Regierungsumbildungen wegen Bestechungsvorwürfen und Korruptionsskandalen fördern die Natur der größten bürgerlichen Partei zutage. Stefan Wagner nimmt eine Charakterisierung vor.
Kurz vor Weihnachten war die ÖVP erneut erschüttert worden. Anlass waren wieder einmal Chat-Nachrichten von Thomas Schmid. Eine Razzia im Finanzministerium sorgte für Aufsehen. Der ÖVP-nahe Spitzenmanager, nunmehriger Eigner der Steyr-Werke und Kurz-Intimus Siegfried „Sigi“ Wolf soll sich mithilfe privater Kontakte einen 630.000 € Steuernachlass „erarbeitet“ haben.
2016: Der Industrielle Sigi Wolf schuldet dem Staat laut Prüfung des Finanzamts 11 Mio. €. Grund war ein verändertes Doppelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz, das sowohl die Finanzbehörden als auch die Steuerberater Wolfs übersehen hatten. Doch Wolf will nicht mehr als 7 Mio. bezahlen. Er ist bestens vernetzt im ÖVP-Finanzministerium und interveniert beim damaligen Finanzminister Schelling und dem damaligen Generalsekretär Thomas Schmid. Die ursprünglichen 11 Mio. konnten tatsächlich auf 7 Mio. verringert werden. Im Zuge dieser hochbrisanten Diskussionen innerhalb des Finanzministeriums fiel auch die konzise Erklärung, warum das Ministerium für einen Unternehmer lobbyiert. So Schmid an einen Mitarbeiter: „Vergiss nicht – du hackelst im ÖVP-Kabinett!! Du bist die Hure für die Reichen!“
Der Nachlass – wovon normale Menschen nur träumen können – war Wolf noch immer zu wenig, vor allem wollte er die angefallenen Zinsen nicht zahlen. Zu diesem Zweck konnte Wolf mithilfe seiner Kontakte im Finanzministerium eine Finanzbeamtin mit Karriereaspirationen ausfindig machen. Und hier kommt der eigentliche Tatbestand ins Spiel. Im Gegenzug dazu, dass diese das größte Finanzamt in Österreich – Baden – als Vorständin übernehmen konnte, setzte sie ihren Sanctus unter den Wolf´schen Steuererlass. Das ganze Geplänkel um den Nachlass hatte jedoch ein Nachspiel, bei einer internen Kontrolle vor ein paar Jahren fiel dieser auf. Die Forderung nach Steuernachzahlung wurde erneut aufgestellt. Wolf hat dagegen jedoch eine Beschwerde vorm Bundesfinanzgericht eingebracht, dessen Beurteilung noch Jahre dauern kann.
Nun kann man sich fragen, ob dies nur ein Einzelfall war, oder ob dieser Skandal exemplarisch für das Sittenbild der ÖVP steht. Die einfache Antwort: Die ÖVP ist der politische Ausdruck der Verflechtungen zwischen Wirtschaft, Politik und Justiz. Ein weiteres Beispiel ist die Unterstützung für den Immo-Mogul René Benko bei einem Immobilien-Deal, wo ein Beamter aus dem Urlaub zitiert wurde, um das Bezirksgericht aufzusperren und den Deal in trockene Tücher zu bringen. Diese Gefälligkeiten werden mit regelmäßigen Spenden für die ÖVP bzw. damals Sebastian Kurz direkt „vorbereitet“. Um zu verstehen, warum diese Vorgänge „part-of-the-game“ sind und nicht nur dem „türkisen System“ von Kurz geschuldet waren, hilft ein Blick auf die Geschichte der ÖVP.
Das System „ÖVP“
Die ÖVP bzw. ihre Vorgängerorganisation, die Christlich-Soziale Partei waren der Versuch, dem Kapital durch eine Partei eine starke soziale Basis in der Gesellschaft zu verschaffen. Schon die Christlich-Soziale Partei versuchte die Interessen von (kleineren und mittleren) Bauern, Zinshausbesitzern, Beamten, Großgrundbesitzern und Finanzaristokratie unter einen Hut zu bringen. Ihr wichtigster Kitt war der Antisemitismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Österreichische Volkspartei (ÖVP) wieder als Sammelbecken verschiedenster sozialer Gruppierungen gegründet. Das Bindemittel für diese widersprüchliche Konstellation (Wirtschaftsbund, Bauernbund, Österreichischer Arbeiter- und Angestellten-Bund – ÖAAB) war wieder reaktionäre Ideologie: Antisozialistisch, katholisch und patriotisch.
Die ÖVP blieb dabei die Partei des österreichischen Bürgertums, auch wenn sie zur Rücksichtnahme auf Bauern, Kleinunternehmer und Gewerbe gezwungen war und ist. Finanziert wird die ÖVP über die Beiträge aus den Landesparteien, welche wiederum ausschließlich durch die Bünde finanziert sind. Die Bünde finanzieren nicht nur die Partei, sie stellen auch ihre Mitglieder, da es fast keine direkten Parteimitglieder gibt. Die Losung war: Der Wirtschaftsbund bringt das Geld, der Bauernbund die Parteikader und der ÖAAB die Stimmen. Zwar ist der ÖAAB die mitgliederstärkste Sparte, doch „wer zahlt, schafft an“, und so dominieren der Bauern- und vor allem der Wirtschaftsbund. Da die Bauern in Österreich beinahe schon eine aussterbende Spezies geworden sind, bleibt der Wirtschaftsbund dominant.
Aber nicht nur die Bünde haben verschiedene Interessen, auch im Wirtschaftsbund stehen sich Klein- und Mittelunternehmer auf der einen und Großunternehmer auf der anderen Seite gegenüber. Weil das Klein- und Mittelunternehmertum zahlenmäßig überwiegt, verschafft sich die (Groß-)Industrie über die außerhalb stehende Industriellenvereinigung mit Parteispenden in Millionenhöhe auf andere Weise Gehör. Mit einem Wort: Die ÖVP verfügt über eine organische, direkte Verbindung zur bürgerlichen Klasse, die umgekehrt einen unmittelbaren und direkten Zugang zum Staatsapparat bekommt.
Denn die ÖVP hat nicht nur die Symbiose von Profit-Politik-Macht zur Perfektion getrieben, sondern dominiert in Wirklichkeit auch den kompletten Staatsapparat. Einerseits durch die ÖVP-Landeshauptleute und andererseits mithilfe des Beamtenapparats in den Ministerien, speziell im Innenministerium, und der Justiz. Das Innenministerium ist de facto seit 20 Jahren eine Erbpacht der ÖVP Niederösterreich. Nach der kompletten Umfärbung unter Ernst Strasser passierte nur unter Türkis-Blau mit Herbert Kickl ein „kleiner Betriebsfehler“, welcher aber durch „Ibiza“ ausgemerzt werden konnte. Seitdem war der gelernte ÖVP-Niederösterreicher Nehammer der Gralshüter in der Herrengasse, und nach dessen Aufstieg zum Bundeskanzler ist durch das schwarze Urgestein Karner wieder alles beim Rechten.
Im Justizministerium gab es aber durch das Zerstören des „Systems Pilnacek“, der in diesem wichtigen Ministerium als Aufpasser für die ÖVP agierte (Der Funke berichtete), den ersten Warnschuss gegen das Gesamtsystem ÖVP. Egal ob Schwarz oder Türkis, egal ob mit Blau oder Grün, die ÖVP und ihre gebündelten bürgerlichen Interessen sind Programm, auch und gerade in den Jahren unter „Messias“ Kurz. Ihre große Stärke, dem Bürgertum eine soziale Basis verschafft zu haben, hat sich in ihre entscheidende Schwäche verwandelt.
Nichts ist für immer, aber ...
Nichts ist für immer gemacht, Österreich ohne ÖVP ist denkbar. Auch die italienischen Christlich-Sozialen, über Jahrzehnte die stärkste Partei Italiens, ist innerhalb weniger Jahre in den 1990igern ins nichts zusammengebrochen. Korruption spielte dabei keine kleine Rolle.
Was dieser Perspektive konkret entgegensteht ist die politische Haltung der Sozialdemokratie. Sie „übersieht“ die tiefe Krise der ÖVP wohlwollend und eilt der Partei und Regierung stets stabilisierend zur Hilfe. Rendi-Wagner sieht die Partei nach dem Abgang von Sebastian Kurz in die USA gar als geläutert an.
Dies ist eine falsche Einschätzung, wie bald durch neue Chatprotokolle, ProtagonistInnen, Verfahren, Leaks etc. widerlegt werden wird. Politisch instinkt- und planlos beantwortet Rendi-Wagner die Frage nach der Möglichkeit einer ÖVP-SPÖ Koalition so auch klar mit „Ja“.
Anstatt die tiefe Krise der wichtigsten bürgerlichen Partei Österreichs zum Vorteil für die Arbeiterklasse und ihre Organisationen zu nutzen, vertieft die Sozialdemokratie also lieber ihre eigene Krise.
(Funke Nr. 200/20.1.2022)