Das europäische Schwergewicht Frankreich befindet sich auf dem Weg in die nächste soziale Explosion: Präsident Macron attackiert die Arbeiterklasse bei den Pensionen, und diese reagiert: in Paris und dutzenden anderen Städten gingen 1 Mio. Streikende auf die Straßen. Die Ausweitung der Streikbewegung kann Macron Einhalt gebieten, erklärt Manuel Lins.
Seit seiner erstmaligen Wahl 2017 zählt eine Konterreform im Pensionsbereich zu den Topzielen von Staatspräsident Emmanuel Macron. Nach seiner knappen Wiederwahl im April 2022, die von niedriger Wahlbeteiligung und einem deutlichen Erstarken sowohl der Rechtspopulistin Marine Le Pen als auch des Linksreformisten Jean-Luc Mélenchon geprägt war, scheint für ihn nun der Zeitpunkt gekommen zu sein, das Herzstück seiner reaktionären Agenda durchzudrücken.
Da die französische Wirtschaft nach wie vor an fehlender Wettbewerbsfähigkeit leidet und die Reform in seiner ersten Amtszeit an Massenprotesten scheiterte, will er sie nun schnell und ohne Diskussionen durchsetzen. Geplant sind eine Erhöhung des Pensionsantrittsalters von 62 auf 64 Jahre, eine längere Beitragspflicht von 43 statt bislang 42 Jahren für eine abschlagsfreie Pension, sowie weitere spezifische Verschlechterungen in Sektoren, die sich historisch ein besseres Pensionsrecht erkämpft haben, etwa bei den Eisenbahnern.
Geopolitische Konkurrenz verschärft sich
In Zeiten rekordhoher Inflation, imperialistischer Zuspitzung und einer zunehmend kampfbereiten und wütenden Arbeiterklasse steht die französische Bourgeoisie immer mehr mit dem Rücken zur Wand. Aufgrund sozialer Errungenschaften aus der Vergangenheit (35-Stunden-Woche, das derzeitige Pensionssystem) ist die französische Wirtschaft gegenüber jener des Hauptgegenspielers Deutschland nicht ausreichend konkurrenzfähig. In Deutschland wurde das Pensionsantrittsalter bereits auf 67 Jahre angehoben und ein breiter Niedriglohnsektor geschaffen. Das französische Staatsbudget ist chronisch defizitär (2022: 5,1% des BIP), das Kapital hat also einen klaren Nachholbedarf gegenüber Deutschland.
Der Krieg in der Ukraine verteilt die geopolitischen Karten neu, wobei eine wachsende politische Entfremdung zwischen Frankreich und Deutschland Platz greift. Auf besondere Empörung ist in Paris gestoßen, dass Deutschlands Kanzler Olaf Scholz sich bei Maßnahmen zur Inflationsbekämpfung nicht mit seinen „Partnern“ absprach und im Alleingang den „Doppel-Wumms“ an deutschen Wirtschaftshilfen verkündete; ebenso ist es bezeichnend, dass französische Rüstungskonzerne bei Aufträgen aus dem militärischen Sonderbudget Deutschlands (100 Mrd. Euro!) weitgehend leer ausgehen. Umgekehrt hat Macron für längere Zeit eine Erdgaspipeline blockiert, die algerisches Gas über Spanien und Frankreich nach Deutschland transportieren soll. Folgerichtig sprechen immer mehr Zeitungen davon, dass die „deutsch-französischen Freundschaft“ „klinisch tot“ sei.
Außenpolitisch scheint die französische Regierung eine Kehrtwende vollzogen haben, indem sie bei den Panzerlieferungen an Kiew anderen europäischen Ländern vorangegangen ist. Anscheinend hat man in Paris das Projekt einer strategischen Autonomie Europas zumindest für den Moment aufgegeben, um sich angesichts der neuen Kräfteverhältnisse den USA als bevorzugter Bündnispartner in Europa anzudienen.
Ausdruck dieser verschärften Unterwerfung der europäischen Kapitalisten unter die Ziele der US-Politik sind die Stärkung der NATO und, im Falle Frankreichs, der kürzliche Besuch Macrons bei US-Präsident Joe Biden. Dieser Richtungswechsel erscheint umso überraschender, als dass Macron lange versucht hat, einen guten Draht zu Putin zu halten. In seiner traditionellen Einflusszone im subsaharischen Afrika befindet sich der französische Imperialismus ebenfalls in der Defensive. Egal ob innen – oder außenpolitisch:
Macron sitzt zwischen allen Stühlen und es gibt keinen leichten Ausweg für ihn, weswegen er insbesondere bei der Pensionsreform die Flucht nach vorne einschlägt. Ein Reformverzicht würde bedeuten, dass die französische Wirtschaft weiter zurückfällt; ein Durchziehen der Reform wiederum, dass es zu noch größeren Protestbewegungen als in den letzten Jahren kommen könnte. Regelrecht weltfremd erscheinen dabei Andeutungen Macrons in Interviews, sich ein Referendum über die Pensionsreform vorstellen zu können, was für ihn in einer krachenden Niederlage enden könnte.
Welcher Weg nach vorne?
Die beiden wichtigsten Gewerkschaftsverbände, die radikalere CGT und die CFDT, haben sich darauf geeinigt, gemeinsam zu agieren und Streiks gegen die Pensionsreform zu organisieren, wobei der erste am 19. Januar und mit Unterstützung aller acht Gewerkschaften stattgefunden hat. 400.000 demonstrierten in Paris, 140.000 in Marseille, 45.000 in Nantes, 40.000 in Lyon and 50.000 in Toulouse, um nur die wichtigsten zu nennen. Erste Fachgewerkschaften, darunter die kampferprobten Raffineriearbeiter, haben Streiks angekündigt.
Mélenchons Partei, „La France Insoumise“, der wichtigste politische Ausdruck der „Linken“ im französischen Parlament (wo Macron keine eigene Mehrheit hat), hat für 21.1. zu einer Massenmobilisierung gegen die Pensionsreform und gegen die „gesamte Regierungspolitik“ aufgerufen. Die Spaltung der Arbeiterbewegung in „politische“ und „gewerkschaftliche“ Mobilisierungstage entspringt bürokratischen Logiken der Führungen und schwächt in der Praxis die Bewegung.
Im Wissen darum, dass sich dieses Kräftemessen zwischen der Arbeiterbewegung und der Regierung des Kapitals lange ziehen könnte, wurden im Vorfeld der Streiks bereits die Tankstellen gestürmt und vielerorts war kein Benzin mehr erhältlich. Einzelne Mobilisierungstage werden nicht ausreichen, um Macron von seinen Plänen abzubringen, zu viel steht für das französische Kapital auf Spiel.
Es bedarf einer soliden Streikbewegung, die die wichtigsten Sektoren der französischen Arbeiterklasse umfasst und ohne Zeitlimit so lange kämpft, bis sie den Angriff abgewehrt hat. Aus anfänglich defensiven Abwehraktionen gegen Verschlechterungen können sich offensive Kämpfe entwickeln, jedoch nur unter der Voraussetzung, dass das gesteckte Ziel es wert ist, dafür zu kämpfen. Regelmäßig wird von „La France Insoumise“ und Gewerkschaften die Forderung aufgebracht, zum früheren Pensionsalter von 60 Jahren und 37.5 Beitragsjahren zurückzukehren, dies drückt die wahre Stimmung in der Arbeiterklasse aus.
Die Zeichen stehen gut dafür, dass die französische Arbeiterklasse nach den Massenmobilisierungen 2018 und 2019 („Gelbwesten“ und der letzte Kampf gegen die Pensionsreform) sowie den Lohnstreiks im Herbst 2022 jetzt wieder massenhaft in den Kampf tritt. Wenn die Mobilisierungen gegen die Pensionsreform Erfolg haben sollen, müssen sie in eine kraftvolle Streikbewegung münden, die sich nichts weniger als einen Generalstreik und den Sturz der Macron-Regierung zum Ziel setzt.
(Funke Nr. 210/19.1.2023)