In Prag hat am 3. September eine Demonstration gegen die rechtsgerichtete Koalitionsregierung von Petr Fiala stattgefunden. Von Filip Apolin und Mirko Honcovic.

 Bis zu 100.000 Menschen haben sich am Wenzelsplatz versammelt um unter anderem gegen die Teuerungsexplosion und die tschechische Beteiligung am Stellvertreterkrieg der NATO mit Russland zu protestieren.

Die massive Beteiligung hat alle überrascht: die Regierung, die Oppositionsparteien, die Gewerkschaften und sogar die (reaktionären) Organisatoren selbst, die in der Vergangenheit nur wenige Hundert zu Anti-Impf-Protesten mobilisieren konnten.

Fiala versucht im Einklang mit allen anderen liberalen Kräften, den gesamten Unmut als Ergebnis russischer Propaganda herunterzuspielen und warnt davor, dass Faschisten oder „Putinfreunde“ in der Bewegung den Ton angeben und die Massen für sich gewinnen könnten. Solche Elemente gibt es, aber sie spielten keine dominante Rolle. In der Tat gab es keine politische Gruppierung, die diese Demonstration angeführt hätte. Es war ein spontanes Ereignis, an dem sich alle Schichten der Gesellschaft beteiligten.

Um den massenhaften Charakter dieser Demonstration verstehen zu können, muss man sich fragen, was ihr vorausgegangen ist. Seit den letzten Wahlen ist nicht einmal ein Jahr vergangen. Beide traditionellen Arbeiterparteien, die Sozialdemokratie (ČSSD) und die Kommunistische Partei (KSČM), sind damals wohlverdient aus dem Parlament geflogen, weil sie sich den Oligarchen untergeordnet (die ČSSD als Teil der Regierung des Oligarchen Babiš) und keine eigenständige Politik formuliert haben.

In dieser Zeit haben aber auch Fiala und seine Regierung ihre völlige Verachtung für die Arbeiterklasse unter Beweis gestellt. Angesichts einer Inflation von 17,5% und steigender Energiekosten haben sie den tschechischen Arbeitern nur geraten, zusätzliche Pullover zu tragen, um sich zu Hause warm zu halten. Sie forderten die Tschechen auch auf, ihr „friedliches Leiden“ für die ukrainische Sache zu erdulden.

Natürlich trifft das Leiden, von dem sie sprechen, sie und ihre Verbündeten im Großkapital überhaupt nicht. Während den einfachen Menschen gesagt wird, sie sollen zittern und hungern, versucht die Regierung, die Gehälter der Abgeordneten zu erhöhen und bis zu 70% der Energiekosten privater Unternehmen aus dem öffentlichen Haushalt zu decken. Unterdessen beuten die Bosse ukrainische Flüchtlinge eifrig als billige Arbeitskräfte aus. All diese Heuchelei und Ungerechtigkeit haben zu einer massiven Entrüstung geführt.

Bis zu dieser Demonstration war die Arbeiterklasse größtenteils still, passiv gehalten durch die skandalösen Manöver der Gewerkschaftsbürokratie. Unter Josef Středula, dem Vorsitzenden des Tschechischen Gewerkschaftsbundes (ČMKOS), versuchten sie um jeden Preis, den sozialen Frieden aufrechtzuerhalten. Středula war Hauptbefürworter der „Kurzarbeit“ – bei der der Staat die Löhne zahlte, während private Unternehmer ihre Gewinne behalten konnten. Wann immer Unruhen ausbrachen, wie 2021 in den Minen von Liberty Ostrava, lenkte die Gewerkschaftsführung den Frust der Arbeiterklasse in ungefährliche Kanäle, indem sie Demonstrationen abhielten, statt Streiks zu organisieren. Es ist also kein Wunder, dass der Zorn der tschechischen Arbeiterklasse seinen Ausdruck in dieser zufälligen Demonstration gefunden hat.

Die KSČM war die einzige Partei der Linken, die diesen Charakter erkannte und den Protest nicht als „faschistisches Meeting“ abgetan hat. Hastig mobilisierte sie ihre Mitglieder und Unterstützer und organisierte einen kleinen Block auf der Demo, der mit seinen roten Fahnen aus dem Meer tschechischer Nationalflaggen herausstach. Aber um ein tatsächlicher Attraktionspol zu sein, müsste die KP auch ein kommunistisches Programm zur Bewältigung der Probleme der Arbeiterklasse aufstellen, anstatt wie bisher die etablierten bürgerlichen Parteien zu stützen.

Dass diese Proteste von einer Handvoll verwirrter Reaktionäre angestoßen wurden, ist nur dem Fehlen einer ernsthaften Führung der Arbeiterklasse geschuldet. Ohne eine solche kann sich die Bewegungen in alle Richtungen verlaufen – oder vorläufig versanden. Das wäre aber nur eine kurze Erleichterung für die tschechischen Kapitalisten: viel heftigere soziale Explosionen sind in der gegenwärtigen Krise vorprogrammiert. Damit diese aber erfolgreich sein können, muss die tschechische Arbeiterklasse ihre Organisationen zurückerobern und wieder zu Kampfinstrumenten machen, die den Bürgerlichen nicht den Steigbügel halten, sondern das Feuer gegen sie und ihr kapitalistisches System richten. Dafür kämpfen unsere tschechischen GenossInnen von „Marxistická Alternativa“.

(Funke Nr. 207/27.9.2022)


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