Nach dem rechten Putsch in Bolivien gegen die Präsidentschaft von Evo Morales prasselte von Seiten der Massenmedien schnell ein Trommelfeuer der Lügen auf uns herein. Kein Wunder, freuen sich doch die internationalen Großkonzerne in Zeiten der Debatte über den Klimawandel und „E-Mobilität“ über neue Geschäfte in dem Land, in dem das weltweit größte Lithiumvorkommen vermutet wird.

Die Meuterei der Spezialkräfte der Polizei, ausgehend von deren Offizieren, die letztendlich zur Flucht von Morales führte, kam in der Berichterstattung höchstens vor als „Polizei und Militär forderten den Rücktritt von Morales“ (Der Standard). Aus den christlich-fundamentalistischen und teilweise offen faschistischen AnführerInnen des Putsches wurden einfach „Konservative“. Die „Übergangspräsidentin“ Añez hielt bei ihrer Selbsternennung eine riesige Bibel in die Luft und erklärte: „Die Bibel ist in den Palast zurückgekehrt“. Sie verordnete ein Dekret, das Angehörige des Militärs vor jeder Strafverfolgung schützt, die aus der Niederschlagung der Opposition gegen den Putsch folgt.

Eine Reihe von Massakern gegen Anti-Putsch-Protestierende von Seiten der Polizei und des Militärs (mit 8 toten Bauern in Sacaba und 9 Toten in Senkata bei der brutalen Auflösung der Blockade des dortigen Gaswerkes) wurden so folgerichtig medial hierzulande entweder ganz unter den Teppich gekehrt oder als „Zusammenstöße“ verharmlost.

Wir wollen den Mantel des Schweigens und der Lügen lüften, die Gründe für den Erfolg der Offensive der Rechten liefern und eine Perspektive aufzeigen. Daher veröffentlichen wir hier die gekürzte Übersetzung eines Artikels, den Lucha de Clases – die bolivianische Schwesterströmung des Funke, die im Widerstand gegen den Putsch aktiv ist – am 18. November veröffentlichte. Seitdem schloss die MAS (Movimiento al Socialismo, von Evo Morales gegründete und angeführte Linkspartei) im November einen Deal mit Jeanine Añez und ihren PutschistInnen, der darauf hinausläuft, dass es Neuwahlen geben soll – unter der Bedingung, dass die MAS die Legitimität der PutschistInnen anerkennt.

Damit ist die im Artikel kritisierte Kompromisspolitik auf die Spitze getrieben und das Putschregime konnte sich vorerst stabilisieren.


Als Reaktion auf den Putsch kam es laut der bolivianischen Autobahnverwaltung zur Errichtung von 94 Straßensperren – vor allem in den Gegenden, in denen der Rückhalt für Morales groß ist, im Umland von La Paz, in Oruro und in der durch den Kokaanbau geprägten Gegend um Cochabamba. Außerhalb der großen Autobahnen kam es allerdings nur zu sporadischen Blockaden.

Es gibt jedoch Zeichen der Demobilisierung der Bewegung. Im letzten von ihr veröffentlichen Statement ruft die COB (Central Obrera Boliviana, Dachverband der bolivianischen Gewerkschaften) skanalöserweise zu „sozialem Frieden“, „Beruhigung“ und einem Zurückschrauben der Mobilisierung auf. COB-Generalsekretär Juan Carlos Huarachi ging sogar so weit, zu sagen, dass die Präsidentschaft von Morales der Vergangenheit angehöre. Unter den Organisationen der BäuerInnen und der indigenen Bevölkerung nahm die Anzahl der lokalen und der regionalen Vertretungen, die ein Fortführen der Mobilisierung ablehnen, ebenfalls zu. Nur im Süden der Region Cochabamba gab es eine Demonstration, in der der Abzug des Militärs nach dem Massaker von Sacaba gefordert wurde. Unter diesen Bedingungen wird das Militär dazu angespornt, die Repression fortzuführen.

Die Gewerkschaften und die Interessenvertretungen der Staatsbediensteten und der IndustriearbeiterInnen mobilisierten zwar ihre Basis, allerdings nur gegen die ManagerInnen und die GewerkschafterInnen der MAS, was sie mit Übergriffen, Lohnsenkungen und anderen repressiven Maßnahmen gegen sie begründeten.

Unter den BergarbeiterInnen beteiligte sich nur eine Gruppe aus Coro Coro an den Aktionen in El Alto (der zweitgrößten Stadt des Landes direkt an den Grenzen zur Hauptstadt La Paz, die das Zentrum des Widerstandes ist, Anm. d. Ü.) gegen den Putsch. In den großen Minen in Huanuni und Colquiri führten nicht einmal direkte Angriffe auf die Arbeitsbedingungen durch die Rechten dazu, dass sich die Basis unter den BergarbeiterInnen in Bewegung setzte. Gleichzeitig wurden in Potosí, Sucre, Beni und Santa Cruz Abkommen zwischen den öffentlichen Angestellten, der Opposition und der MAS geschlossen. Laut diesen soll es zu den Neuwahlen der BürgermeisterInnen und der GouverneurInnen kommen, bei denen sowohl KandidatInnen der MAS als auch der Opposition antreten dürfen, die die zurückgetretenen FunktionärInnen ersetzen. Ähnliche Abkommen führten dazu, dass die Barrikaden auf den Straßen nach Sucre abgebaut wurden. Der Gouverneur von Chuquisaca (MAS) antwortete auf die Frage, ob er Añez als Präsidentin anerkenne: „Evo Morales hat das Land verlassen, unsere Aufgabe ist es jetzt, den sozialen Frieden wiederherzustellen.“

Eine frühere Niederlage

Im Oktober 2003 bildete sich eine breite Massenbewegung, die die Verstaatlichung der Bodenschätze und der Industrie forderte. Sie vereinigte die Rebellion der indigenen Bevölkerung – angeführt von Felipe Quispe –, der politischen Opposition der MAS unter Evo Morales, den instinktiven Antiimperialismus der lohnabhängigen Massen und sie stützte sich auf das Abbröckeln der mittleren Ränge des korrupten Regimes, das von ausländischem Kapital abhängig war, und auf die Arbeitskämpfe der BergarbeiterInnen. Dieser revolutionäre Aufstand, der Präsident Goni und Vizepräsident Carlos Mesa stürzen konnte, hätte zum Sieg der Arbeiterklasse führen können, doch es fehlte eine Führung, die das Ziel einer sozialistischen Gesellschaft verfolgt. Die Bewegung errang einen Teilsieg, indem sie den Export von Gas stoppte. So kam es aber nicht dazu, dass die Arbeiterklasse die Macht und die Kontrolle über die Produktion errang.

EvomoralesEvo Morales: Eine Massenbewegung brachte ihn an die Macht.

Morales vereinigte dann diese revolutionäre Bewegung unter dem Banner einer verfassungsgebenden Versammlung, um den bürgerlichen Staat mit Reformen wiederaufzubauen. Das bedeutete, dass eine größere Anzahl von Betrieben verstaatlicht (aber nicht unter Arbeiterkontrolle) und der Anwesenheit multinationaler Großkonzerne in Bolivien grünes Licht gegeben wurde, solange sie sich an die neuen Regeln des Staates hielten. Anschließend investierte man das stark gewachsene Staatseinkommen in den Ausbau des Sozialsystems. Die Grenzen dieser Politik waren am Anfang nur kleinen Gruppen aus den fortschrittlichsten Teilen der Arbeiterbewegung ersichtlich, denen es aus einer sektiererischen Haltung heraus nicht gelang, diese Position in der Arbeiterklasse zu verbreiten.

Diese Abwesenheit einer politischen Führung (einer Arbeiterpartei oder einem linken Flügel in der MAS) verhinderte, dass die Arbeitskämpfe, die in den letzten Jahren auf regionaler Ebene stattfanden, zu einem gemeinsamen Kampf vereinigt wurden. Ohne Druck von Links begann sich Morales immer mehr der Bourgeoisie anzunähern – ein Zugang, der sich noch mehr verstärkte, als der Preis für die Rohstoffe fiel und Zugeständnisse an multinationale Konzerne mit Sparpolitik bezahlt wurden. Um diesen Kurs durchzubringen, benutzte die MAS – wie wir schon oft kritisiert haben – den Polizeiapparat, um Druck auf Gewerkschaften und Personen an der Spitze sozialer Bewegungen auszuüben. Mit streng kontrollierten Gewerkschaften und linken Organisationen, der Annäherung der Regierung an die gestärkte Bourgeoisie und dem Zugang der BürokratInnen der MAS zu so viel Macht und Geld wie nie zuvor in ihrer Parteigeschichte, stieg die Korruption unvermeidlich an.

Die Strategie von Morales

In einem Interview mit der Zeitung La Jornada de México sagte Morales: „Mir wird klar, dass unsere Wirtschaftspolitik dazu geführt hat, dass die Privatwirtschaft angewachsen ist und einige ihrer VertreterInnen sich verschworen haben. Ich glaube nicht, dass alle daran beteiligt sind.“ Zum ersten Mal erkennt Morales hier die Rolle der Bourgeoisie in diesem Putsch und seine eigene Funktion bei ihrer politischen Stärkung. An späterer Stelle äußert er Sorgen, dass das Land sich in Richtung eines Bürgerkrieges entwickle, indem er betont: „Wenn Institutionen wie das Militär die Demokratie nicht garantieren, bedeutet das, dass das Volk sich bewaffnen muss. Wir wollen das nicht. Ich persönlich möchte das auch nicht.“

Eine Woche vor seinem erzwungenen Rücktritt stellten wir die Forderung nach der Bewaffnung der Lohnabhängigen gegen die PutschistInnen und nach der Enteignung der KapitalistInnen, die den Putsch unterstützen, auf. Morales verbreitete jedoch Angst vor möglicher Gewalt und stellte sich selbst als der einzige dar, der sie verhindern könne, indem er mit den PutschistInnen verhandle. Es ist die Strategie aus leeren Drohungen und Verhandlungen, die dazu führte, dass er ins Exil nach Mexiko gehen musste. Lucha de Clases ist die einzige Organisation der Linken in Bolivien, die vor einem Militärputsch warnte, während die restlichen Organisationen mit unterschiedlichem Grad die Überzeugung hatten, dass das Militär der Regierung gegenüber loyal bleiben werde. Unsere Warnung basierte auf realen Erfahrungen: Morales unterdrückte 2014 eine Bewegung von Unteroffizieren, die die „Dekolonisation“ des Generalstabes forderten.

Nur wenn die Arbeiterklasse und die BäuerInnen eine überzeugte revolutionäre Führung haben und ihr Sieg realistisch ist, kann sich das Militär entlang von Klassenlinien spalten. Das ist in Bolivien jedoch nicht der Fall. Es gab zwar einzelne Fälle der Verbrüderung zwischen einfachen Soldaten und DemonstrantInnen in El Alto. Aber abgesehen von wenigen Anzeichen der Unzufriedenheit sieht es so aus, als würde die Militärführung die Kontrolle über die Situation behalten. Wo es möglich ist, lässt sie Demonstrationen ohne Waffeneinsatz auflösen. Das ist durchführbar, weil es in Bolivien üblich ist, Angehörige des Militärs bei öffentlichen Arbeiten einzusetzen, die der Bauernschaft helfen, sodass Soldaten im ländlichen Bereich einen gewissen Respekt genießen. Dieses wenig gewalttätige Vorgehen in El Alto im Gegensatz zur brutalen Repression in Sacaba zeigt aber nur, dass das Militär sich die Möglichkeit der direkteren Intervention offenhält, um den Putsch mit einer Militärregierung ohne Añez zu konsolidieren – aber nur, falls sie nicht in der Lage sein sollte, die Situation unter Kontrolle zu bringen.

Die Bourgeoisie in der Regierung

Der Versuch von Morales, die KapitalistInnen in böse PutschistInnen und gut PatriotInnen, die mit ihm zusammenarbeiten wollen zu teilen; erstere zu bestrafen und zweitere zu belohnen, wie er es schon seit 2008 macht, ist der schlimmste strategische Fehler: Er weiß nicht, wer sein Feind ist. Wenn alle Teile der herrschenden Klasse sich hinter Añez stellen, demonstriert das, dass die „progressive Bourgeoisie“, auf die er hofft, nie existiert hat. Die KapitalistInnen erkennen, dass im Zuge der extremen Polarisierung des Klassenkampfes Morales sein zentrales Versprechen nicht erfüllen kann – einen Frieden zwischen den Klassen unter den Bedingungen herzustellen, von denen das Kapital profitiert.

Nur dann, wenn es Añez gelingt, die Bewegung gegen den Putsch zu zerschlagen, wird sich die Bourgeoisie dazu bereit erklären, Morales unter strengen Auflagen zurückkehren zu lassen, um seine UnterstützerInnen unter Kontrolle zu bringen. Aber auch das würde sie nur sehr zögerlich und mit Angst vor zukünftigen Aufständen gegen bürgerliche Regierungen machen (diese sind vor dem Hintergrund, dass die Partei der rechten, christlich-fundamentalistischen Fanatikerin Áñez bei der letzten Wahl nur 4 Prozent der Stimmen bekam, mehr als wahrscheinlich.).

Die momentane Strategie von Morales bremst die Entwicklung des Widerstandes gegen den Putsch und liefert ihn der brutalen Repression in Sacaba oder dem spaltenden Radikalismus in El Alto aus (wo die indigenen Kollektive sich von den protestierenden BäuerInnen und deren Forderung nach einer Rückkehr von Morales distanzierten, Anm. d. Ü.). In San Julián halten BäuerInnen eine der wenigen übrigen Blockaden in Santa Cruz aufrecht, ohne aber gegen die Agrarkonzerne zu mobilisieren, die wenige Tage vor dem Putsch mit der Niederschlagung der Bauernkollektive in El Alto gedroht haben. Die Besetzung dieser Betriebe wäre für sich alleine genommen keine Forderung, die die Hindernisse für die Mobilisierung der Arbeiterklasse entfernen kann. Damit die ArbeiterInnen für ihre eigenen Interessen und nicht bloß für die Rückkehr der MAS-BürokratInnen kämpfen, ist es notwendig, solche Betriebsbesetzungen mit der Gründung von Arbeiterräten und Formen der Selbstverwaltung zu verbinden.

Die Isolation der Bewegung in El Alto – im Westen des Landes – führt dazu, dass die Bourgeoisie im Osten nur minimal von der derzeitigen Situation betroffen ist. Dort finden Transport und Produktion weiterhin statt. Die multinationalen Konzerne, die die Minen sowie die Produktion von Lebensmitteln sowie Öl und Gas kontrollieren, sind noch komplett funktionsfähig. Der Absatz von Agrarprodukten am Binnenmarkt ist erschwert, doch der Wirtschaftsminister hat schon die völlige Liberalisierung der Exporte verkündet. Die Handelsrouten nach Brasilien, Argentinien und zum Atlantik sind ebenfalls weiter offen. Die Strategie von Morales, auf Zeit zu spielen und Añez mittels der Bewegungen in La Paz und Cochabamba zu erschöpfen, zeigt immer mehr ihre Schwäche und führt auch zu Widerstand innerhalb der MAS, deren Unterstützerbasis tief gespalten ist.

Für einen unabhängigen Klassenstandpunkt

Es ist verbrecherisch, dass die COB-Führung auf die Spielchen der PutschistInnen eingeht. Der Ruf nach dem „gesellschaftlichen Frieden“ hat bereits zur Demobilisierung der Massen geführt. Sich mit der Putschistenregierung zu treffen, wie das Huarachi am 17. November gemacht hat, ist ein Schritt in Richtung aktiver Zusammenarbeit mit ihr. Und das Schlimmste ist: Während mit dem Putsch Frieden geschlossen wird, erklärt die Gewerkschaftsbürokratie den ArbeiterInnen den Krieg. Die letzte Erklärung der COB warnte davor, dass sie „radikale Sektoren und Gruppen“, die „die Gewerkschaftsbewegung spalten“, indem sie Beschlüsse fassen, die gegen diese erzwungene Linie von Huarachi und seiner Clique gehen, nicht dulden werde.

Unsere GenossInnen intervenieren trotzdem auf den Gewerkschaftsversammlungen. Sie plädieren für eine revolutionäre Lösung der Krise und den Kampf gegen den bürgerlichen Putsch. In der Debatte verbinden wir die Forderung nach Streiks mit jener, das Militär von den Straßen abzuziehen – eine Minimalforderung, für die wir offen von der Gewerkschaftsbürokratie angegriffen werden.

Eine unabhängige Politik der Arbeiterklasse würde die Situation komplett ändern. Bezeichnenderweise war Añez bis jetzt nicht in der Lage, die Ministerämter für Bergbau, Arbeit und Bildung zu besetzen. Die Bourgeoisie und das Militär können es sich momentan nicht leisten, dass die Arbeiterklasse die Frage der Demokratie so „missversteht“, dass sie darunter die Freiheit zum Kampf um ihre Rechte versteht. Es ist ihnen auch nicht möglich, Zugeständnisse zu machen oder direkte Angriffe auf die ArbeiterInnen durchzuführen. Die PutschistInnen brauchen für ihre Maßnahmen die Unterstützung der Gewerkschaftsbürokratie, die sie auch bekommen haben.

Die Arbeiterklasse ist nicht zynisch oder blind. Die Fehler der früheren und die Verbrechen der jetzigen BürokratInnen und OpportunistInnen halten sie von der Mobilisierung ab, insbesondere dann, wenn sie „für Morales“ stattfindet. Wenn wir Minimalforderungen wie den Abzug des Militärs mit der Forderung nach der Führung der Betriebe durch die ArbeiterInnen statt durch die von Añez eingesetzten InspektorInnen verbinden, wird die Arbeiterklasse darauf reagieren. Neben einer genauen Analyse als Basis für ein Verständnis der Situation sehen wir es als unsere Aufgabe, die Arbeiterbewegung aus diesem von der Gewerkschaftsbürokratie verursachten Debakel herauszuholen. So kann sich die Linke in unserem Land wieder erheben.

(Funke Nr. 179, 11.12.2019)


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