Griechenland steckt in einer tiefen gesellschaftlichen Krise, die unter gängigen marktwirtschaftlich-demokratischen Bedingungen nicht gelöst werden kann.
Die wirtschaftlichen Fakten sind einfach dargestellt: Griechenland steckt im vierten Jahr in Folge in einer tiefen Wirtschafskrise. Im ersten Halbjahr 2011 sank die Wirtschaftsleistung des Landes im Vergleich zum Vorjahr um weitere 7,5%, aufs Jahr gerechnet erwartet die Regierung nun ein Minus von 5,5%. Ende des Jahres werden 22% der erwerbsfähigen Bevölkerung offiziell arbeitslos sein. Das Wegbrechen der Steuereinnahmen im Zuge dieser Krise wird zu einem weiteren Anstieg des Budgetdefizits führen. Damit wird der griechische Staat die vereinbarte Neuverschuldung von 7,5% des BIP in diesem Jahr wieder verfehlen.
Die im Juli vereinbarte „Rettung“ durch die EU kann diese Situation nicht umkehren, da selbst dieser „große Schritt“ den Schuldenstand des Landes nur auf das Niveau von Mai 2010 drücken würde. Das Spiel geht also von vorne los und zwar unter verschlechterten wirtschaftlichen Bedingungen. Dieses Rettungspaket dient so bestenfalls dazu, einen unkontrollierten Bankrott hinauszuzögern, bis alle Staatsschuldentitel des Landes von den Privatbanken an die europäischen SteuerzahlerInnen (an die Nationalbanken und die EZB) weitergereicht worden sind.
Die Massenproteste
Die Bedingungen, die der Kapitalismus heute in der Peripherie Europas bieten kann, stehen den Lebensbedürfnissen der Jugend und der Arbeiterklasse offensichtlich und katastrophal entgegen. Die Bewegung der Empörten in Spanien, Portugal, Israel und insbesondere in Griechenland kämpft nicht nur gegen diese und jene Maßnahme der Regierung, sondern stellt die Systemfrage. Die Menschen protestieren gegen die Bankendiktatur und für eine Revolution. Dieses Programm ist noch sehr roh, aber dies ist angesichts des elementaren Aufbruchs der Menschen aus der Depression und Isolation hinein in eine soziale Massenbewegung anders auch gar nicht vorstellbar.
Die Proteste in Griechenland waren dadurch gekennzeichnet, dass alle sozialen Schichten der Gesellschaft in den Kampf traten. Insgesamt haben 2 Millionen Menschen aktiv an der Bewegung teilgenommen, 81% der Bevölkerung unterstützten laut Umfragen die Proteste. Selbst traditionell reaktionäre Schichten wie selbstständige TaxifahrerInnen (die im Juli drei Wochen in den Streik traten) und LadenbesitzerInnen nahmen an diesen Protesten teil.
Obwohl es sich um eine sozial sehr breite Bewegung handelte, die sich anfangs klar von politischen und gewerkschaftlichen Organisationen distanzierte, nahm die organisierte ArbeiterInnenklasse sehr schnell eine zentrale Stellung in den Protesten ein. Von der Volksversammlung auf dem Syntagma-Platz ging der Ruf nach einem politischen Generalstreik aus. Am 19. und 20. Juni, als die Gewerkschaften zu einem 48-stündigen Generalstreik aufriefen, konnte nur massiver Staatsterror (Prügelpolizei und chemische Waffen in Athen) dafür sorgen, dass Massendemos das Zusammentreten des Parlaments nicht verhinderten.
Ein weiteres wichtiges Element ist, dass die Bewegung die Grenzen der Spontaneität im Massenkampf erkannte und erste Elemente der Selbstorganisierung geschaffen hat. In 64 Städten und Bezirken Griechenlands wurden sogenannte Volksversammlungen abgehalten, die ihre Arbeit auch nach dem Ende der Bewegung weiterführten und beschlossen, die Mobilisierungen ab September weiterzuführen.
Müdigkeit und vor allem Zorn
Nach Wochen heftiger Auseinandersetzungen war es klar, dass die Bewegung eine Pause einlegen würde. Menschen können nicht permanent kämpfen. Zudem agierten die Massengewerkschaften einmal mehr wie ein Bremsklotz und führten den Kampf nicht offensiv. Die Führung der Elektrizitätsbeschäftigten etwa beendete den Streik sofort nach dem Beschluss des massiven Sparpaketes im Parlament mit der Begründung, man dürfe nicht gegen demokratische Beschlüsse vorgehen. Die AktivistInnen und mit ihnen die Mehrheit der Bevölkerung sehen die Situation jedoch weniger durch die parlamentarische Brille. 60 Prozent der Bevölkerung, und eine erstaunliche Zahl von 40 Prozent der ehemaligen WählerInnen der Regierungspartei PASOK befürworten nach einer Umfrage physische Gewalt gegen PASOK-Mandatare. Und dies ist keine leere Drohung. Attacken auf PolitikerInnen gehören heute zum politischen Alltag. Dies ist kein Wunder, wenn man bedenkt, was der soziale Inhalt und das schlagende Argument der griechischen Demokratie ist: Die Banken müssen gerettet und dafür Spitäler geschlossen werden; die Klassenschülerhöchstzahl wird auf 36 erhöht; Pensionen werden um mindestens 5%, Gehälter im öffentlichen Dienst um bis zu 40% gekürzt, die Wirtschaft wird stranguliert.
Das Votum des Parlaments wird von der Bewegung nicht als Niederlage verstanden. Und Gesetze müssen erst umgesetzt werden. Zum jetzigen Zeitpunkt sieht es so aus, dass es die Jugend sein wird, die sich gemeinsam mit dem Lehrpersonal an Schulen und Unis gegen Schul- und Unischließungen und andere Maßnahmen zur Wehr setzen und damit die Vorreiterrolle des sozialen Protestes einnehmen wird.
Parteien
Ausnahmslos alle politischen Formationen stecken in der Krise. Die sozialdemokratische PASOK würde sich nach Meinungsumfragen bei Wahlen auf 24% halbieren, die konservative Nea Demokratia mit 29 Prozent ihr historisch schlechtestes Ergebnis erreichen. Eine Abspaltung der ND würde den Einzug ins Parlament verpassen, und die rechtsextreme LAOS-Partei stagniert bei 7 Prozent.
Die Krise der Linksparteien ist trotz wachsendem Zuspruch in den Umfragen evident. Die orthodox-stalinistische KKE hat sich offen gegen die Bewegung gestellt, weil sie nicht unter ihrer Kontrolle stattfindet. Ihr politisches Programm besteht darin, Griechenland aus der Euro-Zone herauszuführen und irgendwann irgendwie eine „antimonopolistische Volksmacht“ zu etablieren. In der linksreformistischen Syriza findet ein interner Fraktionskampf statt. Das Mehrheitszentrum befürwortet eine Umschuldung Griechenlands, der linke Flügel den Austritt aus dem Euro-Raum. Das Ende des Euros in Griechenland kann schneller kommen als man glaubt, und ein solcher Schritt hätte fatale Folgen für die griechischen ArbeiterInnen. Eine Neo-Drachme würde sofort jeden Wert verlieren, die Gesellschaft völlig verarmen. Die Krise lösen zu wollen, ohne die Frage nach dem Wirtschaftssystem zu stellen, ist zunehmend ein Ding der Unmöglichkeit – und legt die Beschränktheiten des „linken“ Reformismus offen.
Die „linken“ Abgeordneten der PASOK zeigten keine Nerven, beugten sich dem Diktat des Parteivorsitzenden und stimmten – mit einer Ausnahme – für die soziale Demontage. Einer der Abgeordneten gab zu Protokoll, dass er dies nur unter massivem Druck, inklusive telefonischer Morddrohungen, getan habe. Aber auch ohne diese Mafiamethoden ist offensichtlich, dass – vor die Entscheidung gestellt, die Regierung zu stürzen oder mit allen Konsequenzen auf Seite der ArbeiterInnenklasse zu stehen – auch Linksblinker den Schwanz einziehen. So kam es, dass die griechische Sozialdemokratie als Rammbock des griechischen und europäischen Kapitals agiert. Diesem Schicksal hat sich auch die Jugendorganisation gefügt – nicht jedoch die Gewerkschaften. Die Gewerkschaft der Gemeindebediensteten hat sich von der PASOK gelöst, und die wahrscheinlichste Perspektive ist, dass sich dieser Trend weiter verstärken wird.
Die Politik der MarxistInnen
Die griechischen MarxistInnen von Epanastasi stellten ihre Intervention in der Bewegung unter den Slogan „Sie oder wir“. Wir argumentierten für einen 48-stündigen Streik, und wenn dieser die Regierung nicht zum Einlenken zwingt, für einen unbefristeten politischen Generalstreik. Eine derartige Streikbewegung stellt die Frage nach der Macht in der Gesellschaft. Wir propagierten die Idee, dass die Aktionskomitees auch in den Betrieben gegründet werden und wahre Demokratie nur bedeuten kann, dass ein nationales Komitee mit Delegierten aus dem ganzen Land die Leitung des Streiks und damit der ganzen Gesellschaft übernimmt. In der Bewegung wurde der Ruf nach einem Sturz der Regierung immer größer, und wir reagierten darauf, indem wir erklärten, dass nur eine ArbeiterInnenregierung auf Basis der Komitees eine Alternative zu einer weiteren Regierung des kapitalistischen Sozialabbaus ist.
Außerdem erklärten wir die Notwendigkeit einer Einheitsfront der linken Parteien und Tendenzen, um der Massenbewegung eine politische Führung anbieten zu können. Das Programm einer solchen Formation müsste klar sozialistisch sein: Streichung der Schulden, Enteignung der Banken und Konzerne, Appell an die europäische ArbeiterInnenklasse, um die Politik der EU schon in den anderen Mitgliedsstaaten zu blockieren.
Das große Ringen
Dies ist nur der Beginn eines großen Ringens in Griechenland und in ganz Europa. Klar ist, dass die ArbeiterInnenbewegung und die Jugend in vielen europäischen Ländern den Schockzustand nach Eintritt der Krise überwunden haben und in direkter Aktion durch Massendemos und Streiks in die Politik eingreifen. Diese Kampfmethoden werden die europäische Bourgeoisie jedoch keines Besseren belehren. Die Zeit der Kompromisse ist vorbei, der europäische Kapitalismus braucht die Umverteilung zugunsten der KapitalbesitzerInnen wie Sauerstoff zum Leben. Wir werden Niederlagen sehen und das Wiederaufflammen der Kämpfe mit neuen politischen Konzepten und mit neuen Methoden, jedoch keine nachhaltige Stabilisierung der Situation.
Stamatis Karagiannopoulos
Herausgeber unserer griechischen Schwesterzeitung „Epanastasi“ (Revolution)