Die versiegenden Energieflüsse und die Angst vor sozialer Destabilisierung und Klassenkampf wegen der ansteigenden Inflation setzen die herrschende Klasse in Europa massiv unter Druck. Die Überlegenheit der russischen Armee lässt zudem ihre deklarierten Kriegsziele in der Ukraine in weite Ferne rücken. Von Emanuel Tomaselli.

 Die Internationalisierung und Intensivierung des seit acht Jahren andauernden Krieges in der Ukraine durch die am 26. Februar begonnene Invasion der russischen Armee stellt einen Wendepunkt in der Weltsituation dar, der durch vorangegangene Krisen und graduelle Veränderungen im Weltkapitalismus vorbereitet wurde. Je länger der Krieg dauert, desto mächtiger erzwingt er selbst Umbrüche im Welthandel, in den politischen Beziehungen zwischen den bürgerlichen Regimen und innerhalb ihrer Bündnisse (NATO, EU, EURO-Zone…) und in den Beziehungen zwischen den Klassen. Oder kurz gesagt: Die politische und soziale Stabilität der bürgerlichen Regime ist am Kippen. Das schwächste Glied in diesem Prozess ist dabei nicht Russland (wie uns die Propaganda unserer herrschenden Klasse weismachen will), sondern vielmehr Europa.

Fäulnis des Kapitalismus

Wir leben in einer historischen Epoche der Kriege, Wirtschaftskrisen, Revolutionen und Konterrevolutionen. Die Finanzkrise von 2008 beantworteten die Herrschenden noch mit einer global abgestimmten Strategie. Unter dem Motto „too big to fail“ wurden die Banken gerettet, die Krise des Kapitalismus durch eine Schuldenexplosion und Gelddrucken überdeckt und ihre volle Entfaltung hinausgeschoben. Der Preis dafür war hoch: Der Gesamtschuldenstand liegt heute weltweit bei 360% des globalen BIP, und die Zentralbanken der Welt sind machtlos, mit den Mitteln der Geldpolitik dämpfend auf die Inflation einzuwirken, ohne die Wirtschaft zum Einsturz zu bringen. Gleichzeitig wurde aber die Ära des freien Welthandels sukzessive beendet. Jede herrschende Klasse versucht heute ihren Profit und die soziale Stabilität im eigenen Land in Konkurrenz zu den Kapitalisten anderer Länder und Blöcke zu sichern. Die Ausweitung des Welthandels, über Jahrzehnte der Motor des Wirtschaftswachstums, kam zum Stillstand. Hier kursorisch einige Eckpunkte und Auswirkungen dieser multiplen Krisen-Entwicklungen:

  • das Auftreten zentrifugaler Kräfte in der EU und im EURO-Raum (die griechische Staatsschuldenkrise (2010-15), der Brexit (2020) sowie die Unfähigkeit der EU seit dem Beitritt Kroatiens im Jahr 2013 am Balkan und in Osteuropa weiter zu expandieren).
  • die Niederlagen der USA im Irak und Afghanistan als Ausdruck der schwindenden Macht der seit dem Zweiten Weltkrieg dominierenden imperialistischen Supermacht.
  • das drei Jahrzehnte lang ununterbrochene Wirtschaftswachstum Chinas, seine zentrale Rolle im Welthandel, womit China zu einer imperialistischen Macht inklusive stark wachsender Militärausgaben aufstieg.
  • die Stabilisierung des russischen Kapitalismus in den letzten 20 Jahren, verbunden mit einer Reihe von Militärinterventionen.
  • die Zunahme „lokaler“ imperialistischer Kriege und Interventionen im Kampf um Einflusszonen, insbesondere in Afrika, die Unmöglichkeit der USA, ihre Interessen im Nahen Osten durchzusetzen, das Scheitern der USA bei den Versuchen, in Venezuela, Kuba, Bolivien und im Iran einen „regime change“ herbeizuführen, der Aufstieg regionaler Mächte (Türkei, Indien, erdölproduzierende Staaten am Golf).
  • die COVID-Krise bildete einen ersten Kumulationspunkt: die Unterbrechung globaler Lieferketten (durch Lockdowns und politische Interventionen), die zunehmende Zerrüttung der Geld- und Fiskalpolitik durch eine neue massive Geldschwemme durch die Zentralbanken und eine Ausweitung der Staatsschulden bei gleichzeitigem Einbruch der Produktion und dem Konsum, was die Basis für die Entstehung einer globalen inflationären Welle ab Sommer/Herbst 2021 legte.
  • der Protektionismus, der bereits vor dieser Krise das Haupt erhob (Stichwort: „America first“, anti-chinesische Schutzzölle der EU und der USA), wird nun zur zentralen politischen Strategie, die allen herrschenden Klassen weltweit durch die steigenden imperialistischen Widersprüche aufgezwungen wurde, von ihnen jetzt aber auch immer mehr bewusst vorangetrieben wird. So schreibt die EU-Kommission: „Durch die Pandemie entstand aber auch ein größeres Bewusstsein dafür, dass strategische Abhängigkeiten sowohl technologischer als auch industrieller Natur analysiert werden müssen und etwas dagegen unternommen werden muss.“ (5.5.21, Update der Industriestrategie)
  • der Ukraine-Krieg ist gewissermaßen der Zufall, der die angelegten Widersprüche des Weltkapitalismus insbesondere in Europa auf neue Spitzen treibt.

Wandelndes Kriegsglück

Die erste Phase des russischen Angriffs basierte auf der politischen Fehleinschätzung Moskaus, man könne mit einer begrenzten Militäraktion rasch die eigenen politischen Interessen in der Ukraine durchsetzen. Der anhaltende militärische Widerstand der ukrainischen Armee zwang dem Kreml eine neue Strategie auf, die seit Ende April erfolgreich umgesetzt wird. Die russische Kriegsführung konzentriert sich seither auf Eroberungen im Donbas, also die östlichen Regionen der Ukraine, und auf die systematische Zerstörung der ukrainischen Armee durch massiven Einsatz von Langstreckenwaffen. Die Wirtschaft des Donbas (Technologie, Schwerindustrie) ist auf den russischen Markt orientiert (der Westen bietet keinen Markt für ex-sowjetische Technologie), und diese Regionen sind auch mehrheitlich russischsprachig. Diese Faktoren geben der russischen Führung zusätzliche Vorteile – Vorteile, die sie in der Region Kiew im März (zu ihrer Überraschung) nicht vorfand.

Jetzt im Sommer sind die westlichen Mächte in der Defensive. Solange die Ukraine militärisch standhalten und sogar große Geländerückgewinne erzielen konnte, strotzte der „Westen“ vor Selbstbewusstsein. Die USA, GB und EU-Mitgliedstaaten verständigten sich darauf, Russland in diesem Krieg in die Knie zu zwingen. Den Blutzoll dafür sollte die ukrainische Bevölkerung leisten, das Geld und die Waffen liefert der Westen. Die USA orchestrierte ein Sanktionspaket nach dem anderen, das von der EU linientreu übernommen wurde. Politische Unterstützung dafür erfuhren die USA insbesondere in den osteuropäischen EU-Staaten (Polen, das Baltikum, Bulgarien), in der Brüsseler EU-Kommission und europaweit von den Grünen und den Liberalen, die die politische Speerspitze der Kriegstreiber im deutschsprachigen Raum bilden. Das angebliche politische Ziel dieser Sanktionen war die Verteidigung der Demokratie in der Ukraine, die Schwächung der russischen Militärindustrie und die Provokation von Aufständen gegen Putin in Russland.

Wir können hier festhalten, dass alle diese Ziele verfehlt wurden und sich ins Gegenteil verkehrt haben. Die Sanktionen des Westens haben bisher die eigene wirtschaftliche Stabilität mehr untergraben als jene Russlands, das erfolgreich seine Warenströme nach China und Indien umlenkt und wegen der hohen Rohstoffpreise einen satten Budget- und Handelsüberschuss erzielt. Dies erlaubt es dem Kreml, die sozialen und wirtschaftlichen Effekte des Krieges (es wird erwartet, dass die russische Wirtschaft heuer um 8% einbricht) abzufedern und sich so Zeit zu erkaufen. Eine Einschränkung der militärischen Kapazitäten Russlands ist bislang nicht zu bemerken, und politisch herrscht unter den russischen Massen ein Gefühl, das die russischen MarxistInnen als „passiven Patriotismus“ beschreiben. Die Sanktionen bringen die russischen Massen nicht gegen das Regime auf, sondern sind einer der politischen Faktoren, der die anfangs starke Antikriegsbewegung an die Wand drückte.

Europa und der kalte Winter

Umgekehrt setzt auch Russland seine Stellung als großer Exporteur lebenswichtiger Grundstoffe (Energie jeder Form: Erdgas, Erdöl, Atombrennstoffe, Kohle, Strom; Nahrungsmittel, Dünger, spezifische Werkstoffe) immer gezielter politisch ein. Den Anfang machte ein Exportstopp von Gas für Länder, die die geforderte Bezahlung in Rubel verweigerten. Seit 13. Juni reduziert die Gazprom die georderten Mengen in der Nordstream-Pipeline im Ausmaß von 40-60%. Die zweite große Versorgungslinie (Transgas) führt über die Ukraine nach Tschechien und nach Österreich (und von hier weiter nach Slowenien, Italien und andere Länder). Hier ist der Gasfluss durch „technische Probleme“ in der Ukraine seit April reduziert. Die russischen Gaslieferungen nach Europa liegen im Juni 2022 tatsächlich bei weniger als 25% der Liefermenge des Vorjahres und erzielen dabei dieselben Verkaufserlöse wie vor einem Jahr.

Die ursprüngliche Idee der EU, dass die USA oder die Golfstaaten als Lieferant einspringen könnten, lässt sich angesichts der tatsächlich verfügbaren Mengen nicht verwirklichen. Technische Probleme wie die Explosion von zwei Flüssiggasverladehäfen in den USA (im Juni und Juli) senken das Preisniveau von Energie in den USA (was dort politisch positiv aufgenommen wird) und verringert die Energielieferungen nach Europa. Dies heißt konkret: Die Energieversorgung der EU ist diesen Winter vom direkten Kriegsgegner Russland und auch vom Regime in Kiew abhängig, das auch die Energielieferungen als Druckmittel für militärische Unterstützung einsetzt.

Panik auf der Titanic

Die Internationale Energieagentur rief europäische Staaten auf, sich auf den Totalausfall russischer Energie vorzubereiten und attestierte, dass die bisher ergriffenen Maßnahmen nicht ausreichen würden, um die europäische Energieversorgung aufrechtzuerhalten. Ungeachtet dessen, in welcher Schärfe sich diese Frage im Winter stellt, wird die Inflation jedenfalls zu sozialen Spannungen und radikalen Bewegungen führen. In den Niederlanden sind Bauern in einen Lieferstreik getreten, in Albanien sind Hunderttausende auf der Straße, dies sind nur die Vorboten eines „Winters der Unzufriedenheit“ in Europa.

Unter diesem Druck versuchen die Regierungen von Deutschland, Frankreich und Italien die Kriegssituation zu deeskalieren. Das führt aber zu neuen Widersprüchen. Washington und London investieren am meisten in den Krieg, und ihre politischen EU-Vasallenstaaten Polen und das Baltikum sind Kriegsfalken. Alles was einer Niederlage der Ukraine gleichkommt, wird die Position Deutschlands in Osteuropa und am Balkan auf die eine oder die andere Art schwächen.

Diese Schwächung und Spaltung der herrschenden Klassen in Europa sind Vorbedingungen und Vorboten revolutionärer Massenbewegungen in Europa. Das kapitalistische System steckt in der Sackgasse und jede politische Entscheidung, die den Herrschenden aus den Widersprüchen ihres eigenen Systems aufgezwungen wird, wird keine Lösung bieten, sondern bestenfalls das „geringere Übel“ sein.

Die Herrschenden lenken das Interesse der Massen in jedem Krieg auf den Sieg oder die Niederlage der „Nation“. Wir verstehen, dass die Arbeiterklasse aller Nationen im Krieg zwischen den imperialistischen Räubern nur verlieren kann und der Klassenkampf gegen die eigene Bourgeoisie das wirksamste Mittel ist, um die Kriegsanstrengungen zu behindern. In diesem Sinne sagen die MarxistInnen der International Marxist Tendency (IMT) seit Anbeginn des Krieges: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“.

(Funke Nr. 205/13.7.2022)


Unsere Arbeit kostet Geld. Dabei sind wir exklusiv auf die Unterstützung unserer LeserInnen und UnterstützerInnen angewiesen. Wenn dir dieser Artikel gefallen hat, zögere nicht und lass uns deine Solidarität spüren. Ob groß oder klein, jeder Betrag hilft und wird wertgeschätzt.

Der Funke  |  IBAN: AT48 1513 3009 5102 5576  |  BIC: OBKLAT2L

Artikel aus der Kategorie