Die Regierung musste bei ihrer Sparpolitik einen Rückzieher machen. Die Bewegung steht jetzt vor der Aufgabe die konservative Regierung von Passos Coelho zu stürzen. Von Jorge Martin.

Nach beispiellosen Protesten wurde die portugiesische Regierung gezwungen, die angekündigte Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge der ArbeitnehmerInnen zurückzunehmen. Dies ist ein Sieg für die portugiesische ArbeiterInnenklasse, wenn auch nur ein vorübergehender.

Die riesigen Demonstrationen vom 15. September in Lissabon und in 40 weiteren Groß- und Kleinstädten mit über einer Million TeilnehmerInnen wurden von unten organisiert und brachten die Wut der arbeitenden Menschen in Portugal gegen die seit fast zwei Jahren anhaltenden Angriffe auf ihren Lebensstandard zum Ausdruck. Der auslösende Funke für diese Bewegung, welche die größte seit der Nelkenrevolution 1974 ist, war der Versuch der Regierung, die Sozialbeiträge der ArbeiterInnen (TSU) von 11 auf 18% zu erhöhen und den Anteil der Arbeitgeber von 23,75 auf 18% zu kürzen. Jetzt wurde die Regierung gezwungen, diesen Vorschlag fallenzulassen.

Aufgrund der Demonstrationen kam es zu einer politischen Krise in der rechten Regierungskoalition. Die Legitimität dieser Regierung wurde von der Bewegung auf den Straßen praktisch in Frage gestellt. Der gesamte Druck wurde nun auf das Treffen des Staatsrates, ein Gremium, das nur in Extremsituationen zusammenkommt und am 21. September tagte, konzentriert. Die Bewegung rief zu einer Mahnwache vor dem Tagungsgebäude auf. Während der achtstündigen Versammlung kamen Tausende, um ihre Wut und Opposition zu bekunden. Es handelte sich hierbei nicht länger um einen Protest gegen die Erhöhung der Sozialbeiträge, sondern hauptsächlich um die Forderung nach dem Rücktritt der Regierung. Das spiegelte sich deutlich in den wichtigsten Parolen der Bewegung wider: “O povo tem voz, o conselho somos nós” ["Das Volk hat eine Stimme, der Rat gehört uns"], “eles são meia dúzia, nós somos milhões” ["Sie sind gerade einmal sechs, wir sind eine Million"], “o povo unido jamais será vencido” ["Das vereinte Volk wird niemals verlieren"], “Aqui Portugal, ali o capital” ["Hier ist Portugal, dort das Kapital"].

Premierminister Passos Coelho hatte keine Alternative und musste in dieser Angelegenheit einen Rückzieher machen oder zurücktreten. Die Regierung ist noch im Amt, aber eigentlich ist sie schon tot und wird früher oder später den Weg für eine technokratische Expertenregierung oder eine "Regierung der nationalen Rettung" frei machen müssen. Das Problem ist, dass die Regierung das Geld, das sie aus der Änderung der Sozialversicherung nehmen wollte, jetzt woanders her besorgen muss. Sie hat nun den Gewerkschaften und Unternehmerverbänden den Ball zugespielt, die nun auf „Sozialpartnerebene“ Alternativvorschläge erarbeiten soll. Auf die eine oder andere Weise werden budgetwirksame Maßnahmen in der gleichen Höhe präsentiert werden müssen, entweder durch die Erhöhung der indirekten Steuern oder durch weitere Lohnkürzungen oder einer Kombination aus beidem. Die Regierung wird, wenn sie überleben will, gezwungen sein, diese neue Alternative als "Kompromiss der Sozialpartner" oder als fairere Variante zur TSU-Reform vorzustellen. Aber sie hat nicht viel Handlungsspielraum.

Die Regierung, die im Juni 2011 50% der Stimmen und 57% der Parlamentssitze gewonnen hat, hat sich längst diskreditiert, und die portugiesische Bourgeoisie versucht bereits eine Alternative zu finden, um die aus ihrer Sicht notwendigen Sparmaßnahmen fortzuführen. Die ArbeiterInnen und die anderen von der Sparpolitik betroffenen Bevölkerungsschichten fühlen sich ermutigt. Sie haben einen Sieg errungen, selbst wenn es sich um einen Teilsieg handelt, der nur kurzlebig ist. Aber das Gefühl ist, dass sich der Kampf auszahlt, dass die Massenmobilisierungen die Regierung stürzen können. Wenn die Gewerkschaften (besonders die starke CGTP) jetzt als Teil einer nachhaltigen Mobilisierungskampagne zu einem Generalstreik aufrufen, mit dem Ziel, die Regierung zum Rücktritt zu zwingen, sind die Tage von Passos Coelho als Premierminister gezählt.

Dann würde sich aber die Frage stellen: Was ist die Alternative? Die einzigen Parteien, welche die Ausgabenkürzungen stets abgelehnt haben, waren die Kommunistische Partei und der Bloco de Esquerda (Linksblock). Diese Parteien sollten eine Einheitsfront auf der Grundlage einer klaren sozialistischen Politik bilden. Bisher sind die Führungen der beiden Parteien allerdings noch nicht den Erwartungen gerecht geworden, die eigentliche Ursache für die gegenwärtige Krise zu benennen: Die Existenz des kapitalistischen Systems selbst. Ihre politischen Antworten auf die Krise werden daher den tatsächlichen Herausforderungen der Situation nur unzureichend gerecht.
Die Stimmung in Portugal zeigt, dass die Massen nicht nur die wirtschaftlichen Maßnahmen in Frage stellen, sondern auch die Legitimität der Institutionen, welche diese durchführen. Es herrschen alle Symptome einer revolutionären Krise, die sich in der Gesellschaft als Folge der Auswirkungen der Krise des Kapitalismus entwickelt.

24. September 2012


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