Erdogans Regime steht in der Türkei mit dem Rücken an der Wand. Doch während seine Unterstützung immer mehr zusammenbricht, bietet die Opposition keinerlei Alternative. Von Florian Keller.

 Wenn man heute auf der Welt nach einem Beispiel für eine „überhitzte Wirtschaft“ sucht, wird man an der Türkei nicht vorbeikommen. Das Wirtschaftswachstum ist hoch, im Moment beträgt es ca. 7,2%. Ein Grund dafür ist die explodierende Inflationsrate, die die Reallöhne der ArbeiterInnen extrem drückt und so z.B. Exporte stark verbilligt und die Wirtschaft „wettbewerbsfähig“ macht. Die Inflation beträgt mittlerweile offiziell 70%, in Wirklichkeit dürfte sie laut ExpertInnen wohl sogar bei 156% liegen. Preise für viele Lebensmittel haben sich sogar verdreifacht.

Bei so hohen Inflationsraten würde die Zentralbank normalerweise den Leitzins stark anheben. Kurz gesagt hat das folgenden Zweck: Mit hohen Leitzinsen wird weniger Geld von der Zentralbank ausgeliehen und damit die Menge des in Zirkulation befindlichen Geldes verringert. Das senkt die Inflation, aber es wird so gleichzeitig auch die Wirtschaftstätigkeit reduziert (und damit das Wachstum). Doch die Politik der türkischen Zentralbank zeigt an, dass das Regime fest dazu entschlossen ist, kurzfristig unter allen Umständen einen Wirtschaftseinbruch zu vermeiden. Der Leitzins beträgt derzeit 14%, was sogar noch eine Senkung im Vergleich zum letzten Jahr ist und weit unter der Inflation liegt. Das bedeutet eine de Facto-Politik der extremen Negativzinsen, was die Wirtschaft zusätzlich künstlich enorm aufbläht.

Die hohe Inflation bedeutet gleichzeitig, dass die Bedienung der Schulden in ausländischen Währungen immer schwieriger wird – eine massive Pleitewelle türkischer Unternehmen droht, auch eine Staatspleite wird immer wahrscheinlicher. So gleicht die türkische Wirtschaft einem Auto, das auf eine Reihe verschiedener Betonpfeilern zurast und dabei immer weiter auf das Gaspedal drückt. Die Frage ist nicht ob, sondern wann sie mit voller Wucht in einen dieser Pfeiler hereinrast.

Perspektivlosigkeit oder revolutionäre Alternative?

Unter diesen Bedingungen ist es kein Wunder, dass das AKP-Regime einen immer größeren Teil seiner sozialen Basis verliert und in den Umfragen immer weiter abstürzt. Seit Beginn des Jahres fegt eine Welle von massiven Streiks gegen die Lohnverluste und von spontanen Demonstrationen durch das Land (wir berichteten, Funke Nr. 201). Auch viele Proteste von StudentInnen, PensionistInnen und BäuerInnen sind mittlerweile ausgebrochen.

Dass Erdogan sich unter diesen Umständen überhaupt noch an der Macht halten kann, liegt vor allem am Fehlen einer wirklichen Opposition. Die größte Oppositionspartei, die kemalistische CHP, versucht mit aller Macht ein Bündnis aller bürgerlichen Kräfte gegen Erdogan aus nationalistischen und konservativen Kräften zusammenzuzimmern. Das Ziel ist, Erdogan abzulösen, aber ohne dabei mit einer anderen Politik eine Lösung für die Probleme der Massen zu bieten – und sie auf keinen Fall auf der Straße zu mobilisieren, sondern höchstens zur Wahlurne.

Die linke HDP mit ihrer starken Basis unter den unterdrückten KurdInnen hätte das Potential, dieser Alternativlosigkeit mit einem sozialistischen Programm, das türkische und kurdische ArbeiterInnen im Kampf für die gemeinsamen sozialen Interessen und gegen Unterdrückung vereinigt, etwas entgegenzusetzen. Nichts fürchten Erdogan und Co. mehr als das. Doch leider hat die HDP bisher hauptsächlich versucht, sich dem bürgerlichen „Bündnis der Nation“ anzuschließen, anstatt eine eigenständige, sozialistische Opposition zu bilden und die Massen zum Widerstand zu mobilisieren.

Doch so oder so wird sich die Arbeiterklasse auf ihre langen revolutionären Traditionen besinnen. Und dabei wird der Kampf ums Ganze gehen. Denn die möglichen Szenarios liegen in der Türkei so deutlich auf dem Tisch wie sonst kaum wo – entweder kapitalistische Barbarei mit Massenverarmung bis zum Hunger, Staatsterror und Bürgerkrieg zwischen den Völkern, oder eine sozialistische Revolution, die dieses ganze reaktionäre Gebäude ein für alle Mal beseitigt.

(Funke Nr. 204/31.5.2022)


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