Wie in vielen anderen europäischen Ländern geht Belgien seit Monaten durch eine Phase massiver Teuerungen bei Lebensmitteln, Treibstoff, Energie usw. Dies hat jedoch eine Welle von Streiks ausgelöst. Von Erik Demeester (Vonk), Brüssel.

Mit fast 6% ist die Inflationsrate in Belgien noch höher als in anderen EU-Ländern. Die Kaufkraft der Lohnabhängigen schmolz in der jüngsten Zeit wie Schnee in der Frühlingssonne. Lange Zeit warteten sie geduldig auf Maßnahmen der Politik. Doch die Inflation war nicht so geduldig.

Die Zahl der Armen liegt je nach Statistik zwischen 1/7 und einem 1/3 der Bevölkerung. In einer Stadt wie Chaleroi liegt die Lebenserwartung mittlerweile auf dem Niveau von…1955? Ein Fünftel aller Beschäftigten sind „working poor“, ein Phänomen, das man bis vor kurzem nur mit den USA assoziierte.

Und nun diese Teuerungswelle bei Gas und Strom sowie den Lebensmittelpreisen. Die Bürgerlichen sprechen von einer „subjektiv gefühlten Inflation“, als ob das Problem nur in den Köpfen der Menschen bestehen würde. In Wahrheit ist aber ein Problem, das vor allem in den Geldbörsen offensichtlich wird.

In Belgien gibt es noch immer eine gleitende Lohnskala. Sie reicht aber nicht aus, um die Einkommen der Lohnabhängigen zu sichern, weil der „Index“, der Warenkorb, der zur Berechnung der Inflation herangezogen wird, nicht mit der Lebensrealität der Menschen übereinstimmt. Dazu kommt, dass die Bürgerlichen offensiv die gleitende Lohnskala ausgehöhlt haben. Die Löhne werden mittlerweile erst nach vier Monaten an die neue Inflationsrate angepasst. Durch die kalte Steuerprogression werden diese Einkommenszuwächse aber wieder weg gefressen.
Anfang des Jahres war der Punkt erreicht, wo sich die Menschen diese Situation nicht mehr gefallen ließen.

Wilde Streiks

Im Jänner began alles mit einer Welle an “wilden Streiks”. Das war ein typischer Offensivkampf der ArbeiterInnen auf der ökonomischen Ebene. Täglich kam es in einer Fabrik nach der anderen zu Streiks, die Gewerkschaften waren nicht mehr imstande die KollegInnen in den Betrieben zurück zu halten. An der Spitze dieser Bewegung standen vor allem junge ArbeiterInnen mit zeitlich befristeten Arbeitsverträgen. Diese Beschäftigungsformen haben angesichts von „Lean Production“ in den vergangenen Jahren in der Industrie massiv zugenommen.
Die Bedingungen waren günstig für so eine Streikwelle. Die Wirtschaft lief gut, die Auftragsbücher voll, der Arbeitsmarkt war relativ eng, es fehlt an gutem Personal und dazu die enorme Inflation. Die zentrale Forderung der ArbeiterInnen war eine Lohnerhöhung von 1 Euro/Stunde. Die Bosse gaben in de facto allen Fällen sofort klein bei. Dies galt auch für Subunternehmen, die von den Großkonzernen dazu angehalten wurden, die Lage mit Zugeständnissen wieder zu beruhigen.

Doch es sollte anders kommen. Durch die schnellen Zugeständnisse wurden auch andere Belegschaften ermutigt zu kämpfen. Schlussendlich beteiligten sich auch die Kernbelegschaften in Fabriken wie Ford an der Streikwelle. Ausgangspunkt der Streikwelle, die bis in den Juni spürbar war, war die Provinz Limburg, die bisher eher das Image hatte politisch rückständig zu sein. So viele wilde Streiks gab es seit 30 Jahren nicht mehr in Belgien.

Druck von unten

Die Gewerkschaft rief wie gesagt nicht zu diesen Streiks auf. Genau genommen rief niemand zu diesen Streiks auf. Normale ArbeiterInnen diskutierten einfach mit ihren KollegInnen und legten dann die Arbeit nieder. Die Nachricht von einem erfolgreichen Streik in einer benachbarten Fabrik war ausreichend für eine Ausweitung der Bewegung. Selbst Gerüchte genügten oft schon, dass die Bosse – gegen die Vorstellung der belgischen Industriellenvereinigung - Verhandlungen mit der Gewerkschaft suchten und Lohnerhöhungen zustimmten. Allein im März kam es in der flämischen Metallindustrie in 90 Betrieben zu solchen Verhandlungen.

Die Gewerkschaftsspitze bemühte sich die eigenen Betriebsräte zu zwingen ihre KollegInnen unter Kontrolle zu bekommen. Vor allem die sozialdemokratische Gewerkschaft bei Ford spielte in diesem Sinne eine katastrophale Rolle. Ein führender Betriebsrat und Linkssozialist wurde in der Fabrik versetzt und verlor seine Funktion als Betriebsrat, weil er den Streik unterstützte.

Der Druck von unten war jedoch starker! Letztlich mussten Gewerkschaft und Unternehmer die „illegalen“ Streiks anerkennen. Es wurde in vielen Fällen letztlich von der Gewerkschaft sogar Streikgeld ausbezahlt. In den 1970ern war dies noch ganz anders, damals anerkannten die Gewerkschaften die wilden Streiks nicht, was wiederum linksradikalen Strömungen unter den ArbeiterInnen den Boden aufbereitete. Gegenwärtig nahmen die Gewerkschaften dann doch den Druck von unten auf und stellen nun selbst höhere Lohnforderungen und drohen mit Streik.

Öffentlicher Sektor folgt

Dieser Bewegung folgten die Bediensteten im Öffentlichen Sektor, Gemeindebedienstete, die Bediensteten in den Häfen und bei den Schifffahrtskanälen, die eine wichtige Rolle im Transportwesen haben. Mit rollenden Streiks (24 Stunden in jeder Provinz, eine Provinz nach der anderen) erreichten sie eine enorme Wirkung. Die Regionalregierung reagierte prompt auf diese Arbeitsniederlegungen und unterzeichnete einen neuen Kollektivvertrag.

Dann folgten die Eisenbahner mit einem 24-stündigen Generalstreik, wiederum auf Initiative der Basis. Kein Zug rollte mehr im ganzen Land. Mittlerweile wird im Öffentlichen Verkehr auch wegen anderen Problemen (mangelnde Sicherheit usw.) gestreikt.

Aktionswoche der Gewerkschaften

Die Gewerkschaft reagierte auf diese Bewegungen mit einer „Aktionswoche für Kaufkraft“ vom 9.-12. Juni. Damit sollte wohl Dampf abgelassen werden. Von jeder Fabrik sollten bei den von der Gewerkschaft organisierten Demos eine vorher ausgemachte Zahl an TeilnehmerInnen mitmarschieren.

Doch die Reaktion der ArbeiterInnen war unglaublich. In vier Tagen demonstrierten 100.000 ArbeiterInnen im ganzen Land, sowohl in Flandern wie auch in Wallonien. Die Demos waren extrem kämpferisch. Es war ein Zeichen der Klasseinheit über alle Unterschiede zwischen dem flämischen und dem französischen Teil des Landes. So riefen junge flämische Arbeiter der DAF-Fabrik in Antwerpen, die den Demozug anführten, bewusst französische Slogans wie „Tous ensemble“ (Alle Gemeinsam!). Und Antwerpen ist eine der Hochburgen der extremen Rechten, des nationalistischen Vlaams Belang.

Wiederum kam es zu spontanen Streiks in dieser Aktionswoche, obwohl die Gewerkschaft vorher sagte, dass es keine Streiks geben solle. Auf den Demos waren extrem viele junge ArbeiterInnen, die zum ersten Mal an Gewerkschaftsdemos teilnahmen. Wichtige Fabriken konnten in diesen Tagen ihre Produktion nicht oder nur sehr eingeschränkt aufrechterhalten.

Teilweise sabotierten die Gewerkschaften offen die Mobilisierung, doch ohne Erfolg. In einer großen Metallfabrik verteilte ein junger marxistischer Gewerkschaftsaktivist das Gewerkschaftsflugblatt für die Aktionswoche und konnte 80% der Belegschaft für einen Streik gewinnen. Und das trotz Gegenpropaganda durch die Gewerkschaft. Ähnliche Beispiele gab es in der Nahrungsmittelindustrie oder im Öffentlichen Verkehr.

Zehn Tage spatter traten 140.000 Gemeindebedienstete in Flandern in den Streik (darunter Feuerwehr, Spitäler, Büchereien) und forderten 1000 Euro Lohnerhöhung für dieses Jahr. Für die zweite Septemberhälfte ist sogar ein Generalstreik in Planung durch eine der größten sozialistischen Gewerkschaften sollte die Regierung nicht die Mehrwertsteuer auf Energie usw. senken. Und diese Bewegung könnte sich auf andere Gewerkschaften leicht ausdehnen.

Dieser Aufschwung des Klassenkampfes steigert auch das Interesse an den Ideen der Linken in der Sozialistischen Partei (SP.a rood), an deren Spitze der Marxist Erik De Bruyn steht. Die sozialistische Linke beteiligte sich aktiv an den Streiks und Kämpfen der letzten Monate. Sie sind außerdem die einzigen, die in dieser Bewegung auch die Frage der Verstaatlichung des Energiesektors und anderer Schlüsselbereiche der Ökonomie als Basis für eine sozialistische Reorganisierung der Wirtschaft zur Diskussion stellen.

Belgiens ArbeiterInnenbewegung ist von einer neuen Kampffähigkeit gekennzeichnet. Angesichts der drohenden Rezession wird diese schon bald auf die Probe gestellt werden. Die Streiks der vergangenen Monate sind erst der Beginn…


Quelle:
From wildcat strikes to general strike: how Belgium is “catching up”


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