An der im Juli abgehaltenen Gedenkfeier zum Srebrenica-Massaker an der Potočari- Gedenkstätte wandten sich die Familien der Opfer gegen die anwesenden Politiker mit lautem Pfeifen und Fluchen. Von Filip S. aus Belgrad.
Das tragische Massaker an 6000 – 8000 muslimischen Männern in Srebrenica durch die serbischen Truppen unter Ratko Mladi am 11. Juli 1995, welches als Höhepunkt des grauenhaften vierjährigen Bürger- und Religionskriegs in Bosnien und Herzegowina gesehen wird, wird seit Jahren von der bosnischen und der serbischen Bourgeoisie für die eigenen Zwecke genutzt, um die religiöse und nationale Spaltung zwischen BosnierInnen und SerbInnen zu verfestigen. Erstere nutzten den jährliche Gedenkfeiertag, um die bosnische Bevölkerung daran zu erinnern, wie sehr sie sich vor ihren „genozidalen“ und „blutdürstigen“ serbischen Nachbarn zu fürchten haben, während letztere den Völkermord an den BosnierInnen abstritten und sich hinter der „Verteidigung der nationalen serbischen Interessen“ in Bosnien versteckten.
Diese Beziehung, die jedem Flügel der neu entstandenen Bourgeoisie ein Monopol über „nationale Interessen“ gab und sicherstellte, und mit der die arbeitende Bevölkerung eng unter den eigenen nationalen und religiösen Bannern gehalten wurde, war ausgesprochen symbiotisch. Die Gedenkfeier zum Srebrenica Massaker war zudem ein exzellenter Fototermin für viele ausländische Diplomaten und Staatsmänner, einschließlich so friedliebender Menschen wie Paul Wolfowitz, welcher, vor einigen Jahren seine Rede an die Anwesenden mit dem traditionellen muslimischen Gruß „selam aleykum“ begann, während gleichzeitig, einige tausend Kilometer östlich, die anglo-amerikanischen imperialistischen Truppen irakische und afghanische Zivilisten mordeten.
Srebrenica war, wo „der guten Muslim“ gefunden werden konnte – das muslimische Opfer, loyal und dankbar ihren westlichen Beschützern gegenüber, bereit alles zu tun, um ihren europäischen Charakter unter Beweis zu stellen und ihre Hingabe an die Ideale der westlichen Demokratien. Srebrenica erinnerte an den Schauplatz von Fukuyamas „Ende der Geschichte“. Über Klassenkampf wurde nicht gesprochen, nur über nationale Einigkeit und Ergebenheit gegenüber der neoliberalen Ordnung und ihren Verteidigern.
Als sich jedoch die kapitalistische Krise vertiefte und der Klassenkampf wieder weltweit auf der Agenda stand, war es nur eine Frage der Zeit, bis die bosnische Bevölkerung, unabhängig von ihrer Religion oder Nationalität, aus dem sozialen Koma erwachen würde, in das sie die kapitalistische Restauration in den 1990ern versetzt hatte. Während sich die Krise in Bosnien verschärft und die herrschende Elite immer zynischer wird in ihren Versuchen, die Massen durch Furcht zu manipulieren, beginnt die bosnische Arbeiterklasse, inklusive die Familien der Srebrenica Opfer, zu erkennen, was ihre Führer in Wirklichkeit sind – eine Bande von Gangstern, welche das Land zerstörten, ihre industriellen Ressourcen plünderten und jene Form von Armut und Unordnung brachten, von welcher man in den sozialistischen Zeiten gedacht hatte, sie sei für immer verschwunden.
Wir sehen derzeit einen Streik nach dem anderen in Bosnien, und zwar auf beiden Seiten der administrativen Linie, welche die Serbische Republik (nicht zu verwechseln mit Serbien) und die Föderation Bosnien und Herzegowina trennt – die beiden Kleinstaaten, welche heute das Land bilden. Häufig schicken sich Streikende beider Seiten sogar gegenseitige Solidaritätsbotschaften. Letztes Jahr war die herrschende Klasse schockiert, als sie die Solidarität unter den Veteranen des Bürgerkriegs gesehen hat – bosnische Veteranen entschlossen sich dazu, einen Teil ihrer Renten ihren serbischen Pendants zu geben, welche sich immer noch in einem Kampf mit der Regierung in Banja Luka (das administrative Zentrum der Serbischen Republik) für ihre Renten befanden. Es wurde immer offensichtlicher, dass die alten Tricks des Teilen und Herrschens nicht mehr so fruchtbar waren wie in der Vergangenheit.
Dieses Jahr wurden die herrschenden Eliten und ihre ausländischen Sponsoren erneut von den Massen überrascht – und das gerade bei ihrer perfekt nach dem Typus „das Ende der Geschichte“ inszenierten Zeremonie zum Gedenken an das Massaker von Srebrenica am 11. Juli. Erstmals verlangten die Familien der Opfer, dass keine Politiker Ansprachen halten durften. Als dies ignoriert wurde, reagierten die anwesenden Massen mit lautem Pfeifen und Beschimpfungen, welche an die Führer der bosnischen Parteien gerichtet waren. Ein Teilnehmer warf sogar mit einer Flasche nach dem Leiter des Organisationskomitees der Gedenkfeier. Die lautesten Pfiffe galten übrigens niemand anderem als dem US-amerikanischen Botschafter in Bosnien!
Die arbeitenden Menschen in Bosnien haben eine lange und stolze Tradition des Klassenkampfes. In Bosnien hatten Titos Partisanen die größte Unterstützungsbasis, hier wurden, wie auch im westlichen Serbien, die ersten nazifreien Gebiete durch die Kommunistische Partei ausgerufen, und hier wurden die Grundlagen für die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien gelegt. Es war auch der Ort, an dem der Zusammenbruch der alten Planwirtschaft am blutigsten und brutalsten stattfand, was Genozid und Bruderkrieg zwischen Menschen mit derselben Sprache und Kultur, jedoch mit unterschiedlicher Religion, mit sich brachte. Daher ist es auch verständlich, dass auf den Bürgerkrieg eine Periode heftigen sozialen Schocks folgte, welcher die Arbeiterklasse über die letzten 20 Jahre hinweg ruhig hielt.
Es scheint jetzt aber, dass diese Zeiten vorbei sind. Die bosnischen Massen erwachen wieder und lassen ihre Herrscher – auch die ausländischen – wissen, dass sie nicht länger bereit sind, das Bauernopfer zu spielen. Als MarxistInnen begrüßen wir diese Ereignisse als ein Vorzeichen dafür, was in Zukunft geschehen wird, wenn sich die Flammen der revolutionären Tradition in Bosnien und dem ehemaligen Jugoslawien erneut entzünden.