Ex-Jugoslawien. Die imperialistische Zuspitzung rund um den Ukrainekrieg reißt auch auf dem Balkan nichtverheilte Wunden auf. Tobias Reinhard über die aktuelle Lage in Bosnien.
Die kapitalistische Restauration und die Zerstörung Jugoslawiens war nur durch die Entfachung blutiger nationalistischer Kriege und Konflikte möglich, diese Barbarei begann vor genau 31 Jahren und zieht sich bis heute. In Bosnien – in sich ein Klein-Jugoslawien aller Balkan-Nationen und einer besonders tiefen Identifikation mit dem sozialistischen Jugoslawien und dem selbstständigen Sieg der Partisanen über die Invasionsarmeen – erfolgte die Zerteilung gegen den offenen Widerstand der Arbeiterklasse. Noch am Vorabend des mehrjährigen Krieges Ende 1991 gingen in Sarajewo Hunderttausende für die Einheit auf die Straße. Doch der Imperialismus und seine lokalen nationalistischen Lakaien zogen Bosnien in einen besonders blutigen dreijährigen Geschwisterkrieg. Dieser endete mit einer direkten Intervention der NATO (die USA musste sich ihre Einflusszone in Ex-Jugoslawien noch sichern, nachdem die europäischen Räuber sich bereits bedient hatten) und der Errichtung einer Kolonie namens „Bosnien-Herzegowina“.
Diesem Staat steht ein „Hoher Repräsentant“ vor, ein Statthalter des Westens. Nach innen ist dieser Staat in zwei Entitäten, die Republika Srpska (RS) und die Föderation von Bosnien und Herzegowina (früher: Bosniakisch-Kroatische Föderation), sowie zahlreiche Kantone gespalten. All dies erfolgt auf Basis „ethnischer“ Kriterien. Wer die reaktionäre Rolle der identitätspolitischen Spaltungspolitik studieren will, findet in Bosnien dafür die angewandte Praxis: Nationale und religiöse Identitäten werden von Kirchen, NGOs und Intellektuellen kreiert, die ehemaligen Warlords wurden zu Politikern und über allen steht die Macht des Imperialismus, der mit seinen Programmen und Armeen das angeblich zivilisierte Zusammenleben der neugeschaffenen Ethnien gewährleistet.
Mit Ende des Krieges strömten die westlichen Kriegsgewinnler ins Land, um ihr nationales Kapital gewinnbringend zu investieren. Hier taten sich vor allem österreichische Banken und Versicherungen hervor. Heute ist Bosnien auch ein beliebtes Niedriglohnland und tausende Jugendliche arbeiten im Homeoffice für internationale Konzerne.
Imperialistische Interessen – diplomatischer Terror
Die eingespielte Machtbalance gerät jetzt im Zuge der internationalen imperialistischen Zuspitzung unter Druck. Österreich verdoppelte sofort nach dem russischen Angriff auf die Ukraine sein Kontingent an EUFOR-Soldaten und Deutschland hat seit einem Jahrzehnt das erste Mal Soldaten nach Bosnien entsandt. Die USA sieht ferner die Option, NATO-Truppen in Bosnien zu stationieren. Damit ist Bosnien mit einer ganz neuen Qualität der Einflussnahme auf ihre Politik konfrontiert.
Ein anderer Ausdruck ist das neue Wahlgesetz, das der Hohe Repräsentant Christian Schmidt vor den Wahlen im Oktober durchsetzen will. Im Kern geht es dabei darum, kroatisch-ethnischen Parteien eine größere Rolle einzuräumen. In diesen sieht der transatlantische Imperialismus seine stabilsten Lakaien. Deshalb trudeln auch jetzt wieder sogenannte „Wahlbeobachter“ in Bosnien ein, um für die Wahl im Oktober möglichst früh ihre nationalen Interessen zu disponieren. Es demonstrierten 7000 Bosnier gegen dieses Gesetz vor der deutschen Botschaft in Sarajewo.
Fäden entwirren: warum HDZ?
In der EU selbst gab es Protestrufe gegen diesen Vorstoß Deutschlands. Hingegen kommt harte Rückendeckung aus den USA, die seit langem an der Seite der kroatisch-nationalistischen Partei HDZ für diese Reform lobbyierte und seit dem Krieg in der Ukraine viel aggressiver verbündete Staaten in ihren Einflusskreis ziehen möchte. Genau dieses Spiel um Einfluss radikalisiert sich jetzt am Balkan. Neben der USA, Deutschland und Österreich, als dem größten Investor in Bosnien, sind es vor allem Russland und China, die als direkte Gegenspieler der westlichen Kapitalinteressen wirtschaftliche und politische Ziele verfolgen.
Die von Milorad Dodik geführte RS orientiert sich hingegen an Russland. Dodik droht mit der Einführung einer eigenen Steuerpolitik und dem Aufbau einer eigenen Armee, um sich dem Einflussbereich des westlichen Kapitals in der Republika Srpska zu entziehen. Waffenlieferungen, Kredite und ein neues Gaspipelineprojekt aus Russland machen das zu einem möglichen Szenario, auf das westliche Imperialisten reagieren müssen.
Mit der Zuspitzung der Weltsituation, der imperialistischen Neuverteilung umstrittener Märkte, driftet der Streit um das gespaltene Bosnien in eine neue Aggressivität. Derselbe Prozess spiegelt sich in der Zuspitzung der Konflikte im Kosovo und Nordmazedonien wider.
Klassenkampf
Die soziale Lage der Arbeiterklasse in Bosnien ist am Tiefpunkt. Die Arbeitslosenrate liegt bei knapp 25%. 73% der Arbeiter leben mit einem Einkommen von unter 400€ und damit in relativer Armut. Noch schlechter geht es Rentnern, die mit unter 200€ auskommen müssen. Die hohe Inflation treibt weitere Teile der Bevölkerung in die Armut. Der Raubbau an Ressourcen und die Schadstoffe der Industrie zerstören die Lebensqualität enorm. Umweltschutz ist praktisch nicht vorhanden und wird durch Korruption und die mafiösen Strukturen der Regierungen torpediert. Gleichzeitig zwingen die ausländischen Investoren die bosnische Politik zum Abbau des Sozialstaates.
Mit Ende 2021 sollte der Kohleabbau in Tuzla zurückgefahren werden. Neben Stellenabbau sollten auch die Löhne gekürzt werden. Trotz faktischem Streikverbot kam es zu einem Streik praktisch aller Minenarbeiter. Vor dem Regierungsgebäude in Sarajewo wurden von mehreren tausend Kumpels ein Protestcamp eingerichtet und weite Teile der Bevölkerung solidarisierten sich mit dem Streik. Die Regierung sah sich gezwungen, ihren Forderungen nachzugeben. Seither ist es immer wieder zu Streikbewegungen und Betriebskämpfen gekommen, die, wie beim österreichischen Betrieb REMUS, zu einem umfassenden Sieg der Belegschaft führten. Die überwältigende Einheit und Streikbeteiligung der Belegschaft war der entscheidende Faktor für den erfolgreichen Kampf.
Die Einheit der Arbeiterklasse wird ständig aktiv untergraben: Im Sommer dieses Jahres verwüsteten kroatische Faschisten in einer mehrstündigen nächtlichen Arbeit das Partisanendenkmal von Mostar. Ebenfalls im Sommer dieses Jahres verbot die serbisch-nationalistische Partei den Marsch der „Weißen Armbinden“, der an die Massaker an Muslimen im Bosnien-Krieg erinnert.
Bewegungen in Bosnien werden grundsätzlich von den nationalistischen Apparaten vereinnahmt, mit dem Ziel, sie gegen andere Volksgruppen zu mobilisieren. Dabei haben die Menschen im Land das Spiel schon lange durchschaut. Die traditionellen politischen Parteien genießen keine Unterstützung mehr und der Konflikt besteht heute nur noch, weil der Imperialismus die nationalistischen Bourgeoisien hegt und pflegt.
Die Genossen der IMT in Ex-Jugoslawien stehen für eine neue sozialistische Föderation des Balkans. Nur die Einheit der Arbeiterklasse kann die nationalistische Spaltung und damit die imperialistische Dominanz des Balkans brechen und das ganze Potential der Region zum Wohl der Menschen heben.
(Funke Nr. 206/30.8.2022)