Monatelang rangen die EU-Staatschefs um eine gemeinsame Reaktion auf die tiefste Wirtschafts- und Sozialkrise Europas seit Jahrzehnten. Emanuel Tomaselli analysiert den Zustand und die Perspektiven des Kapitalismus in Europa.
„Wenn wir schon untergehen, dann so spät wie möglich, und dafür bleiben wir jetzt noch zusammen“ – so lauten in Kurzfassung die vereinbarten Maßnahmen der EU zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise und ihrer destabilisierenden politischen Folgen.
Frankreichs liberaler Präsident Macron drängte seit Monaten auf „europäische Solidarität“ angesichts der COVID-Krise. Uneigennützig ist sein pro-Europäertum jedoch überhaupt nicht. Das französische Kapital braucht „EU-Lösungen“, um seinen Abstieg im Vergleich zum deutschen Konkurrenten auszugleichen.
Bundeskanzlerin Merkel lockerte im Frühsommer ihr bisheriges Bündnis mit den euroskeptischeren Teilen der deutschen Bourgeoisie und hat sich auf den von Frankreich vehement geforderten transeuropäischen Rettungsfonds eingelassen. Der Grund für diese Verschiebung ist banal: das deutsche Kapital ist zwar in Europa ein Riese und dominante politische Kraft, kann ohne den gemeinsamen europäischen Markt jedoch nichts gegen die aggressive Handelspolitik der USA und Chinas ausrichten. Der Brexit, welcher der EU 15% der Wirtschaftsleistung kostet, zeigt, dass die europäische Integration bereits ihren Höhepunkt überschritten hat. Eine neue, akute politische Krise kann sich das deutsche Kapital nicht leisten.
Bild: flickr / ActuaLitté (CCbySA2.0)
Was Liberale als „Sieg der europäischen Solidarität“ feiern ist in Wirklichkeit Ausdruck der tiefen Sackgasse des europäischen Kapitalismus im zweiten Krisenjahrzehnt.Die Positionsänderung der deutschen Bundesregierung hin zu „mehr EU-Rettungsgelder“ ermöglichte eine temporäre Wiederherstellung der Achse Paris-Berlin. In einem viertägigen Gipfel der Staats- und Regierungschefs setzten Deutschland und Frankreich Mitte Juli gemeinsam die Auflösung eines monatelangen politischen Patts in der Union durch. Die Staatengruppe der „sparsamen Vier“ (Niederlande, Schweden, Dänemark, Österreich) verhandelten sich ebenso wie die „Souveränisten“ (Ungarn und Polen) dafür jeweils einige nationalstaatliche Zugeständnisse heraus: einerseits hat ein Land das Recht, EU-Hilfszahlungen an Mitgliedsstaaten zu blockieren, wenn es Zweifel an der Wirtschaftspolitik eines Empfängerlandes hat. Andererseits ist die Nicht-Einhaltung rechtsstaatlicher Kriterien kein Grund EU-Gelder zurückzuhalten. In Perspektive werden diese Zusatzregeln die EU weiter destabilisieren.
Kein Heilmittel für die Wirtschaft
Der aktuelle Wirtschaftseinbruch erfolgt 11 Jahre nach dem letzten großen Crash, der bis heute nicht verdaut werden konnte. Die Wirtschaft konnte nach 2008/09 („Finanzkrise“) nur durch permanente Interventionen der Zentralbanken („Quantitative Easing“, kurz: QE) stabilisiert werden. QE bezeichnet eine Politik der Geldschwemme und der niedrigen Zinsen. Diese Maßnahmen konnten das grundlegende Problem des Weltkapitalismus – die Überproduktion – nicht lösen: mehr Geld ist nicht ein automatischer Anreiz für Kapitalisten zu investieren, wenn der Weltmarkt bereits mit Waren überfüllt ist.
Das frische Geld des vergangenen Jahrzehnts wurde nur zum geringsten Teil in die Realwirtschaft investiert, sorgte aber für wieder steigende Anlegerpreise bei Immobilen und Aktien. Die Reichen wurden so permanent reicher, ohne dass sie dabei die produktive Basis der Wirtschaft entwickelt und „Jobs geschaffen“ hätten, wie es die bürgerliche Wirtschaftstheorie vorausgesagt hat.
QE wirkt so wie ein starkes Schmerzmittel, das durch langfristigen Gebrauch selbst zum destabilisierenden Risikofaktor wird: Bereits 45% aller Firmenschulden der EU gelten heute als „hoch riskant“, das traditionelle Geschäftsmodell der Banken (Spareinlagen vs. Kreditvergaben) ist aufgrund der Null-Zins-Politik unprofitabel. In weiterer Perspektive drohen Inflation und eine Destabilisierung der Währungen selbst.
Schon ab 2017 drängte der damalige EZB-Chef Draghi daher im Chor mit allen liberalen Institutionen (OECD, IWF) und Wirtschaftswissenschaftlern auf „budgetäre Maßnahmen“ zusätzlich zur dauerhaften Beibehaltung des QE: sprich, eine Erhöhung der Staatsausgaben und sogar höhere Staatsschulden in wirtschaftlich starken Staaten zur Ankurbelung der Wirtschaft.
Der Wirtschaftseinbruch im Frühjahr dieses Jahres und die Wirtschaftskrise erfordern jedoch in allen Staaten massive Staatsinterventionen zur Stabilisierung des Kapitalismus, auch in jenen, die es sich in den Augen der Finanzmärkte eigentlich nicht leisten können. Zur Abwendung einer unmittelbaren Staatsschuldenkrise in einem der EURO-Zone-Länder sah sich die deutsche Bourgeoisie daher gezwungen, ihre ablehnende Haltung zur Staatenfinanzierung durch die EU zu ändern und breiteren EU-Hilfsmaßnahmen zuzustimmen (siehe auch Infobox unten).
Die Alternative wäre ein unmittelbares „zweites Griechenland“ gewesen, also der Staatsbankrott eines EURO-Landes und alle damit verbunden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verwerfungen, die die EU bereits 2015 an den Rande des Auseinanderbrechens getrieben haben. Damals rettete der Verrat der linken SYRIZA-Regierung die EU (sie akzeptierten die Sparpolitik und brachen den Widerstand der Arbeiter). Heute gilt es für die Kapitalisten, Zeit zu gewinnen in der Hoffnung, dass das Anspringen der Wirtschaft ein Aufbrechen aller Widersprüche verhindern könnte.
EU-Pflaster auf klaffende Wunden
Im ersten Halbjahr kollabierte die Wirtschaftsleistung in allen Ländern der Welt, so auch in Europa (siehe Tabelle). Die Krise manifestierte sich bereits 2019 im Industriesektor und gewann durch die Lockdowns einen katastrophenartigen Charakter. Kein Land in Europa wird vor 2022 das Vorkrisenniveau an Wirtschaftsleitung erreichen. Weltweit nehmen die Regierungen bisher etwa 8.000 Mrd. € in die Hand, um die eigenen Wirtschaften zu stabilisieren.
Grafik: derfunke.at
In Europa bedeutet dies, dass (mit dem Stand Mai 2020) Deutschland (mit 80 Millionen Einwohnern) mehr als die Hälfte der gesamten Nothilfen Europas für seine eigene Wirtschaft mobilisiert, während etwa Spanien (mit 50 Millionen Einwohnern) nur 4% des gesamteuropäischen Volumens aus eigener Kraft aufbringen kann.
Dabei steigen die deutschen Staatsschulden heuer um „nur“ etwa 16 Prozentpunkte auf ca. 76 % des BIP. In Spanien hingegen dürften die Schulden heuer um 30 Prozentpunkte auf knapp 127% steigen. Besonders dramatisch die Entwicklung in Italien, das am Ende des Jahres einen Staatschuldenstand von fast 160% seines BIP erreicht haben wird.
Die unterschiedlichen Dynamiken der EU-Nationalstaaten haben sich im vergangen Krisenjahrzehnt vergrößert. Große Volkswirtschaften wie Italien, Spanien aber auch Frankreich sind gegenüber Deutschland dabei weiter in den Rückstand geraten.
Grafik: derfunke.at
Noch steht die Aufteilung der EU-Gelder nicht fest, die Financial Times zitiert aber Berechnungen, dass Italien mit 65.5 Mrd. € der größte Nutznießer der Hilfsgelder (NGEU) sein wird, gefolgt von Spanien mit 59 Mrd. € und Frankreich mit 37,4 Mrd. €. Der Hauptteil der Zahlungen wird 2022-23 erfolgen, wenn die Projekte (meist Verkehr-Infrastrukturbauprojekte, der gepriesene Klimaschutz ist budgetär nicht abgebildet) in Bau sind. Dazu kommen die Zahlungen aus dem Mai-Rettungsschirm, wo Italien noch heuer 27,4 Mrd. € und Spanien 21,3 Mrd. € zur Abdeckung der Kosten der aktuellen Arbeitslosigkeit (SURE) bekommen.
Diese Vereinbarungen wurden von den Regierungen Italiens und Spaniens triumphierend gefeiert, was (neben obligatorischer Theatralik) Ausdruck der akut angespannten wirtschaftlichen und politischen Situation in diesen Ländern ist. Die „europäische Solidarität“ ist von der Dimension her aber deutlich kleiner als die nationalstaatlichen Programme der wirtschaftsstarken EU-Länder. Das EU-Hilfsprogramm kann das Auseinanderdriften der EU nicht stoppen.
Die Conclusio ist einfach: ein weiteres Auseinanderdriften der EU und neue Staatsschuldenkrisen sind vorprogrammiert. Kurz: Europa wird instabiler.
Eine weitere verlorene Generation
Kapitalismus ist Horror ohne Ende. Aus der Sicht der Arbeiterklasse, und hier insbesondere der Jugend, bedeutet diese Perspektive Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung, Jahre des Spardiktats in den öffentlichen Ausgaben (spätestens ab 2022), bei anhaltend hohen Preisen für Wohnen und den täglichen Ausgaben. Die Bourgeoisien Europas werden für diese Entwicklungen ständig neue Schuldige ausfindig machen, versuchen, im Standortwettbewerb die Krise ins Nachbarland zu exportieren, und die Arbeiterklasse dabei in rassistischer Spaltung und nationalistischer Verblendung halten.
Diese Krise führt unausweichlich in einen Prozess von Revolutionen und Konterrevolution am europäischen Kontinent. Weder ein nationalstaatlicher Kapitalismus, noch ein EU-Kapitalismus kann diese Widersprüche im Sinne der Arbeiterklasse auflösen – das kann nur der Sturz des Kapitalismus. Eine siegreiche Revolution in einem Land Europas wird nicht isoliert bleiben, sondern den Klassenkampf am Kontinent auf eine neue Stufe heben und die Grundlage für die Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas legen.
Die vereinbarten EU-Maßnahmen im Überblick
Grafik: derfunke.at
- Im Mai dieses Jahres hat die EU einen Rettungsschirm von langfristigen, günstigen Krediten organisiert, die an die Mitgliedsstaaten weitergegeben werden.
Die insgesamt 540 Mrd. € sind so aufgeteilt:
- 240 Mrd. € werden über den „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (ESM, er wurde während der „Griechenland-Krise“ geschaffen) vergeben,
- 200 Mrd. € über die Europäische Investitionsbank (EIB) und
- 100 Mrd. € von der EU-Kommission zur Finanzierung von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit an 15 Mitgliedsstaaten (SURE-Programm).
Die ersten Kredite dieser ersten EU-weiten Rettungsaktion gelangen nun zur Auszahlung (hauptsächlich süd- und osteuropäische Länder) doch von Anfang stellte die Brüsseler EU-Kommission klar, dass es erstens ein größeres EU-Budget brauche und zweitens einen stärker institutionell verankerten europäischen „Rettungs-“ oder „Wiederaufbaufonds“. Dies mündete nach wochenlangen heftigen nationalistischen Konflikten zwischen den einzelnen europäischen Bourgeoisien in folgenden Maßnahmen:
- Finanzrahmenplan der EU von 2021 bis 2027
Dies ist das reguläre „Budget“ der EU, das aus Mitgliedsbeiträgen gespeist wird. Deren Höhe hängen von den jeweiligen Wirtschaftsleistungen der Mitgliedsländer ab. Es beträgt 1074 Mrd. €. Da aber Großbritannien aus der EU ausgestiegen ist, das Budget jedoch gleichbleibt, zahlen alle Mitgliedsländer ab dem kommenden Jahr mehr Beiträge.
- Ein Zusatzbudget namens „Next Generation EU“ (NGEU) im Umfang von 750 Mrd. €, Geld das durch Kredite der EU auf den Finanzmärkten aufgenommen wird.
Ab 2027 sollen diese geschaffenen EU-Schulden dann durch die Einhebung von EU-Steuern (die freilich noch nicht festgelegt sind) zurückbezahlt werden. Das Novum ist hier, dass die EU als Institution selbst Kredite aufnimmt, anstatt nur Mitgliedsbeiträge umzuverteilen.
Auch neu ist, dass sie einen Teil dieser Gelder direkt als Subventionen „verschenkt“ – etwas, was u.a. Deutschland bisher immer verweigert hatte. 390 Mrd. € sind an nicht rückzahlbaren Subventionen an Mitgliedsstaaten vorgesehen. Die anderen 360 Mrd. € werden als neue langfristige Kredite von der EU an kränkelnde Mitgliedsstaaten weiterverliehen und müssen zurückgezahlt werden.
Der Vorteil ist hier die niedrigere Verzinsung der Kredite.Zusammengefasst:Die EU plant für die kommenden sechs Jahre 1464 Mrd. € Ausgaben und vergibt/organisiert 900 Mrd. € an Krediten an Mitgliedsstaaten. 750 Mrd. € davon sollen ab 2026 durch „EU-Steuern“ zurückbezahlt werden.
(Funke Nr. 186/10.9.2020)