Das neue Schuljahr startet unter dem Eindruck der andauernden COVID-19-Pandemie. Mitte August präsentierte das Bildungsministerium daher ein Dokument namens „Schule im Herbst 2020“, das darstellt, wie die geplanten Sicherheitsmaßnahmen der Bundesregierung aussehen. Lukas Frank hat sie sich genauer angesehen.

Ein Teil von dem, was vorgeschlagen wird, ist altbekannt – es soll Mundnasenschutz getragen, Abstand gehalten und sich regelmäßig die Hände gewaschen werden. Ein häufiges Schlagwort ist die Schulautonomie – Schulen sollen, je nachdem, was vor Ort möglich ist, Schichtbetriebe organisieren, den Pausenhof teilen und diesen einzelnen Klassen zuweisen, die Fenster in den Klassenzimmern offen haben und Teile des Unterrichts draußen stattfinden lassen. Weiters sollen die LehrerInnen – falls an der jeweiligen Schule vorhanden – von „IT-Koordinatoren“ und Schulpsychologen unterstützt werden. Wann und mit welcher Intensität die einzelnen Maßnahmen umgesetzt werden sollen, richtet sich nach den lokalen Corona-Ampeln.

Doch für viele Schulen in Österreich wird dieses Konzept nicht viel mehr als „geduldiges Papier“ sein, das in der Praxis nicht umsetzbar ist. Einerseits gibt es nicht an jeder Schule das angesprochene Zusatzpersonal, das LehrerInnen in diesen herausfordernden Zeiten unterstützen könnte. Andererseits lässt sich Unterricht im Freien nur mit genügend Platz oder eigenem Sportplatz umsetzen, was vor allem auf Schulen in der Stadt nicht immer zutrifft. Weiters ist dies eine Maßnahme, die insbesondere im Winter nicht nur auf wenig Gegenliebe stoßen wird, sondern das Problem „krank werdende SchülerInnen“ sogar noch verstärken würde. Selbiges gilt für den Vorschlag, die Fenster offen zu lassen.

„Schulautonomie“ bedeutet daher in letzter Konsequenz nichts weiter, als dass eine unvorbereitete Regierung die Verantwortung auf die einzelnen Schulen abwälzt, die sich je nach eigener Ausstattung alleine damit rumschlagen können, einen sicheren Unterricht zu organisieren.

Wie eine effektive Strategie ausschauen könnte, um Schulschließungen und die Umstellung auf „Distance Learning“ zu vermeiden, zeigt ausgerechnet das krisengeschüttelte und finanzschwache Italien. Um unter allen Umständen einen 2. Lockdown zu verhindern, wurden 2.3 Mrd. Euro bereitgestellt, um 85.000 neue Lehrer einzustellen und um zusätzliche Räumlichkeiten für den Unterricht anzumieten. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, denn nur so können Klassengrößen verkleinert und die SchülerInnen auf mehrere Orte verteilt werden – was die effektivste Möglichkeit ist, um Ansteckungen vorzubeugen. Was es dazu zusätzlich noch bräuchte, wären großflächige regelmäßige Tests und neues ergänzendes Personal wie Psychologen, Reinigungskräfte und IT-Spezialisten. Auch für die mögliche Umstellung auf Distance Learning, das durch solche Vorbereitungen in sehr kleinen Gruppen stattfinden würde, sollte vorgesorgt werden - mit gratis Laptops und Internet für ärmere Familien sowie guter Software, die die LehrerInnen in ihrer Arbeit unterstützt.

Von all dem findet sich aber in den Plänen des Bildungsministeriums so gut wie nichts. Neben dem Versprechen, eine eigene Online-Lernplattform zu entwickeln, sollen monatlich 15.000 SchülerInnen auf Corona getestet werden. Bei österreichweit 1,1 Mio. SchülerInnen kann man das aber bestenfalls als Stichprobe bezeichnen – und genau als solche werden sie von der Regierung auch gesehen. Im Vergleich: Für den reibungslosen Betrieb der Tourismusbranche in der letzten Sommersaison wurde im Vorhinein ein Kontingent von 65.000 Tests von der Regierung angepeilt – nicht pro Monat, sondern pro Woche.

Die Hoffnung, die derzeit in den Medien des Öfteren vorkommt, ist die mögliche geringere Ansteckungsgefahr von SchülerInnen und jungen Menschen allgemein. Jedoch zeigen kürzliche Schulschließungen in Ländern wie Deutschland und auch die derzeitigen Neuansteckungen in Österreich, die Großteils 15-24 Jährige betreffen, dass hier sehr wohl ein Risiko vorliegt. Hinzu kommt, dass Jugendliche oft keine Symptome zeigen, was eine schleichende Verbreitung in Schulen nach sich ziehen könnte. Weiters gibt es zwar weniger gesundheitliche Gefahr im Falle einer Infektion für die Jugendlichen selbst, sehr wohl aber für ihre älteren Familienangehörigen. Das zeigt eine Studie, die von den südkoreanischen Gesundheitsbehörden an 5706 Covid-19 Patienten und deren 59.000 Kontakten durchgeführt wurde und zu dem Schluss kam, dass innerhalb von zehn Tagen rund 12 Prozent der im gleichen Haushalt lebenden Personen infiziert wurden.
Die Regierung nimmt also bewusst ein chaotisches Schuljahr in Kauf, bei dem aus der Propaganda, alles unter Kontrolle zu haben, schnell Schulschließungen und hastige Umstellungen auf „Distance Learning“ werden können.

Leidtragende sind vor allem die SchülerInnen aus armen Familien, die sich aufgrund ihrer Lebensumstände schon in normalen Zeiten in der Schule schwergetan haben. Schon in „normalen“ Zeiten spielt die Lage der eigenen Familie eine große Rolle.

Können sich genügend Nachhilfestunden, Skikurs, Schulausflüge und Lernmaterialien geleistet werden?

Wie sieht die Situation zu Hause aus? Hat man ein eigenes Zimmer, in dem man in Ruhe lernen kann? Können einem die Eltern bei Hausaufgaben und Lernen helfen?

Oder gibt es Streitereien, die einen psychisch belasten und keinen Ort, wo man sich zurückziehen und in Ruhe lernen kann?

Corona hat diese Lage noch verschärft, denn ohne Präsenzunterricht kommen die oben genannten Faktoren noch viel stärker zur Geltung. Nicht nur weil man zuhause eingesperrt ist, sondern weil „Distance-Learning“ für viele SchülerInnen herausfordernder ist und mehr Selbstorganisierung voraussetzt.

Dies spiegelt sich auch in einer Umfrage wider, die vom Institut für höhere Studien (IHS) durchgeführt wurde. LehrerInnen wurden zu ihren Erfahrungen mit Onlineunterricht im letzten Jahr befragt. Mehr als ein Drittel der SchülerInnen aus einem sozial schwachen Elternhaus waren kaum für sie erreichbar, zwei Drittel der SchülerInnen waren überfordert, davon die Hälfte wegen der Rahmenbedingungen. Darunter fallen kein Computer, langsames Internet, eine beengte Wohnsituation und Eltern, die zu wenig Unterstützung bieten konnten. Dreiviertel der befragten LehrerInnen sind sich einig, dass sich bei benachteiligten Schülerinnen ein deutlicher Leistungsabfall zeigte.

Dem Bildungsministerium sind diese Defizite sehr wohl bekannt, werden aber in Kauf genommen und zeigen den Charakter des Bildungssystems in unserer Gesellschaft. Gradmesser für die notwendigen Investitionen und notwendigen Handlungen ist nicht die Entwicklung der einzelnen SchülerInnen zu selbstbestimmten, gebildeten Erwachsenen, sondern die Anforderungen der Wirtschaft, insbesondere nach einer gewissen Anzahl von gut ausgebildeten Fachkräften. Die Methode, um das zu erreichen, ist aber nicht individuell auf die eigenen Schwächen und Stärken der SchülerInnen einzugehen, sondern das gnadenlose Aussieben von denen, die die notwendigen Anforderungen nicht sofort erfüllen.


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