Seit mehr als sieben Wochen (zum Zeitpunkt des Redaktionsschluss) streiken große Teile des öffentlichen Sektors gegen die Pensionsreform von Präsident Macron. Raphael Lins berichtet.

Dieser Streik ist schon zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Zeitung einer der entschlossensten seit mehreren Jahrzehnten, bei der Staatsbahn SNCF ist es der längste Streik seit der Gründung des Unternehmens überhaupt.

Kampf den „Privilegien“?

Die Pensionsreform ist eines der zentralen politischen Projekte, die Macron seinen Gönnern, den französischen KapitalistInnen und der herrschenden Klasse versprochen hat.

Es geht im Kern um zwei Punkte: erstens eine Erhöhung der Einzahlungsjahre in die Pensionskassen (lies: länger arbeiten für dasselbe Geld), und zweitens um die Abschaffung von Sonderregelungen in diversen Sektoren. Sowohl die französischen als auch die internationalen Medien verpassen seit Dezember keine einzige Gelegenheit, die Streikenden als „die privilegierten Eisenbahner“ darzustellen, die horrend hohe Renten erhalten und auch viel früher als alle anderen in Pension gehen dürfen, usw.

Dass einige Teile der Arbeiterklasse sich in der Vergangenheit bessere soziale Standards erkämpft haben, soll als Keil verwendet werden, um die Bewegung zu spalten und die einen gegen die anderen auszuspielen. Wenn man Macron glaubt, soll das neue Rentensystem gerechter sein – in Wirklichkeit aber bedeutet es schlicht eine generelle Verschlechterung der Bedingungen für alle Sektoren – eine „gerechte Angleichung“, aber eben nach unten.

Das haben Millionen französischer ArbeiterInnen verstanden und lehnen die Reform ab: den Eisenbahnern und den Bediensteten der Pariser Verkehrsbetriebe (RATP) haben sich viele andere Berufsgruppen angeschlossen, insbesondere die LehrerInnen, Feuerwehren und große Teile des Gesundheitsbereichs.

Auch der größte Teil der Ölraffinerien im Land wird bestreikt (vgl. die Übersicht in Funke 179). An den „interprofessionellen Streiktagen“ blieben in ganz Frankreich tausende Schulen geschlossen, Krankenhäuser funktionierten nur noch im Notbetrieb, der Eiffelturm, die Opern und der Louvre waren zu, gerade einmal einer von zehn der TGV-Schnellzüge fuhr, Paris war ohne Metro. An den Höhepunkten der Bewegung nahmen laut Angaben der Gewerkschaften zwischen 1 und 1,7 Mio. Menschen teil.

Entschlossener Widerstand

Die Eisenbahner an der Spitze der Bewegung haben der gesamten Arbeiterklasse gezeigt, wie man kämpft. Sie haben sogar über die Weihnachtsfeiertage ihre Mobilisierung aufrechterhalten, obwohl Macron heuchlerisch zu einer „Pause“ aufgerufen hatte. Seine Rechnung war wohl, dass es den Gewerkschaften nicht mehr gelingen würde, nach den Ferien die Streiks fortzuführen. Stattdessen führten die ArbeiterInnen in Eigeninitiative gerade während der Feiertage sehr entschlossene Blockade- und Streikaktionen durch.

Das Problem ist aber, dass auch die kämpferischsten Teile einer Bewegung ihren Streik nicht unendlich lange aufrechterhalten können. An den Streiktagen wird kein Lohn gezahlt und nur die wenigsten Gewerkschaften verfügen über nennenswerte Streikkassen. Trotz eines heroischen Versuchs, mittels Spenden von anderen ArbeiterInnen eine Streikkasse aufzubauen (1 Mio. € in kürzester Zeit!), hat das zu Ermüdungserscheinungen geführt und einige Beschäftigte waren ab Anfang Jänner dazu gezwungen, die Arbeit wieder aufzunehmen.

Da der Streik der LokführerInnen sich als sehr solide erwiesen hat, ist der Zugverkehr zwar trotzdem noch immer schwer beeinträchtigt – aber es besteht die reale Gefahr, dass Macron den Streik einfach aussitzen kann, wenn er nicht auf andere Sektoren der Wirtschaft ausgeweitet wird.

Wie kann die Bewegung gewinnen?

Damit stellt sich die Frage: Was soll mit dem Streik erreicht werden? Die Perspektive der Gewerkschaftsführung ist es, die Pensionsreform abzuwehren und dann wieder nach Hause zu gehen. Während sie verbal sehr kämpferisch auftritt („unbefristeter Generalstreik“, „wir kämpfen, bis die Pensionsreform weg ist“), führt sie aber gleichzeitig immer wieder Verhandlungen mit Macron. Der Unmut an der Basis gegen diese Treffen sitzt tief – und zwar zurecht.

Die Stimmung unter den Streikenden ist dagegen klar: sie wollen, dass diese Regierung der Reichen abtritt. Dazu müsste die Führung der Gewerkschaften aber eine systematische Kampagne unter den ArbeiterInnen organisieren, die noch nicht streiken – anstatt dauernd auf ein Zugeständnis von Macron zu hoffen. Die derzeitige Strategie führt nur in eine Sackgasse: Es wird „Dampf abgelassen“, anstatt dass die Energie kanalisiert wird.

Um den Kampf zu gewinnen, muss der Streik zu einem Generalstreik ausgeweitet werden und die Gewerkschaftsführung muss der Bewegung eine klare politische Perspektive geben, um der Ermüdung der seit über eineinhalb Monaten streikenden Basis entgegenzuwirken. Vor allem die Ausweitung in den privaten Sektor ist zentral: die Automobil- und Flugzeugindustrie sind teils Hochburgen der CGT – diese Basis muss mobilisiert werden.

Zwar haben insbesondere die ArbeiterInnen in den Raffinerien die Arbeit schon niedergelegt, was im ganzen Land zu Treibstoffknappheit an den Tankstellen geführt hat. Aber wenn der Streik nicht weiter ausgedehnt wird, kann die Regierung auch das aussitzen. Es ist die Aufgabe der Gewerkschaftsführung, der eigenen Basis die Wahrheit zu sagen: wenn wir den Streik nicht zu einem Generalstreik in allen Sektoren ausbauen, werden wir verlieren. Die Pariser TransportarbeiterInnen, die Eisenbahner und die LehrerInnen können nicht ewig auf der Straße bleiben.

Trotz der ununterbrochenen Medienkampagne gegen die „privilegierten Eisenbahner“ ist die Unterstützung für den Streik in der Bevölkerung erstaunlich solide: Anfang Dezember haben gemäß einer Figaro-Umfrage 69% die Streiks unterstützt, Anfang Jänner lag diese Zahl bei 61% - nach über einem Monat Chaos und Verkehrsstreik! Aber in Wirklichkeit ist diese Zahl nicht verwunderlich: die ArbeiterInnen verstehen, dass die Rentenreform nur Teil eines gesamthaften Angriffs auf ihren Lebensstandard ist.

Es geht ums Ganze

Die herrschende Klasse will durch Macron und seine Regierung die schwächelnde französische Wirtschaft über eine Verschlechterung der Lebensbedingungen der Lohnabhängigen wieder auf Vordermann bringen. Macron kann und wird nicht einfach klein beigeben – sein ganzes politisches Projekt wäre sinnlos, wenn er die Wettbewerbsfähigkeit der französischen Wirtschaft nicht aufrechterhalten kann. Ein Finanzanalytiker hat es in den Financial Times klar gesagt:

„Wir könnten einen Kompromiss eingehen, der die großen Fragen in die Zukunft aufschieben würde. [Aber] wir wären nicht einmal die Hälfte der Probleme angegangen. Ja, wir hätten den Streik gestoppt, aber ohne die wahren Probleme anzugehen.“ – Was er mit den „wahren Problemen“ meint, sind die vergangenen sozialen Errungenschaften der ArbeiterInnen. Daher ist der Kampf gegen die Pensionsreform allein zu wenig, es geht darum, die Politik für die Reichen gesamthaft abzuwehren.

Auch solche Ankündigungen wie die „vorläufige“ Zurücknahme der Erhöhung des Pensionsantrittsalters sind taktische Manöver und stellen keine ernsthaften politischen Zugeständnisse dar. Sie sind nichts als der Versuch, die Bewegung zu spalten. Doch diese Tricks sind nichts Neues mehr, Macron hat sie schon bei der Gelbwestenbewegung verwendet. So sind sie auch nicht auf fruchtbaren Boden gefallen: Am 9. Jänner haben laut CGT erneut 1,7 Mio. Menschen demonstriert; die Eisenbahner haben trotz der Lohnverluste und der Ermüdung im ganzen Land wieder erstaunliche Mobilisierungen zustande gebracht. die Arbeiterklasse will kämpfen! Die Stimmung auf den Demonstrationen ist trotzig, für viele ist die Bewegung schon viel zu weit gegangen, um jetzt aufzugeben. Ein zentraler Demospruch ist: „on ira jusqu’au retrait!“, „wir machen weiter bis zur Zurücknahme (der Reform)“. Doch das Problem bleibt: die Bewegung braucht eine politische Führung mit einem klaren Ziel, um zu gewinnen.

Jérôme Métellus von unserer französischen Schwesterströmung „Révolution“ hat es so formuliert:

„Die ArbeiterInnen verstehen, dass im Kontext der tiefen Krise des Kapitalismus und dem generellen sozialen Niedergang Kämpfe gegen diese oder jene Reform nicht genug sind, um ihre Probleme zu lösen. Viele stehen der aktuellen Bewegung positiv gegenüber, streben aber eine viel radikalere Veränderung an. Um diese Schichten der Klasse in einem harten Kampf wie einem unbefristeten Generalstreik mobilisieren zu können, müssen sie die Perspektive einer umfassenden Veränderung vor Augen haben.

Mit anderen Worten, der Kampf muss auf der Basis eines offensiven Programms durchgeführt werden. Anstatt einfach nur vergangene Errungenschaften zu verteidigen, müssen wir eine sofortige und spürbare Verbesserung des Lebensstandards der Massen fordern.

Gleichzeitig muss klar sein: Macron wird ein solches Programm niemals umsetzen – der Sturz seiner Regierung muss deshalb ganz oben auf der Forderungsliste sein. Diese Regierung muss durch eine Regierung des Volks ersetzt werden, also eine Regierung der Arbeiter und Arbeiterinnen.

Das ist kein utopischer Vorschlag. In der jetzigen Situation sind diese Strategie und dieses Programm der einzige realistische Weg vorwärts. Die Erfahrung wird es beweisen.“

(Funke Nr. 180/22.1.2020)


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