Präsident Macron kann sich zurücklehnen, denn der kritische Punkt der Streikbewegung gegen die Pensionsreform, die Frankreich von Dezember bis Anfang Februar erschüttert hat, ist vorbei. Raphael Lins zieht eine Zwischenbilanz.
Die Bewegung gegen die Pensionsreform hat ihren Motor verloren: Die Eisenbahner sind ermüdet. Nach über zwei Monaten fehlt ihnen nicht nur das Geld, sondern vor allem die Perspektive, um weiterzukämpfen. Die Gewerkschaftsspitzen reden immer noch von neuen Streiktagen, großen Mobilisierungen und einer Ausweitung des Kampfes auf andere Sektoren, machen aber keine praktischen Schritte in diese Richtung.
Ohne die Perspektive, dass ein Kampf auch tatsächlich gewonnen werden kann, wird die Arbeiterklasse aber niemals kämpfen. Da der Streik auf den öffentlichen Sektor beschränkt blieb, war die Schlussfolgerung der Beschäftigten in den öffentlichen Verkehrsbetrieben klar: Wir sind isoliert, unser Streik alleine wird Macron nicht in die Knie zwingen. Anstatt den breiten Unmut in der französischen Gesellschaft zu nutzen und in die Offensive zu gehen, hat sich die Führung der CGT (eigentlich die entschiedenste Gewerkschaft) auf einen strikt defensiven Abwehrkampf zurückgezogen. Die regierungsfreundliche CFDT hat sich überhaupt gleich ganz dazu entschieden, mit Macron nur zu verhandeln.
Der Graben zwischen der Perspektive der Gewerkschaftsführung und den ArbeiterInnen an der Basis ist deutlich sichtbar. All die beeindruckenden Mobilisierungen der letzten Monate waren getragen von der Hoffnung, mit dieser Regierung der Reichen abrechnen zu können, weil Macron nichts anderes macht, als die Lebensbedingungen systematisch zu verschlechtern.
Die Gewerkschaftsoberen wollten währenddessen einfach die Pensionsreform abwehren und es dabei belassen. Dass die fortschrittlichsten Schichten der Arbeiterklasse mehr von diesem Streik wollten, lässt sich auch an ganz praktischen Beispielen zeigen: nach der Weigerung der CFDT, für eine Verlängerung des Streiks aufzurufen, haben Elektrizitätsarbeiter in Paris der Zentrale der CFDT einfach den Strom abgedreht.
Kämpfen oder doch nicht?
Was denkt Monsieur Macron über das alles? Von allem Anfang an hat er gewusst, dass die einzig reale Gefahr für ihn in einem breiten, alle Branchen übergreifenden Streik besteht. Dass die CFDT offen kapituliert hat und die CGT rein defensiv spielt, kam ihm gelegen. Und selbst wenn aus Streik doch noch etwas wird: Im Notfall wird er im April die Pensionsreform einfach per Verordnung am Parlament vorbei durchdrücken.
In den offiziellen Communiqués schreiben die Gewerkschaften vollmundig, dass sie “die Mobilisierung so lange wie nötig aufrechterhalten” werden. Das geht an der Lebensrealität ihrer Mitglieder aber völlig vorbei. Die ArbeiterInnen können nicht unendlich lange auf der Straße bleiben, die Eisenbahner sind auf ihre Löhne angewiesen. Die Gewerkschaftsführung rief Mitte Februar zu einem „Schwarzen Montag“ im öffentlichen Verkehr auf, der aber von den Beschäftigten kaum mehr befolgt wurde. Nur noch ein Bruchteil der Pariser Metros fiel aus. In den bürgerlichen Medien machte sich daraufhin bereits leise Schadenfreude breit: „Die Prognose für den (doch nicht so schwarzen) Montag“, titelte Le Parisien.
Doch beim Spott blieb es nicht. Es gibt mehrere Berichte über systematische Repression vor allem gegen Gewerkschafter; ein Busfahrer versuchte, sich nach einer Vorladung bei der Geschäftsführung zu suizidieren. Viele Eisenbahner haben sich über die letzten zwei Monate arg verschuldet, da sie an den Streiktagen keinen Lohn bezahlt bekommen. Streikkassen existieren kaum.
Die seltsamen Blüten dieses Streiks
Während die Eisenbahner und Beschäftigten der Verkehrsbetriebe also demoralisiert wieder zur Arbeit zurückkehren müssen, tauchen gleichzeitig neue Kämpfe auf und andere breiten sich aus. Sogar Sektoren, die nicht gerade für radikale Streiks bekannt sind, beteiligen sich: die Anwälte führen seit Monaten über ganz Frankreich verteilt einen erbitterten Kleinkrieg gegen die Pensionsreform.
Die öffentliche Unterstützung für den Streik nahm im Jänner von 61 auf 70% zu. An den letzten großen Streiktagen waren die LehrerInnen sehr stark vertreten, immer wieder beteiligen sich die Feuerwehren. Kaum flaut der eine Kampf ab, kommen fünf neue zum Vorschein: Die Mitarbeiter von Radio France, die Fluglotsen und die Elektrizitätsarbeiter streiken immer wieder, ein Renault-Werk in Nordfrankreich hat Mitte Februar wegen einer geplanten Lohnkürzung gestreikt. Einige Gemeinden, darunter Paris, können seit Wochen nur mit zusätzlich angeheuerten Arbeitern den Müll entsorgen, da die regulären Mitarbeiter immer wieder in den Streik treten.
Wie passt das mit dem Abebben des Verkehrsstreiks zusammen?
Wir dürfen nicht vergessen, dass all diese Kämpfe vor dem Hintergrund einer kriselnden Weltwirtschaft stattfinden. Es wird keine fundamentale Verbesserung der Lebensbedingungen der französischen Arbeiterklasse in diesem System und schon gar nicht unter der Regierung Macron geben. Er ist der unbeliebteste Präsident, seit es Umfragen gibt, und diesen Titel hatten schon seine Vorgänger Hollande und Sarkozy jeweils inne. Macron sieht sich genereller Unzufriedenheit und Ablehnung gegenüber. Das bedeutet, dass diese Streiks kein einmaliges Phänomen sind oder bleiben werden. Sie sind Ausdruck eines generellen Unmuts, der sich schon seit langem angestaut hat.
Es ist Aufgabe der Gewerkschaften, diesem Unmut auf der Basis eines radikalen Programms einen organisierten Ausdruck zu geben. Der Anspruch von CGT-Führer Philippe Martinez, dass man doch progressive Maßnahmen mit der Regierung “verhandeln” könnte, ist hinfällig. Macron wird nie irgendetwas in diese Richtung zugestehen. Eine Arbeiterregierung muss der herrschenden Klasse ein progressives Programm aufzwingen. Das setzt aber voraus, dass diese Regierung der Reichen gestürzt wird.
(Funke Nr. 181, 25.2.2020)