Wie die Corona-Krise die Unzulänglichkeit des Bildungssystems demonstriert - und wie SchülerInnen damit umgehen. Von Alfred Mathis und Lorin Prantner, zwei Maturanten aus Vorarlberg.
Aufgrund der Verwirrung, Unklarheit und Unsicherheit im Schulsystem – vor allem für MaturantInnen – haben wir eine anonyme Umfrage zum Einfluss der momentanen Situation auf die psychische Situation Jugendlicher durchgeführt. Vom 28. auf den 29. April beantworteten 75 Jugendliche im Alter von 15 bis 19 Jahren online die Fragen im offenen Antwort- oder Multiple-Choice-Format. Obwohl der Großteil der TeilnehmerInnen einem privilegierten sozialen Umfeld entstammt und somit sowohl höhere Schulbildung als auch eine materiell relativ stabile Lebenslage genießt, lassen sich aus den Ergebnissen der Umfrage wichtige politische Schlüsse ziehen.
1. Spaltung der Jugend
Bereits bei den Fragen zum allgemeinen Wohlbefinden zeigt sich, dass die befragten Jugendlichen sich grob in zwei Lager einteilen lassen. Ein Drittel der Befragten fühlt sich eher schlecht, wobei nur einzelne ihre Gefühlslage als „sehr schlecht“ einschätzen. Jedem Fünften scheint es deutlich schlechter zu gehen als vor dem Lockdown. Deutlich mehr als die Hälfte gibt aber an, sich gut bis sehr gut zu fühlen. Ein Siebtel der Befragten gibt sogar an, sich besser zu fühlen als zuvor.
Auf die Frage, wie sie ihre aktuelle Gefühlslage am besten beschreiben würden, waren die häufigsten Antworten: glücklich, gelangweilt, gestresst, entspannt, müde. Während also viele Jugendliche von der “Pause” profitieren und Atem schöpfen, fühlen sich andere umso mehr unter Druck gesetzt. Schließlich stehen mit der Matura, der Lehrabschlussprüfung und anderen Abschlussklausuren noch entscheidende Prüfungen bevor, in denen den Jugendlichen trotz der unzureichenden Vorbereitung Höchstleistungen abverlangt werden.
Die durch die Ausgangsbeschränkungen stark verminderten Sozialkontakte werden als schwerwiegendste Einschränkung empfunden. Ausnahmslos alle Befragten geben an, sich in am meisten darauf zu freuen, ihre Freunde wieder physisch treffen zu können. Doch auch der normalerweise durch die Schule strukturierte Tagesablauf und ein damit verknüpftes Geborgenheitsgefühl werden mehrheitlich vermisst, wodurch sich die vorherrschende Langeweile und Nervosität begründen lassen.
Zwei Drittel der befragten Jugendlichen freuen sich unter anderem deswegen sehr stark auf die Rückkehr zum Normalbetrieb, weil sie es als anstrengend empfinden, überall nur mit dem Thema der Pandemie konfrontiert zu sein – lieber würde man wieder über gewöhnlichere Dinge sprechen. Knapp die Hälfte ist auch davon überzeugt, dass der Normalbetrieb ihre spezifischen Probleme zumindest teilweise lösen wird. Die andere Hälfte meint, ihre Probleme würden sich durch Lockerungen der Maßnahmen nicht lösen, ein paar einzelne gehen sogar davon aus, dass sich ihre Lage dadurch verschlimmern werde. Lediglich elf Personen geben an, sich gar nicht auf den Normalbetrieb zu freuen.
2. Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.
Das am meisten politische Element unserer Umfrage ist die Frage nach den spezifischen Ängsten und Stressfaktoren der Jugendlichen in dieser Krise.
Das aussagekräftigste Ergebnis ist hier neben dem Social Distancing die erneute Spaltung in Bezug auf den Schulstress und -druck: Einige SchülerInnen erleben die momentane Situation als paradiesische Auszeit, andere - sogar etwa die Hälfte - leidet hingegen unter starkem, auf einen kurzen Zeitraum konzentriertem Stress, da der abrupte Wechsel nach Jahren des zähen Frontalunterrichts verständlicherweise nicht allen leicht fällt. Gerade hier müsste ein funktionierendes Bildungssystem die SchülerInnen und Auszubildenden entlasten, um ihnen allen in dieser schwierigen und neuartigen Situation eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Stattdessen sind es wie immer nur die privilegierten, ohnehin gut zurechtkommenden SchülerInnen, die von den Entscheidungen der Regierung profitieren. Schulisch Schwächere, privat Belastete und sozial Benachteiligte werden weiterhin vom Stress verschlungen und können weder eine adäquate Maturavorbereitung noch „Pause“ oder „Ruhe“ genießen, wie es in dieser Krise eigentlich für alle nötig wäre. Das Distance Learning wird mehrheitlich als ermüdend bewertet und die davon beeinflusste Notengebung macht einigen SchülerInnen deutlich zu schaffen - gerade, weil es bei vielen um die Zulassung zur Reife- bzw. Abschlussprüfung geht. Somit können die Auswirkungen der Krise auf das Bildungssystem als bedrohlichster Stressfaktor festgehalten werden.
Die Antworten bezüglich des politischen Interesses bieten wieder mehr Interpretationsspielraum: Etwa die Hälfte der Befragten scheint sich diesbezüglich Sorgen zu machen, die andere Hälfte etwas weniger. Da die momentane Phase viel Zeit zum Nachdenken gibt, lässt sich das Desinteresse wohl teilweise durch den Schulstress begründen. Weniger privilegierte SchülerInnen müssen viel Zeit in das stumpfe Pauken auf eine sinnlos zentralisierte Reifeprüfung investieren, um sich über Wasser zu halten und haben daher weniger Zeit, ein politisches Bewusstsein von ihrer Situation zu entwickeln.
Tatsächlich erwähnen alle Interessierten explizit, dass sie von der rechten Politik der Regierungen entsetzt sind und sich teils durch deren menschenfeindliche Entscheidungen sogar vor einem kompletten System-Kollaps fürchten. Wie schon die Klimabewegung gezeigt hat, ist ein Potential für antikapitalistisches Gedankengut in weiten Teilen der Jugend vorhanden. Unsere Aufgabe besteht darin, den SchülerInnen über das Entsetzen und die Angst hinweg zu helfen und ihnen eine Anleitung zum Handeln zu geben. Vor allem die Zukunftsängste, die autoritären Maßnahmen und das auf Ungleichheit basierende Bildungssystem entspringen der Profitorientierung des Kapitalismus. Das zwingendermaßen hierarchische, teils diktatorische System verzichtet auf die Förderung praxisbezogenen Lernens, was zwar viel effizienter, aber eben auch teurer wäre, durch seinen Aufbau von oben nach unten. Ein demokratisches System sollte hingegen alle Beteiligten einbinden, um zusammen zu bestmöglichen Entscheidungen zu gelangen. Dies ist aber unmöglich, solang das Bildungssystem an den Interessen „der Wirtschaft“ ausgerichtet ist, womit die Reichen gemeint sind. Die Notwendigkeit, die Menschen so zuzurichten, dass man sie möglichst gut ausbeuten kann, macht eine völlig intransparente, autoritäre Bildungspolitik alternativlos. Das ist der Grund für die omnipräsenten Zukunftsängste in unserer Leistungs- und Angstgesellschaft, die aber nicht so naturgegeben ist, wie sie sich darstellt.
3. Fazit & Perspektiven
Die eigenartige Zeit bringt neben den Sorgen allerdings mit dem „Exil“ auch neue Lebensperspektiven ins Spiel. Über die Hälfte der TeilnehmerInnen gibt an, Erkenntnisse über sich selbst und das eigene Leben gewonnen zu haben - man entdeckt neue Interessen, erforscht die eigenen Gewohnheiten und widmet sich neuen Themen, für die bislang keine Zeit war. Dies wird von manchen als positiv von anderen wiederum als bedrückend empfunden. Manche konnten sich sogar erstmals wirklich mit politischen Geschehnissen auseinandersetzen. Die Entwicklungen wirken auf die Jugendlichen eher beunruhigend und beängstigend. Einzelne stellen auch fest, dass die Schule nicht ausschließlich dem Lernen, sondern vielmehr der Persönlichkeitsbildung und der Sozialisierung dienen sollte.
Die SchülerInnen leiden alle unter den genannten Ängsten, erkennen aber in den meisten Fällen nicht den Zusammenhang des ökonomischen Systems mit ihrer Lebenssituation. Die Krise wird ihnen diese Zusammenhänge immer deutlicher vor Augen führen - unsere Aufgabe ist dabei, ihnen verstehen zu helfen, dass wie alles andere auch das Bildungssystem innerhalb des Kapitalismus sich nicht optimal entfalten und nur schwer verbessert werden kann, weshalb auch hierfür ein völliger Systemwandel die einzig realistische Lösung darstellt.
(Funke Nr. 184/3.6.2020)