Es sollte Einigkeit darüber herrschen, dass der Wahlsieg der SYRIZA von historischer Bedeutung ist. Der massenhafte Widerstand gegen das Austeritätsregime hat damit einen deutlichen politischen Ausdruck gefunden. Dieser Wahlerfolg der Linken ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die gesamte europäische ArbeiterInnenbewegung. Allein die Reaktion aus der österreichischen Sozialdemokratie zeigen, dass mit diesem Sieg große Hoffnungen auf einen grundlegenden Politikwechsel in Europa verbunden sind. Das gibt viele Anknüpfungspunkte auch für die österreichische und deutschsprachige Linke.
Der Text, auf den sich unsere Antwort bezieht, ist auf dem Blog von Mosaik zu finden: http://mosaik-blog.at/hoffnung-statt-zynismus-vier-thesen-zur-griechenland-wahl/
Der Text wirft die Frage der Beziehung zwischen einer linken Regierungspartei und den sozialen Bewegungen, die diesem Erfolg der Linken an der Wahlurne vorausgegangen sind, auf: „So wie SYRIZAs Sieg ohne die sozialen Bewegungen und Kämpfe in Griechenland nicht möglich gewesen wäre, wird auch der Erfolg ihrer Regierung von ihnen abhängen. Angesichts der Übermacht von europäischen Eliten, nationalen OligarchInnen und internationalen Finanzmärkten braucht die Regierung den Druck von Kämpfen in Betrieben, Parteien und auf der Straße, um Kurs halten zu können.“
Das ist ein wichtiger Gedanke. Die treibende Kraft in jedem Prozess zur Umwälzung der Verhältnisse sind die Massen. Die revolutionären Prozesse der jüngeren Vergangenheit (Lateinamerika, Arabischer Frühling) liefern genügend Beweise für diese These. Was hier jedoch außer Acht gelassen wird, ist die dialektische Beziehung zwischen SYRIZA und den sozialen Bewegungen, und die Rolle die der Führungsgruppe in SYRIZA (und in letzter Instanz dem Individuum Alexis Tsipras) zukommt. SYRIZA wurde zum wichtigsten Sprachrohr der griechischen Massen als Reaktion auf die Austeritätspolitik. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass die Partei mehr auf elektorale Unterstützung zurückgreift als auf reale Organisierung dieser Bewegungen. Der Kurswechsel hin zu einem viel moderaterem Auftreten als 2012 hat sogar viele linke AktivistInnen davon abgehalten, sich in der Partei zu organisieren. Dies ist auch einer der Hauptgründe, warum die KKE, die bei Wahlen viel schwächer abschneidet, in Wirklichkeit eine viel stärkere Verankerung in der ArbeiterInnenklasse hat und auf viel mehr AktivistInnen zurückgreifen kann. Dies ist übrigens ein Kapital, das man nicht unterschätzen darf, und das die KKE in künftigen sozialen und politischen Auseinandersetzungen zu einem gewichtigen Player machen kann – trotz der furchtbar sektiererischen Politik der KKE-Führung.
In dem Text wird die Verantwortung über das Schicksal der SYRIZA-geführten Regierung in die Hände der sozialen Bewegungen gelegt. Umgekehrt hat jedoch mit diesem Wahlsieg die SYRIZA eine historische Verantwortung, diesen Bewegungen und Kämpfen, die nun wieder verstärkt aufflammen werden, eine politische Perspektive und Programmatik zu geben. Diese Wechselbeziehung wird leider ausgeblendet. Die Appellation an die sozialen Kämpfe bleibt sehr abstrakt. Wir sind aber optimistisch, dass die griechische ArbeiterInnenklasse und Jugend nach diesem Wahlausgang gestärkt und mit neuem Selbstvertrauen in künftige Auseinandersetzungen gehen werden. Der Erfolg von sozialen Kämpfen hängt aber nicht nur von der Kampfbereitschaft der Massen ab, sondern auch von der Fähigkeit der Linken diese zum Sieg zu führen. Wer diese Lehre aus mehr als 100 Jahren der Geschichte des Klassenkampfs nicht in seine Überlegungen miteinbezieht, steuert auf eine weitere tragische Niederlage der Linken hin, wie wir sie schon so viele erleben mussten (Spanien 1936, Chile 1973 usw.). Ob SYRIZA der Rolle einer Führung in einem revolutionären Prozess gerecht werden kann, hängt nicht zuletzt davon ab, welche Kräfte in der Partei das Sagen haben. Der Kampf zwischen Reform und Revolution wird somit auch innerhalb der SYRIZA ausgetragen werden. Mit der Kommunistischen Strömung in der SYRIZA (der griechischen Sektion der IMT) gibt es eine wenn auch noch kleine Kraft, die diesen Kampf parteiintern führt. Die europäische Linke wird zu diesen innerparteilichen Diskussionen Stellung beziehen müssen.
Für große Aufregung in der Linken sorgte die Entscheidung von Alexis Tsipras mit der rechtspopulistischen Partei ANEL (Unabhängige Griechen) eine Koalition zu bilden. „Griechenland entscheidet“ rechtfertigt diesen Schritt mit dem Argument, es hätte keine realpolitische Alternative gegeben. Außerdem sei es möglich mit der ANEL die kurzfristigen Forderungen aus dem Programm von Thessaloniki umzusetzen.
Nun, die abstrakte, moralisch aufgeladene Entrüstung vieler in der radikalen Linken (die lustigerweise bis vor kurzem meist gar nicht verstanden haben, welche Bedeutung SYRIZA hat) wollen wir an dieser Stelle nicht teilen, genauso wenig wie die Rufe mancher aus Linken, man hätte doch besser mit der PASOK oder mit der liberalen TO POTAMI eine Koalition bilden soll. Nichtsdestotrotz lehnen wir diese Koalition entschieden ab. Die ANEL ist eine zutiefst reaktionäre Partei, und zwar nicht nur in gesellschaftspolitischen Fragen. Wenn in der Stellungnahme von „Griechenland entscheidet“ oder jener von „Blockupy“ eine gemeinsame Schnittmenge zwischen SYRIZA und ANEL gesehen wird (Ablehnung der Memoranden, Kampf gegen Korruption und Steuerbetrug), dann ist das reine Schönfärberei. „Blockupy“ versteigt sich sogar zu der Behauptung: „Drittens hat ANEL eine gewisse Glaubwürdigkeit, weil sie in den Augen vieler nicht aus dem klassischen politischen Establishment stammen und konsequent als Anti-Troika-Partei agiert haben – wenn auch nur populistisch.“ In Wahrheit ist ANEL als Spaltprodukt der konservativen ND sehr wohl eine Partei, die ihre Wurzeln im bisherigen Establishment hat. Das sind Konservative, die angesichts des Niedergangs der Pro-Troika-Parteien Angst um ihre Pfründe hatten. Es handelt sich um eine rechtskonservative Partei, die unmissverständlich bürgerliche Interessen vertritt. Eine Koalitionsregierung mit einer solchen Partei ist eine klare Absage zu erteilen.
Wir können davon ausgehen, dass SYRIZA in einer ersten Phase dadurch wohl keine großen Abstriche an ihrem Sofortprogramm wird machen müssen. Auch in der spanischen Volksfront haben sich die bürgerlichen Kräfte erst mit der Zeit als Hindernis erwiesen. Mit diesem lang vorbereiteten Schritt wird aber offensichtlich, welche Politik Tsipras verfolgt. Seit 2012 versucht er sich mit einer Mäßigung seines Programms und einem Schwenk hin zu einer Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien gegenüber der EU als verlässlicher Verhandlungspartner darzustellen. Er hat offensichtlich Angst, dass er mit dem Slogan „Regierung der Linken“ von 2012 im In- und Ausland noch mehr das Mäntelchen eines „radikalen Abenteurers“ umgehängt bekäme. Er will aber in der jetzigen Situation auf keinen Fall, dass diese Verhandlungen scheitern oder gar nicht zustande kommen.
Die Kommunistische Strömung in SYRIZA hat am Wahlabend betont, dass jetzt die historische Chance zur Bildung einer Linksregierung möglich ist. Aber die KKE lehnt das ja ab, so die Entschuldigung von Tsipras & Co. Und die Regierungsbildung müsste unbedingt erfolgreich sein, sonst kommt wieder der Vorwurf mit SYRIZA drohe das Chaos. Tsipras verfolgt ganz klar die Logik der parlamentarischen Arithmetik und der „realpolitischen Optionen“. Er bleibt in seinem Denken ganz in den Spielregeln der bürgerlichen Demokratie, die in Griechenland schon bis zum Äußersten ausgehöhlt ist. In Wirklichkeit müsste er sein Vorgehen nicht danach richten, was ihm im Parlament an Mandaten zur absoluten Mehrheit fehlt, sondern an den mehr als 2 Millionen Stimmen, die er bei den Wahlen erhalten hat.
Hätte SYRIZA eine Alternative dazu gehabt? Die Kommunistische Strömung in der SYRIZA formuliert es so: SYRIZA hätten auf der Grundlage eines Programms antikapitalistischer und sozialistischer Maßnahmen an die KKE zur Bildung einer Linksregierung oder zumindest zur Unterstützung ganz konkreter Gesetzesinitiativen gegen die Memoranden herantreten müssen. Letzteres hatte die KKE-Führung sogar als mögliche Option bezeichnet. Man hätte sogar die KKE einladen können selbst Vorschläge zu machen, welche Gesetzesinitiativen sie für notwendig erachtet, um diese dann bei Übereinstimmung gemeinsam ins Parlament einzubringen. Es hätte auch nichts dagegen gesprochen mit der ANEL zu verhandeln, dass diese die Regierung im Parlament bei Vertrauensabstimmungen unterstützt. Auf diese Weise hätte man sehr gut aufzeigen können, wie weit es mit der Anti-Troika-Rhetorik dieser Partei her ist. Wenn die KKE tatsächlich sich einer Koalition verweigert, sollte die SYRIZA nach Umsetzung einiger zentraler Punkte des mit der KKE akkordierten Programms in Neuwahlen gehen. Mit einer solchen Offensivstrategie wäre die ganze gesellschaftliche Dynamik auf ihrer Seite gewesen und eine absolute Mehrheit mehr als wahrscheinlich.
Tsipras geht einen anderen Weg. Er schließt eine Zusammenarbeit mit der KKE nicht aus, gegenüber der Öffentlichkeit präsentiert er diese jedoch als gleichwertige Option zu einer Zusammenarbeit mit ANEL.
Aus unserer Sicht gibt es für die griechische ArbeiterInnenklasse nur einen Ausweg aus der Krise. Dieser läuft auf eine soziale Revolution und den Sturz des Kapitalismus hinaus. Mit einer Partei wie ANEL ist dies natürlich unmöglich. Die Linke hätte in dieser Situation die Aufgabe die Notwendigkeit einer solchen Revolution geduldig zu erklären. Die jetzt geplanten Sofortmaßnahmen mit einer solchen Perspektive zu verbinden, und zwar nicht nur in hohlen Worten, sondern durch ein konkretes Programm. Der natürliche Verbündete auf diesem Weg wäre die KKE. Tsipras muss sich die Kritik gefallen lassen, dass er nichts dazu beiträgt, die politische Klarheit unter seinen AnhängerInnen zu schärfen, sondern Illusionen in eine Lösung der Krise auf reformistischem Wege zu schüren.
SYRIZA muss für eine Koalition mit ANEL wichtige Zugeständnisse machen. ANEL-Chef Kammenos ist Verteidigungsminister und vertritt die Position, dass die Streitkräfte autonom sein sollen, sprich dass sich die Regierung nicht in die Angelegenheiten der Armee einmischen soll. Historische Beispiele zeigen, welches Gefahrenpotential für eine linke Regierung mit einer solchen Entscheidung einhergeht. Außerdem ist durch diese Koalition ein Vorgehen gegen die orthodoxe Kirche, einem wichtigen ökonomischen und politischen Machtfaktor in Griechenland undenkbar.
Die Bilanz der ersten beiden Tage seit dem Regierungsantritt ist beachtlich (Privatisierungsstopp usw.) und voll zu unterstützen. Doch diese Reformen sind eine offene Herausforderung an das griechische Kapital und die Troika. Der offene Konflikt ist unter diesen Umständen vorprogrammiert. In gutem Einvernehmen mit diesen Kräften ist dieser Weg nicht zu beschreiten. Früher oder später wird SYRIZA vor der Entscheidung stehen: Ergreifen wir Maßnahmen gegen die Verfügungsgewalt der KapitaleigentümerInnen und zur Überwindung des Kapitalismus oder nicht? Um diese Frage kann sich Tsipras nicht ewig herumschwindeln.
„Griechenland entscheidet“ hat Recht, wenn es jene kritisiert, die jetzt schon das Ende dieses linken Projekts sprechen und hysterisch den „Verrat“ der SYRIZA anprangern. Auch bei einer Beteiligung der ANEL an der Regierung ist mit diesen Wahlen ein Prozess losgetreten worden, der in Griechenland und in ganz Europa den Klassenkampf befeuern wird. Es ist selbstredend auf welcher Seite wir dabei zu stehen haben. Eine zynische Abwendung von diesen Kämpfen wäre in der Tat ein großer Fehler. Es gilt jetzt in ganz Europa eine starke Bewegung zur Unterstützung der griechischen ArbeiterInnenbewegung und Linken aufzubauen, die die eigenen Regierungen unter Druck setzen kann. Solidarität darf jetzt keine leere Floskel bleiben.
Warnen wollen wir jedoch vor einem Verständnis einer unkritischen Solidarität. Das Argument, solidarisch ist nur, wer den Kurs von Tsipras voll und ganz unterstützt, ist gefährlich. Das 20. Jahrhundert sah viele große Solidaritätsbewegungen: für die frühe Sowjetunion, für die Spanische Revolution, für Kuba und Venezuela. Wir wollen daran erinnern, dass viele in der europäischen Linken blind waren gegenüber den Fehlentwicklungen und der stalinistischen Degeneration in der Sowjetunion und kritische Stimmen mundtot gemacht haben im Namen einer solchen Solidarität. In allen diesen Fällen gab es in diesen Ländern, die zu ihrer Zeit das Zentrum revolutionärer Prozesse darstellten, unterschiedliche linke Konzepte. Der Interbrigadist, der an Stalin und Thälmann glaubte, war nicht solidarischer als die junge Anarchistin oder der junge Sozialist, der in den Milizen der CNT oder der POUM kämpfte.
In Griechenland ist es heute nicht anders. In der griechischen Linken und auch in SYRIZA gibt es große Meinungsunterschiede über die kommenden Aufgaben und die Frage, welches Programm es nun braucht. Die Frage lautet wie so oft: Reform oder Revolution. Deshalb gilt es in der kommenden Periode auch die Kommunistische Strömung in der SYRIZA zu stärken. Unsere Hoffnung ziehen wir daraus, dass wir in Griechenland den Beginn eines revolutionären Prozesses sehen, der ganz Europa erschüttern wird. Der Aufbau einer starken revolutionären Organisation, die die kommenden Bewegungen zum Sieg führen kann, ist jetzt die wichtigste Aufgabe!