Großbritannien erlebt die größte Streikwelle seit Jahrzehnten. PflegerInnen, Rettungspersonal, das Bodenpersonal der Flughäfen: ständig schließen sich neue Schichten der Arbeiterklasse an. Die Tories reagieren mit Angriffen auf das Streikrecht. Daniel Ghanimi berichtet.
Ende November kam es zu Streiks an den Universitäten. Die Vorweihnachtszeit war von den rollierenden Arbeitsniederlegungen der LokführerInnen und der Postbediensteten geprägt. Im Lauf des Dezembers kam es dann zu Streiks bei den Flughäfen (23. bis 26. Dezember und 28. bis 31.Dezember), den PflegerInnen (15. bis 20. Dezember) und den KrankenwagenfahrerInnen (21. bis 28. Dezember). Die Kampfbereitschaft nimmt zu. Schätzungen der Financial Times gehen von insgesamt mehr als einer Million Streiktage in dieser Streikwelle aus. Die Daten von strikemap.co.uk lassen vermuten, dass dieser Winter die höchste Anzahl von Arbeitsniederlegungen seit dem Sommer 1989 bringen wird. Die britische Arbeiterklasse ist ein schlafender Riese, der langsam, aber sicher erwacht. Wenn die ArbeiterInnen eines Betriebes streiken, ermutigen sie andere, das Gleiche zu tun.
Kämpfen inspiriert
Teuerung und unzumutbare Arbeits- und Sicherheitsbedingungen, besonders in den kaputtgesparten öffentlichen Bereichen. So streikten Mitte Dezember mehr als 10.000 RettungssanitäterInnen, NotärztInnen und KrankenwagenfahrerInnen des staatlichen Gesundheitssystems NHS, nachdem Gesundheitsminister Steve Barclay bei einer Inflation von 11% höchstens 4 % Lohnanpassungen anbot. Das Kampfziel in diesem Sektor lautet jetzt 19% plus.
Während des Streiks warf Barclay den Gewerkschaften vor, sie hätten sich bewusst dafür entschieden, PatientInnen zu schaden. Nachdem das NHS jahrelangen kaputtgespart wurde, ist diese plötzliche Sorge blanke Heuchelei. Derzeit warten mehr als sieben Millionen BritInnen auf Behandlungen bzw. Operationen. Bei Notfällen kommt es zu gefährlich langen Wartezeiten. Für das Pflegepersonal ist das reale Lohnniveau seit 2010 im Durchschnitt um acht Prozent gesunken, in einigen Bereichen sogar um 20 Prozent.
Tories spielen mit dem Feuer
Die konservative Regierung reagiert mit schweren Angriffen auf die Gewerkschaften. Bereits im Dezember sprach Premierminister Rishi Sunak von „neuen Gesetzen“ gegen „unvernünftige Streiks“. Anfang dieses Jahres brachten die Tories eine Gesetzesvorlage ein, die bei Arbeitsniederlegungen in „kritischen Sektoren“ wie dem Transport- und dem Gesundheitswesen ein Minimalbetrieb vorschreibt. Bei Nichtbeachtung drohen Entlassungen. Der „Minimalbetrieb“ wird jedoch nicht definiert. Im Endeffekt wird damit das Grundrecht auf Streik in den betroffenen Sektoren abgeschafft.
Die bürgerlichen Tories spielen hier mit dem Feuer. Eine Verschärfung des bereits repressiven britischen Streikrechts (ein Erbe der Niederlage des Bergarbeiterstreiks 1984/85 und der Regierung Thatcher) ist ein schwerer Angriff auf die gesamte Arbeiterbewegung und dies heizt den Zorn gegen die konservative Regierung zusätzlich an. Der Gewerkschaftsdachverband TUC (vergleichbar mit dem ÖGB) hat für 1. Februar einen Aktionstag angesetzt, der in einigen Sektoren einen Streikcharakter haben wird. Teilgewerkschaften, in denen sich in den vergangenen Jahren kämpferische Strömungen gegen offen sozialpartnerschaftliche durchsetzen, machen Druck für Massenwiderstand zur Verteidigung des Streikrechtes. Die Generalsekretärin von Unite (vergleichbar mit der PROGE), Sharon Graham erklärte: „Wenn [die Tories] unsere legitimen Aktivitäten außerhalb des Gesetzes erzwingen, dann erwarten Sie nicht, dass wir uns an die Regeln halten.“ Oder etwa Matt Wrack, Generalsekretär der Feuerwehrgewerkschaft, der für „eine Massenbewegung des Widerstands gegen diesen autoritären Angriff“ einsteht.
Die Rolle der Gewerkschaftsführung
Bereits auf dem letzten Kongress des TUC gab es starken Druck, branchenübergreifende Aktionen durchzusetzen. Gemeinsame Streiks wären ein großer Schritt vorwärts und würden neue Schichten der Arbeiterklasse dazu motivieren, sich dem Kampf anzuschließen. Doch die Spitze des TUC manövriert, um stabile Beziehungen zum Kapital aufrechtzuerhalten. Man setzt auf „Verhandlungen“, den „parlamentarischen Prozess“ oder die Gerichtshöfe. Doch die Kampfdynamik ist weiter im Steigen begriffen.
Streikbewegungen und Vorbereitungen dafür in der Mehrzahl der Branchen, ein Sparpaket im Ausmaß von 2 % des BIP in Vorbereitung, das Schlittern der britischen Wirtschaft in die Rezession und jetzt politische Angriffe auf das Streikrecht. Alle Zeichen stehen weiter auf Sturm.
Dieses Jahr wird nicht ruhiger werden: Die Idee eines Generalstreiks wird in der Arbeiterbewegung wieder als Tagesfrage diskutiert. Ein solcher hat zuletzt 1926 stattgefunden. Die krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus bahnt einer Entwicklung in diese Richtung den Weg.
Die britischen Genossen von Socialist Appeal erklären:
„Die organisierte Arbeiterklasse sollte sich auf ihre eigene Stärke verlassen – eine Stärke, die sie jetzt wiederentdeckt – und mobilisieren, um diese Tory-Gesetze durch kämpferische, gemeinsame Aktionen in Stücke zu brechen. Nur Methoden des Klassenkampfs – Massenstreiks und Straßenproteste – können die gewerkschaftsfeindlichen Angriffe und die Sparpolitik der Tories besiegen und das kapitalistische System, die Wurzel aller Probleme der Arbeiterklasse, stürzen.“
(Funke Nr. 210/19.1.2023)