ein komplexes Netz an Erklärungen, Gepflogenheiten und Präzedenzfällen, schien so etwas noch problemlos möglich zu sein.

Damit wären dem Parlament gerade einmal zwei Wochen geblieben, um einen No-Deal-Brexit zu verhindern – und es wäre vielleicht sogar dazu gezwungen gewesen, Corbyn als Übergangspremier zu akzeptieren. Keine rosigen Aussichten für das Kapital, das sofort damit begann, seine Karten auszuspielen - Medienkampagne inklusive. So schrieb die Financial Times am 28. August: „Boris Johnson zündete eine Bombe…Scharlatane, Demagogen und Möchtegerndiktatoren scheren sich wenig um eine repräsentative Regierung, sie versuchen Wege am Parlament vorbei zu finden…“ und schlussfolgert: „Es ist Zeit für die Parlamentarier, seine Regierung mit einem Misstrauensantrag zu stürzen.“

Doch trotz dieser schweren Geschütze – das wichtigste Meinungsblatt der britischen Bürgerlichen fordert den Sturz einer konservativen Regierung! – sah es zunächst nicht gut aus. Erst der Oberste Gerichtshof kippte die Vertagung und musste dazu einen Präzedenzfall von 1611 (!) hervorkramen. Die Durchsetzung der Interessen der Bourgeoisie, nachdem sie die Kontrolle über ihre traditionelle Partei, die Tories, verloren hat, forderte die Mobilisierung des Staatsapparates – und läuft damit Gefahr, das Ansehen der altehrwürdigen britischen Institutionen in den Augen vieler Brexit-BefürworterInnen zu untergraben.

Neuwahlen – mit sozialistischem Programm!

Die gewaltige politische Krise umfasst sämtliche Ebenen der britischen Gesellschaft, die Interessen der bedeutendsten Schicht, der arbeitenden Menschen, werden in der gesamten Debatte aber geflissentlich ausgeklammert. Die Grabenlinien in den kommenden Neuwahlen – und diese sind längst überfällig – sind größtenteils schon abgesteckt. Johnson wird sich darauf konzentrieren, den „Volkswillen“ (in seinen Augen heißt das: den Brexit) durchzusetzen, die Liberalen werden ihr ganzes Feuer dagegen richten und stattdessen eine zweite Brexit-Abstimmung fordern.

Im parlamentarischen Hickhack der letzten Monate ordneten sich Corbyn und die Labour Party, stets unter dem Druck der Rechten in der Parteiführung, immer wieder der bürgerlichen Logik unter. Hier gilt es die Konsequenzen zu ziehen und einen Schlussstrich setzen! Noch bei den Wahlen 2017 thematisierte Corbyn offensiv die brennenden, sozialen Probleme der britischen Arbeiterklasse und konnte damit einen Stimmenzuwachs von fast 10% auf insgesamt 40% erreichen. Heute, nach 2 Jahren Brexit-Chaos, steht Labour in den Umfragen nurmehr bei ca. 25%. Es ist höchste Zeit, den Liberalen innerhalb und außerhalb der Partei den Kampf anzusagen und die Brexit-Blockade mit einer klassenorientierten Politik zu durchbrechen.

Eine offensive Kampagne gegen die gescheiterte Johnson-Regierung, die jahrelange Kürzungspolitik der Tories und mit einem mutigen, sozialistischen Programm, würde diese Dynamik völlig umkehren. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist dabei auch die Debatte um Clause IV der Parteiverfassung, die die Frage einer sozialistischen Orientierung in den Mittelpunkt stellt und den Ausweg aus der Krise der britischen Arbeiterklasse bietet.

(Funke Nr. 177 /1.10.2019)


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