Jahrzehntelang aufgestauter Unmut der weißrussischen ArbeiterInnen und Jugendlichen entlädt sich in einer Massenbewegung gegen Langzeitmachthaber Alexander Lukaschenko. Um zu gewinnen, braucht die Arbeiterklasse ein eigenes Programm und eine Führung. Von Manuel Lins.

Im Unterschied zu anderen früheren Ostblockstaaten verzichtete Belarus nach der Wende auf die völlige Privatisierung öffentlichen Eigentums und konnte der Bevölkerung dadurch ein in den Nachbarstaaten unbekanntes Maß sozialer Sicherheit garantieren. Noch heute sind 55% der Arbeitskräfte Staatsangestellte gegenüber 48,4% im privaten Sektor und lediglich 1,6%, die für ausländische Unternehmen arbeiten. Der Deal zwischen Machthabern und Bevölkerung ließe sich wie folgt zusammenfassen: Soziale Sicherheit gegen Verzicht auf politische Mitbestimmung.

Während der Sowjetzeit verfügte Weißrussland über das höchste Entwicklungsniveau der einzelnen Teilrepubliken im Hinblick auf Einkommen, Alphabetisierung und Lebenserwartung, zudem war es der am stärksten industrialisierte Landesteil - Errungenschaften, die der 1994 gewählte Alexander Lukaschenko aufrechtzuerhalten versprach und sich so die stillschweigende Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit sichern konnte. Sein staatskapitalistisches Wirtschaftsmodell, in dem die wichtigsten Produktionsmitteln in den Händen des Staates verblieben, dieser aber einer Kapitalistenklasse unterworfen wurde, stieß jedoch durch die Krise des Kapitalismus an seine Grenzen. Seit 2011 befindet sich der weißrussische Bankensektor in einer anhaltenden Krise; ab 2016 wurde der Sozialstaat schrittweise abgebaut und bspw. das Pensionseintrittsalter erhöht.

Direkte Anlässe für die Bevölkerung, zu Zehntausenden auf die Straße zu gehen, waren neben dem Vorwurf der Wahlfälschung bei der Präsidentschaftswahl im August der massiv gesunkene Lebensstandard und das offene Verleugnen der COVID-19-Pandemie durch den Staatspräsidenten, welcher Maßnahmen gegen die Infektionserkrankung als „Psychose” abtat. In Zeiten einer globalen Pandemie, verbunden mit einem nie gesehenen Wirtschaftseinbruch, erweist sich auch der weißrussische Kapitalismus als absolut unfähig, die Bedürfnisse der Massen zu befriedigen.

Streikwelle in Staatsbetrieben als Wendepunkt

Während in der Vergangenheit bei manipulierten Präsidentschaftswahlen vor allem liberal orientierte Studierende an Kundgebungen teilnahmen, ist die gegenwärtige Bewegung durch die aktive Intervention der Arbeiterklasse charakterisiert. Im Gegensatz zu den Euromaidan-Protesten in der Ukraine 2014 spielen rechtsradikale Elemente in Belarus keine bedeutende Rolle und sind ein Randphänomen.

Durch eine breite Streikbewegung der ArbeiterInnen im staatlichen Automobil-, Bau- Elektronik-, und Düngemittelbereich sowie der chemischen Industrie ist das Regime ins Wanken gebracht worden und schwankt zwischen drastischen Vergeltungsmaßnahmen, welche die DemonstrantInnen noch weiter radikalisieren, und Beschwichtigungsversuchen, etwa einer Verfassungsänderung, hin und her.

Die bürokratisch kontrollierten Gewerkschaften in den Staatsbetrieben verlieren sprunghaft Mitglieder, während unabhängige, kämpferische Gewerkschaften regen Zulauf verzeichnen. Auf inszenierten Veranstaltungen in staatlichen Großbetrieben, die eigentlich dazu dienen sollten, den Machthaber zu bejubeln, wurde der Langzeitpräsident von Arbeitern und Arbeiterinnen offen ausgebuht und „Lukaschenko, hau ab!”-Rufe skandiert.

Die “demokratische Opposition”

Die bürgerliche Presse reduziert derweil die Geschehnisse auf einen Kampf zwischen dem autoritären Machthaber und seinen heroischen demokratischen Gegenspielern, ohne genauer auf die Klasseninteressen der Opposition einzugehen.

Würden Swetlana Tichanowskaja oder Maria Kalesnikowa an die Macht kommen, kann sich die weißrussische Arbeiterklasse gewiss sein, von einer massiven Privatisierungs - und Kürzungswelle überrollt zu werden. Die Spitzen der Opposition verfolgen Interessen, die denen der Arbeiter diametral entgegengesetzt sind: So war der bisherige Kopf der Opposition, Wiktor Babariko, früher Bankmanager und Geschäftsmann bei Gazprom.

Trotz der Radikalität der Bewegung und ihren unbestrittenen Lernfortschritten gegenüber früheren Protesten wird sie über kurz oder lang in eine Sackgasse münden, wenn sie keine Perspektive über eine Machtübergabe an die Opposition hinaus entwickelt.

Welcher Weg nach vorne?

Wir sehen bereits in Ansätzen, wie die Arbeiterklasse beginnt, ihre eigene Position zu formulieren. In einer Stellungnahme der großen Streikkoordination ZabastaBEL steht gegen die Opposition geschrieben:

„Wir erinnern die Arbeiter daran, dass Solidarität mit denjenigen, die erst gestern eure soziale Sicherheit, Betriebe und Zukunft stehlen wollten, die kostenlose Gesundheitsversorgung und Bildung reduzieren wollten und Kündigungen vereinfachen wollten, ihrem Klasseninteresse dient, nicht unserem.“

Gleichzeitig fordern sie jedoch zweideutig eine „parlamentarischen Republik“ unter „Teilnahme“ von Arbeiterkomitee-Vertretern, was eine Lücke für einen Kompromiss den Liberalen offen lässt, in die es nach wie vor weit verbreitete Illusionen gibt.

2020 belarus flyer

Was fehlt ist eine eigenständige, unabhängige Führung der Arbeiterklasse, die eine klare Trennlinie zu faulen Kompromissen mit den Liberalen zieht. Die fehlende Führung bedeutet auch, dass die Bewegung langsam ermüdet. Um zum Sieg zu führen, müsste eine solche Führung einen mächtigen Generalstreik sowie Arbeitermilizen gegen die zunehmende Gewalt des Staatsapparats organisieren. Die landesweiten Streikkomitees könnten hierfür als Basis dienen: In allen Betrieben und auch unter Berufsgruppen außerhalb der Schwerindustrie sollten demokratische, offene Wahlen zu einem proletarischen Koordinationsrat (gegenüber dem von Bürgerlichen und dem Imperialismus dominierten Koordinationsrat) abgehalten werden.

Die organisierte Arbeiterschaft könnte die Bewegung verteidigen, demokratische Wahlen sicherstellen und für das richtige Programm kämpfen:

Das staatliche Eigentum an Banken und Schlüsselindustrien muss verteidigt und ausgebaut werden. Die verstaatlichten Industrien sind der Bürokratie zu entreißen und unter die direkte Kontrolle der Beschäftigten zu stellen, unter voller Beibehaltung und Ausweitung der Errungenschaften auf sozialer Ebene.

(Funke Nr. 186/10.9.2020)


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