Die Welle an politischer Instabilität und völligem Vertrauensverlust der Massen in ihre Regierungen macht auch vor dem Balkan nicht halt. Mehr als 20 Jahre nach dem Ende des Jugoslawienkrieges haben die Verheißungen von Privatisierung und freiem Markt der Region nichts als Elend und Verarmung gebracht. Über die aktuelle Situation auf dem Balkan berichtet Vincent Angerer.
Etwa 82% aller KroatInnen haben in einer Umfrage des vergangenen Jahres angegeben, dass das Leben in Jugoslawien „allgemein besser und qualitativer war.“ Dass diese Einstellung in allen ehemaligen Teilrepubliken Jugoslawiens vertreten ist, überrascht nicht. Nach einem katastrophalen Erdbeben in Kroatien ist nur knapp ein Prozent der versprochenen finanziellen Unterstützungen ausgezahlt. Wieder und wieder werden notwendige Renovierungen von einer verbrecherischen Regierung verschoben, die sich in der Zwischenzeit selbst bereichert.
Darüber hinaus sieht man in allen ehemaligen Teilrepubliken auch ein eklatantes Missmanagement der Pandemie: Allein in Bosnien, mit weniger als der Hälfte der Bevölkerung Österreichs, sind in absoluten Zahlen bereits mehr Menschen an Covid-19 gestorben als hierzulande. Je mehr sich zeigt, wie wenig die bürgerlichen Regierungen der Arbeiterklasse zu bieten haben, desto mehr versuchen sie mithilfe von Spaltung, dadurch dass sie die Völker am Balkan gegeneinander aufhetzen, die Schuld von sich abzulenken. Doch dementgegen steht der Kampf der Arbeiterklasse.
Bosnien
Bereits seit Jahren sind die bosnischen Minenarbeiter an vorderster Front des Klassenkampfes in Bosnien. Nach jahrelangen Kämpfen in dem Sektor ist es vergangenen Monat zu einer breiten Streikbewegung gekommen, die offen an die Bevölkerung Bosniens und vor allem Sarajevos appelliert hat, gemeinsam für die Forderungen der Minenarbeiter zu kämpfen. Der Aufruf fand tiefen Rückhalt unter breiten Teilen der Gesellschaft. In Sarajevo kam es zu mehreren Kundgebungen. Die Minenarbeiter errichteten ein Protestcamp vor dem Regierungsgebäude und wurden von mehreren Tausend Protestierenden unterstützt. Tatsächlich war die Regierung unter dem Druck gezwungen, den Minenarbeitern nachzugeben und haben einen Großteil ihrer Forderungen erfüllt. Die größten Forderungen, u.a. die Erhöhung des Mindestlohns auf 1000 Konvertible Mark (KM), wurden jedoch nicht erfüllt. Somit stellt der tapfere Kampf der Minenarbeiter nur einen Teilsieg dar, zeigt jedoch ohne Zweifel die Stärke der Arbeiterklasse im gemeinsamen Kampf.
Es ist kein Zufall, dass in dem Ausmaß wie die Solidarisierung und Kampfbereitschaft in Bosnien zunimmt, auch das Aufwiegeln der einzelnen Völker gegeneinander vonseiten der herrschenden Klasse zunimmt. So hat etwa ein bosnisches Gericht 5 serbische Polizisten, die zu der Zeit des Genozides in Bosnien (1992-95) im Amt waren, von sämtlichen Anschuldigungen freigesprochen.
Diese Entscheidung ist eine offene Provokation an die Tausenden Angehörigen deren Väter und Kinder auf brutale Art und Weise von den faschistischen Truppen der Kriegsverbrecher Karadzic und Mladic ermordet wurden. Darüber hinaus liebäugelt der Präsident der Republika Srpska (RS), welche neben der Kroatisch-Bosniakischen Föderation von Bosnien und Herzegowina eine von zwei Entitäten Bosniens ist, mit der Abspaltung von Bosnien. Tatsächlich aber hängen RS-Präsident Milorad Dodik und der Präsident der Föderation eng voneinander ab – denn das ständige Gerede über die Abspaltung hat nur einen Zweck, der im Interesse der bosnischen Bourgeoisie ist: die Spaltung der Arbeiterklasse.
Serbien
Auch in Serbien zeigen sich diese Methoden der Herrschenden. In „Ehren“ des bereits erwähnten serbischen Kriegsverbrechers Ratko Mladic, der für den grausamen Mord an tausenden BosniakInnen verantwortlich ist, gibt es seit Juli dieses Jahres ein öffentliches Wandgemälde im Zentrum Belgrads. Aber die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: In kürzester Zeit wurde das Wandgemälde beschmiert und mit Eiern beworfen. Doch immer wurde es – unter Polizeischutz und mit offener Unterstützung des serbischen Staates – wieder hergerichtet.
Der serbische Präsident Alexander Vucic, der als lokaler Despot mit bonapartistischen Methoden herrscht, war selbst Minister unter Slobodan Milosevic und hat sich durch seine chauvinistische Haltung zum Kosovo und seinem antialbanischen Rassismus ausgezeichnet. Erst vor ein paar Tagen wurden im serbischen Parlament zwei Gesetze ratifiziert, die ihm direktere politische Kontrolle geben. Eines der Gesetze ermöglicht der Regierung den direkten Transfer von Eigentum an Firmen und Konzernen für neue Investitionsprojekte. Große Teile der Bevölkerung waren hier vor allem an die Machenschaften von Vucic rund um das Millionenprojekt „Beograd na vodi“ (2014) erinnert, als bewaffnete Schlägertruppen in der Nacht zusammen mit Baggerfahrern Menschen aus Cafés und Bars gezerrt haben, um Baugrund für Hochhäuser zu schaffen.
Doch darüber hinaus gibt es etliche umweltzerstörerische Investitionsprojekte in Serbien und dem Kosovo. Zahlreiche Flüsse wurden vergiftet, die Luftverschmutzung in Belgrad ist regelmäßig die höchste auf dem Planeten und die WHO hat eine Übersterblichkeit in der Höhe von 5000 Menschen pro Jahr in Serbien festgestellt. Es sind vor allem die Arbeiterklasse sowie arme proletarische LandarbeiterInnen, die unter diesem kapitalistischen Raubbau leiden. Die ökologische Frage tritt am Balkan klar als Klassenfrage hervor und so gibt es zahlreiche Beispiele, wo ganze Dörfer Widerstand leisten. In Donja Bitinja etwa haben Serben und Albaner gemeinsam gegen ein Bauprojekt gekämpft, das den örtlichen Fluss verseucht hätte. So sagte einer der Demonstranten: „Unsere Großväter, Urgroßväter, ob Albaner oder Serben, sind nicht hier auf diese Felder gezogen, um Weizen und Mais zu sähen, sondern gerade aufgrund der Flüsse und Weiden.“
Genau entlang dieser ökologischen Frage entzündeten sich am 27.11. erneut massenhafte Proteste in Serbien. Einige Klimaorganisationen haben zu Straßenblockladen im Kampf gegen die Gesetzesnovelle aufgerufen, von der erwartet wird, dass sie der britisch-australischen Firma „Rio Tinto“ den Bau eines riesigen Bergwerkes ermöglicht. Tatsächlich hat Vučić nach mehr als zweiwöchigen Protesten am 08.12.2021 die kontroversen Gesetze zwecks „Überarbeitung“ ins Parlament zurückgeholt. Gleichzeitig spricht er davon, dass die Protestierenden legitime Gründe haben und man auf ihre „offenen Probleme,“ eingehen müsse. Doch hinter dieser Taktik steht die Überlegung von Vučić, sich für die kommenden Wahlen zu wappnen – gerade jetzt gilt es, die Proteste weiterzuführen, um den Bau der Mine endgültig abzuwehren und die Macht von Vučić und Co. am Balkan zu beenden.
Perspektive und Ausblick
Sowohl hinter den Protesten in Serbien als auch hinter dem Streik der Minenarbeiter in Bosnien steht die tiefe Ausgezehrtheit der Bourgeoisie am Balkan. Sie steht völlig im Dienst des ausländischen Kapitals und bereichert sich beim Auspressen der Arbeiterklasse. Auch die österreichische Bourgeoisie profitiert als größter Investor in Bosnien direkt vom Gift des Rassismus. Das beste Gegengift ist die Einheit der ArbeiterInnen gegen Unterdrückung, Ausbeutung und Imperialismus. Wie Dimitrije Tucovic, der Gründer der serbischen Sozialdemokratie, bereits 1909 erkannte:
„Die Völker am Balkan, jedes für sich, sind nur ein Strohhalm im Treiben der Eroberer. Sie werden dies auch bleiben, solange sie sich feindselig gegenüberstehen. Der einzige Ausweg ist die gemeinsame sozialistische Balkanföderation.“
(Funke Nr. 199/10.12.2021)