Großbritannien. Monate und Jahre von Krisen, Skandalen und Instabilität mündeten Anfang Juli im Rückzug von Großbritanniens Premier, Boris Johnson. Damit wird allerdings keine Ruhe in den permanenten Krisenzyklus einkehren, sondern nur das nächste Kapitel aufgeschlagen. Von Felix Bernfeld.
Unmittelbarer Auslöser war eine Missbrauchsaffäre in den oberen Rängen der konservativen Partei. Darauf folgten beinahe im Minutentakt Rücktritte aus dem Kabinett, bis zum Schluss außer dem Premierminister kaum mehr jemand übrig war. Tatsächlich war das aber nur der letzte Vorwand. Schon letzten Monat musste er sich einem Misstrauensvotum aus den eigenen Reihen stellen, nachdem die Konservativen in den letzten beiden Nachwahlen satte Niederlagen einstecken mussten.
Aber schon die Suche nach einem Nachfolger wird das Chaos nur verschärfen. Im Ringen um die Nachfolge Johnsons werden die letzten Reste der moderaten, bürgerlichen Vernunft in einem Trommelfeuer an Demagogie und Hetze untergehen. Unter diesen Voraussetzungen könnten die Bürgerlichen mit vorgezogenen Neuwahlen liebäugeln, und auf Labour-Chef Keir Starmer orientieren, der in der Praxis stets beweist, dass er ein verlässlicher Partner für das britische Kapital ist.
Das Wiedererwachen der Arbeiterklasse
Jüngstes Beispiel ist seine Opposition zum Eisenbahnerstreik Ende Juni. Im Angesicht der Inflationsrate von etwa 10% forderte die RMT (Rail, Maritime and Transport Union) eine Lohnerhöhung von 7%. Diese moderate Forderung wurde von den Eisenbahn-Baronen abgelehnt, die im Gegenzug eine zynische Lohnerhöhung von 2% anboten, wobei sie in Aussicht stellten, noch ein weiteres Prozent springen zu lassen, falls die Gewerkschaft Personaleinsparungen akzeptieren würde. Die RMT kündigte daraufhin drei Streiktage an.
Sofort zogen die Bosse, die konservative Regierung und die kapitalistischen Medien in einen unerbittlichen Kampf gegen die EisenbahnerInnen. Denn allen ist bewusst, dass ein Sieg der EisenbahnerInnen als Zeichen gesehen wird, in anderen Sparten ebenfalls für hohe Lohnabschlüsse zu kämpfen und zu streiken, sollte dies nötig sein. Die Boulevardzeitung Sun titelte mit „It’s class war“, und ausnahmsweise sollte sie hier recht behalten. Die Medien und Bosse verbreiteten Lügen und sprachen von „freiwilligem“ Personalabbau durch KollegInnen, die in die Pension gehen wollen. Dabei liegen bereits Dokumente für konkrete Personalkürzungen vor.
Die Streiks haben schlussendlich 80% des Zugverkehrs zum Stillstand gebracht. Trotz der bürgerlichen Propaganda-Kampagne und den Störungen im täglichen Leben sympathisieren 62% der Öffentlichkeit mit den streikenden ArbeiterInnen! Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die RMT in ihren öffentlichen Auftritten betonte, dass die gesamte Arbeiterklasse unter der Inflation und den gierigen Bossen leidet und sich ebenfalls zu Wehr setzen müsse. Auch bei den Streikposten war die Solidarität der Bevölkerung und die kämpferische Stimmung der EisenbahnerInnen spürbar. Die Labour-Führung stellte sich hingegen auf die Seite der Bosse und unterstützte die Streiks nicht. David Lammy, der designierte Außenminister im Schattenkabinett, bringt deren Mentalität auf den Punkt: „eine ernsthafte Regierungspartei hat auf den Streikposten nichts verloren.“
Der Streik der Eisenbahner ist kein isoliertes Phänomen, sondern der Wendepunkt, mit dem wir in eine neue Periode von Klassenkämpfen eintreten. Nachdem es nach wie vor keine Einigung gibt, ist hier mit weiteren Streiks zu rechnen. Gleichzeitig sind Streiks beim Lehrpersonal, bei den Anwälten, Ärzten, Beamten, bei der Royal Mail und im Telekommunikationsbereich in Planung oder bereits im Gange.
Ein Generalstreik der gesamten Arbeiterklasse gegen das Kapital und seine Regierung, wer auch immer sie jetzt übernehmen wird, ist notwendig und in der Situation angelegt! Letztendlich können diese Kämpfe aber nur erfolgreich sein, wenn sie sich gegen das System als Ganzes richten und mit einem sozialistischen Programm verknüpft werden.
(Funke Nr. 205/13.7.2022)