Während die Medien hierzulande vor allem von den niederländischen Anti-Corona-Maßnahmen-Demos berichten, erlebt das Land indessen eine gewaltige Bewegung gegen die Wohnungsnot. Ein Bericht von Martin Halder.
Am 12. September gingen 20.000 Menschen in Amsterdam auf die Straße, die größte Mobilisierung zu der Thematik seit den 1980ern. Die Bewegung weitete sich auf Rotterdam, Utrecht und Den Haag aus. In Rotterdam demonstrierten Mitte Oktober 8.000, auf welche die Polizei mit Repression antwortete, Dutzende TeilnehmerInnen verletzte; zwei mussten sogar in die Notaufnahme eingeliefert werden.
Viele machten zum ersten Mal derartige Erfahrungen mit der Polizei. Am 3. November wurde eine Demonstration gegen Polizeigewalt organisiert, auf der einer der Redner sagte: „Sie haben Tausende ihres Rechts zu protestieren beraubt. Menschen wurden verletzt, traumatisiert. Die Polizei gefährdeten Personen, statt sie zu schützen.”
Dies ist einer von mehreren Erfahrungen, welche zur Radikalisierung der Jugend beiträgt, die immer mehr beginnt, das System zu hinterfragen. Dabei ist es kein Zufall, dass sich dies über die Wohnungsfrage ausdrückt.
Ein Eigenheim kostet in den Niederlanden durchschnittlich 410.000 € und ist damit insbesondere für junge ArbeiterInnen und StudentInnen keine Perspektive mehr. Große Immobilienfirmen, die ganze Wohnblöcke aufkaufen, um sie teuer weiterzuvermieten, lassen die Preisspirale weiter eskalieren.
Auch Mieten werden zunehmend unleistbar. Zwischen 2013 und 2018 gingen die Anzahl der Sozialwohnungen um 100.000 zurück. Hunderttausende stehen jahrelang – manche sogar über 17 Jahre – auf Wartelisten für Sozialwohnungen. Gleichzeitig ist die Obdachlosigkeit die letzten Jahre um 75% auf geschätzte 40.000 angestiegen. Die Anzahl der Personen in temporären Unterkünften ist fast doppelt so hoch.
Die Mietsituation im Privatsektor ist klarerweise noch katastrophaler. In den meisten Fällen beträgt die Miete die Hälfte des Einkommens. So ist die Anzahl der 20-35-Jährigen, die noch bei ihren Eltern wohnen, inzwischen auf bis zu 900.000 angewachsen.
Hat die Elterngeneration früher noch mittels billiger Kreditsysteme eher eine Wohnung kaufen können, haben sich diese staatlichen Anreize nun in sein Gegenteil verkehrt. Mit dem Ausbruch der Kreditkrise 2008 wurde der Wohnungsbau mehrere Jahre nahezu gestoppt, weil er aufgrund der Krise wenig profitabel war. Am Bedarf an leistbarem Wohnraum änderte sich natürlich nichts.
All das zeigt das absolute Versagen des Kapitalismus, der konsequent Profit vor soziale Bedürfnisse stellt. Die Jugend hat in diesem System keine Zukunft und beginnt ihre Schlüsse zu ziehen. Wie unsere niederländischen GenossInnen berichten, haben sie seit Jahren keine so radikale Stimmung erlebt wie auf den jüngsten Protesten und ihre Forderungen nach Enteignung der Immobilienspekulanten und Baukonzerne sowie der großen Banken stießen auf breite Zustimmung.
(Funke Nr. 199/10.12.2021)