Italiens Linke ist seit Jahren in der Krise. Mit der Bewegung der „Sardinen“, die seit November die Plätze aller größeren Städte gefüllt haben und gegen die rechte Lega protestieren, schöpfen viele erstmals wieder Hoffnung. Aber wofür steht diese Bewegung tatsächlich? Eine Analyse von Claudio Bellotti.
Begonnen hat alles in Bologna, der Hauptstadt der Emilia-Romagna. Dort stehen Regionalwahlen an, die großen Symbolcharakter für ganz Italien haben, denn die Partei von Lega-Chef Salvini will unbedingt diese ehemals rote Hochburg erobern. Die „Sardinen“ haben sich das Ziel gesteckt, dies zu verhindern. Zirka 15.000 Menschen erschienen in der Piazza Maggiore, als Reaktion auf den Aufruf der „Sardinen.“ Am selben Abend wurde ein Umzug von 2-3000 großteils jungen Leuten von Spezialeinheiten der Polizei dabei aufgehalten, als sie versuchten zur Paladozza zu gelangen, wo der Kopf der Lega eine Rede hielt. Dem Erfolg in der „roten Emilia“ folgten auf den Fuß große Mobilisierungen in allen großen Städten Italiens.
Eine heterogene Bewegung
Diese Bewegung definiert sich nicht über ihre Klassenzugehörigkeit, sie sagt nicht welche sozialen Interessen sie verteidigen will, sondern appelliert an in erster Linie an Werte und die Idee einer besseren Welt: Antirassismus, Solidarität, Friede usw.
Die Zusammensetzung der Bewegung ist dementsprechend heterogen. Der dominante Teil wird von der Wählerschaft der Demokratischen Partei (PD) und ihren Satelliten dargestellt. Auch viele jüngere und unorganisierte Menschen haben sich der Bewegung angeschlossen, weil es der einfachste Weg war, gegen Rassismus und die reaktionäre Demagogie Salvinis zu demonstrieren. In den letzten Jahren gab es zahlreiche antifaschistische und antirassistische
Demos und es ist kein Zufall, dass einige der Orte, wo es zu den größten Demos kam (wie Genua und Bologna), bereits Schauplätze wichtiger und kämpferischer Mobilisierungen waren. Gerade unter den Jungen ist auch ein großer Durst nach politischen Erklärungen und radikalen Ideen spürbar.
European sardines in a nutshell:
— Nicola Vallinoto (@nicolavallinoto) December 20, 2019
(S)ardines
(A)ntifascist
(R)ights
(D)iversity
(I)nclusion
(N)on violence
(E)urope & (E)arth united
(S)olidarity
We European sardines have no borders.
Our country is the world.#sardineeuropee @6000sardine #SardinecontroSalvini #sardines pic.twitter.com/UB9eUA80kM
Von den Sprechern der „Sardinen“ wird jedoch der apolitische Charakter der Bewegung betont. Diese Bewegung ist aber nicht Ausdruck einer komplett unbeschriebenen Entwicklung, die noch eine Definition sucht. Vielmehr hat sich die Führung der Bewegung das Ziel gesetzt eine Mitte-Links-Politik wieder sichtbar und mehrheitsfähig zu machen. Ihre ablehnende Haltung gegenüber politischen Fahnen auf den Demos ist lediglich ein Ausdruck dessen, dass die herkömmlichen Symbole der Mitte-Links-Parteien nach Jahren bürgerlicher Regierungspolitik nur sehr geringe Glaubwürdigkeit haben.
Das Manifest der Sardinen: Eine leere Hülle
Das Manifest, welches im Internet mit den Unterschriften von „6000 Sardinen“ lanciert wurde, ist ein Paradebeispiel für absolute Inhaltslosigkeit.
Es argumentiert gegen nicht näher genannte „Populisten,“ die Hass und Lügen im Netz verbreiten (sehr wahr). Und um sich nun selbst vom „Populismus“ abzugrenzen, definiert es sich als die Stimme aller
„[...] normalen Menschen aller Altersgruppen: wir lieben unser Zuhause und unsere Familien, wir versuchen uns in unserer Arbeit zu engagieren, in Freiwilligenarbeit, in Sport und Freizeit. Wir helfen anderen leidenschaftlich gerne, wie und wann wir können. Wir lieben spaßige Dinge: Schönheit, Gewaltfreiheit (verbal und physisch), Kreativität und Zuhören.“
Die so zur Schau gestellte politische Jungfräulichkeit ist jedoch sehr fragwürdig.
Denn in Wirklichkeit sollen die eigenen politischen Positionen nur hinter einer betäubenden „zivilgesellschaftlichen“ Rhetorik versteckt werden.
Mattia Santori war zum Beispiel in der Vergangenheit ein Unterstützter der Energie- und Infrastrukturpolitik der Regierung von PD-Chef Renzi. In Artikeln lobte er das Dekret „Sblocca Italia“ („Italien entfesseln“), das ein weitreichendes Programm an Privatisierungen, Deregulierungen und Ausbeutung der natürlichen Ressourcen beinhaltete.
Außerdem war er ein Unterstützer der Kampagne gegen ein Referendum zu den geplanten Erdölbohrungen vor der Küste Italiens.
Der Initiator der Bewegung in Florenz, Bernard Dika, war einer der sogenannten „Millenials“, die von Renzi für einen Führungsposten in der PD ausgewählt wurden. Seine äußerst erleuchtenden Fernsehauftritte sind weithin im Netz verfügbar. Einmal zieht er dabei gegen die Senkung des Pensionsantrittsalters los, ein anderes Mal lobt er die Antimigrationspolitik des früheren Innenministers Minniti von der PD. Er vertritt die Meinung, dass Minnitis Migrationspolitik die Lega hätte stoppen können, wenn sie nur entschieden genug angewendet worden wäre.
An der Seite der PD (der Demokratischen Partei)
Die „Sardinen“ sind nicht die erste große zivilgesellschaftliche Bewegung in Italien. Doch in der Vergangenheit hatten diese bei allen politischen Schwächen zumindest den Verdienst die Mitte-Links-Parteien der damaligen Zeit offen kritisiert zu haben.
Right now in Bologna, Italy:
— Joshua Potash (@JoshuaPotash) January 19, 2020
Over 40,000 people have gathered to protest fascism.
This is the example the U.S., and the world, needs to follow.pic.twitter.com/PmXIn9qAn0
Im Gegensatz dazu haben die „Sardinen“ heute scheinbar kein kritisches Wort für die PD übrig, sondern rufen stattdessen zu ihrer Wahl auf – angefangen bei den regionalen Wahlen in Emilia Romagna am 26. Januar.. In diesem Bezug könnte das Manifest nicht klarer sein:
„Wir glauben noch an Politik und Politiker mit einem großen P. Es gibt jene, die Fehler machen, und jene, die über ihre eigenen persönlichen Interessen erst nachdenken, wenn sie über die Interessen aller anderen nachgedacht haben. Es gibt nur mehr ein paar, aber eben die gibt es noch. Und wir werden zurückkommen, um ihnen Mut zu machen, indem wir Danke sagen.“
Für die recht klare Positionierung auf der Seite der PD gibt es von den Apparaten der PD und des linken Gewerkschaftsdachverbandes CGIL auch als Gegenleistung viel Unterstützung für die „Sardinen“. Diese sehen in den Kundgebungen auf den Plätzen eine notwendige Rückenstärkung, um die Lega aufhalten zu können.
Doch wie sollten wir wirklich gegen Salvini kämpfen?
Zentral ist die Frage, wie die Lega überhaupt so stark werden konnte. Die Initiatoren der „Sardinen“ beschuldigen „die 20-jährige Geschichte Berlusconis“ an der Regierung, die sozialen Medien und die privaten TV-Sender (aus dem Berlusconi-Imperium), die die Bevölkerung verblödet haben und in die Falle der Demagogie tappen ließen.
Diese Erklärung kann auch nur jenen Menschen plausibel erscheinen, die keine Ahnung von der tatsächlichen Entwicklung im Italien (oder der Welt) der letzten Jahrzehnten haben. Abbau von Arbeitsrechten, Pensionskürzungen, prekäre Arbeit, Privatisierungen, Teilnahme in imperialistischen Kriegen, Austerität, Spekulation und ökologische Zerstörung... für all das trägt die „gemäßigte Linke“ dieselbe Verantwortung wie die Rechte, teilweise sogar eine größere. „Mitte-Links“ hat die genannten politischen Maßnahmen stets verteidigt – und zwar im Namen „Europas“: Von 1994 bis 2018 war die PD (und ihre Vorgänger) zirka 15 Jahre an der Regierung, die Kräfte links von der PD regierten 5, die rechte „Lega“ 11 und die Forza Italia 12 Jahre.
Was die angebliche „Kontrolle“ Facebooks von Seiten einer konkreten politischen Kraft betrifft, so ist diese Anschuldigung jenseits aller Absurdität. Wie sich herausstellt ist der Besitzer von Facebook nämlich gar nicht Salvini, sondern ein gewisser Milliardär mit demokratischen Neigungen, der auf den Namen Mark Zuckerberg hört.
Die Frage, in welchem Ausmaß heute in Italien Propaganda und Kommunikationskontrolle existieren, ist gerade im Kontext dessen, dass der FIAT-Konzern die Gedi-Verlagsgruppe (Espresso, Repubblica, 13 Lokalzeitungen und zahlreiche Radiostationen sowie Deejay etc.) aufgekauft hat, äußerst interessant – doch diese Frage werden wir sicher nicht mit dem Geschwätz über reaktionäre und rassistische „Fake News“ erschöpfen.
Der Kampf gegen Rassismus und gegen Salvini wird an dem Tag zu gewinnen sein, an dem der Klassenkonflikt in Italien wieder offen ausbricht. Wenn der Kampf der Unterdrückten gegen die Unterdrücker wieder zentrale Bedeutung erlangt, dann werden alle künstlichen Spaltungsmechanismen („Inländer gegen Ausländer“, „Christen gegen Muslime“, „Alt gegen Jung“) hinwegspült werden.
Ein Wort zum „Hass“
Die Rhetorik gegen den „Hass“ ist ein Eckpfeiler der Propaganda der „Sardinen“. Das sollte entmystifiziert werden. Wer hasst hier wen? Und wieso? Ist jeder Hass gleich?
Wir erwarten nicht, dass die Initiatoren der „Sardinen“ ein fertiges politisches Programm haben, doch zumindest sollten sie wissen, auf welcher Seite sie stehen, wenn es in der realen Welt zu unversöhnlichen Interessenskonflikten kommt.
Haben nicht etwa die ArbeiterInnen bei Whirlpool oder ILVA, die ArbeiterInnen, die bei Auchan oder der Unicredit ihre Jobs verloren haben, nicht gar die Verpflichtung mit all ihrer Kraft gegen jene Bosse zu kämpfen, die ihr Leben zerstören?
In Taranto, wo die lokale Umwelt durch Europas größtes Stahlwerk (ILVA) zerstört wurde, hätte „Sardinen“-Sprecher Santori gesagt: „Es liegt nicht an uns Vorschläge zur Lösung der ökologischen Frage auszuarbeiten. Wir sind zu jung und außerdem keine politische Bewegung.“ Keine Position zu beziehen, läuft allerdings nur stillschweigend auf die Befürwortung des Status quo hinaus.
Jenen, die unterdrückt sind, die ausgebeutet werden, die mit Lügen getäuscht werden (und nicht nur denen von Salvini, sondern von einer ganzen Flut an Propaganda zugunsten der herrschenden Ideologie) nichts außer „Friede und Liebe“ anzubieten, ist – und das sagen wir ganz klar – unter aller Würde.
Doch nehmen wir die Worte eines Poeten und Genossen, der es besser gesagt hat als wir:
„Wir müssen den Klassenhass wiederherstellen. Wir müssen das Klassenbewusstsein des Proletariats wieder fördern: die Bosse hassen uns und verstecken dies auch nicht; wir müssen den Proletariern helfen, sich ihrer Ketten bewusst zu werden (…) Die Lebensumstände eines Busfahrers in Genua hängen von den Schwankungen der Hongkonger Börse ab. Heute (…) ist es unsere Pflicht die Fahne aufzunehmen und das Proletariat zu verteidigen. Selbstverständlich denke ich nicht an Waffen, zumal ich weiß, dass ich absolut gegen Gewalt bin. Ich spreche aus gutem Grund über den Klassenhass: die Proletarier müssen ihre Bosse ebenso hassen, wie ihre Bosse sie hassen.“ (Edoardo Sanguineti, 2007).
Oder, wie es noch vor einem Jahrhundert gesungen wurde: „Friede den Hütten, Krieg den Palästen.“
(Funke Nr. 180/22.1.2020)