In unserer Gesellschaft gibt es keinen Raum, der den Zwängen des Kapitalismus nicht unterworfen ist. Der Wissenschaftsbetrieb and den Universitäten ist hier keine Ausnahme. Ein Leserbrief von M. Schertler.
Die gegenwärtige Krise führt zu einer Erosion des Vertrauens in die etablierten Institutionen und auch die Wissenschaft bleibt von dieser neuerlichen Skepsis nicht verschont. Im Zuge der Bewegung gegen die Corona-Maßnahmen finden Standpunkte, die die Wirksamkeit von Impfungen, die Existenz von Viren, den Klimawandel oder gar die Kugelförmigkeit der Erde in Abrede stellen ein immer größeres Publikum.
Gleichzeitig gibt es eine Schicht interessierter Laien, die beim Wort Wissenschaft jegliche Skepsis vergessen. Man findet sie in den Kommentarspalten populär“wissenschaftlicher“ Facebookseiten (IFLScience ist hier wohl die schlimmste Übeltäterin) oder auf Twitter, wo sie den neuesten Unsinn verteidigen, den Elon Musk, ein Oligarch, der sich mit den intellektuellen Leistungen seiner Angestellten zu schmücken pflegt, von sich gibt.
Beide Weltsichten sind attraktiv, weil sie das Leben in der komplizierten Welt sehr einfach machen. Für Wissenschaftsskeptiker ist die Auseinandersetzung mit der realen Welt nur sekundär, da sie die ihnen passenden Sachverhalte aus ideologischen Gespinsten beziehen können. Für die obengenannten Wissenschaftslaien sowie einige Forschende selbst ist Wissenschaft, beziehungsweise die technologische Entwicklung, ein außerhalb der Gesellschaft stattfindendes Phänomen, das die akuten gesellschaftlichen Probleme schon lösen wird, ohne dass man sich Gedanken über Eigentumsverhältnisse, gesellschaftliche Spannungsfelder oder langfristige Technologiefolgen machen müsste.
In der allgemeinen Bevölkerung herrschen also Fehlvorstellungen vor, wie Wissenschaft gemacht wird. Wie bei der sprichwörtlichen Wurst weiß man nicht genau, was alles hinein kommt. Ich, als Doktorand einer technischen Wissenschaft gewissermaßen Metzgerlehrling, möchte diesen Leserbrief nutzen, um einen Einblick in den Wissenschaftsbetrieb zu geben. Nicht, um irgendjemandem den Appetit zu verderben, sondern um eine Orientierungshilfe am Informationsbuffet zu geben.
Wissenschaft findet üblicherweise an Universitäten oder zumindest in Zusammenarbeit mit Universitäten statt. Dort gibt es grob gesprochen drei Gruppen von Wissenschaftlern: Doktoranden, Postdocs und Professoren. Die ersten beiden Gruppen sind üblicherweise in befristeten Verträgen angestellt, leisten wie selbstverständlich unbezahlte Überstunden und verrichten das Gros der wissenschaftlichen Arbeit. Sie versuchen die nächsthöhere Stufe der akademischen Karriereleiter, also ein Doktorat oder eine Professur, zu erreichen. Bei den Professoren kommt es vor, dass sie gar nicht mehr in die technischen Einzelheiten der Forschung involviert sind, sondern eher als wissenschaftliches Management beziehungsweise als Fördergeldeintreiber fungieren.
Allen Gruppen ist gemeinsam, dass sie nach Publikationen streben. Die Doktoranden brauchen publizierte Arbeiten, um daraus ihre Dissertation zusammenzustellen, beziehungsweise darauf zu referenzieren, Postdocs brauchen sie für ihre Bewerbung als Professor und Professoren brauchen sie, um mehr Forschungsgelder einwerben zu können (oder, am Beginn ihrer Karriere, um Qualifikationsvereinbarungen zu erfüllen). Die Publikationen sollten möglichst zahlreich und möglichst vielzitiert sein, und auf möglichst renommierten Konferenzen bzw. in möglichst renommierten Journalen erscheinen – schließlich entscheiden diese Maße darüber, wer die wissenschaftliche Leiter hochsteigen darf und wer herabfällt. Dabei ist der Publikationsdruck so hoch, dass der wissenschaftliche Inhalt der Außenwirkung und Vermarktung untergeordnet wird. Diese Situation wird oft mit der Phrase „Publish or Perish“ („Veröffentliche oder stirb“) zusammengefasst und führt zu schlechterer Forschung. Einerseits wächst die Menge an wissenschaftlichen Veröffentlichungen, andrerseits wird die enthaltene Erkenntnis pro Publikation kleiner und es wird schwieriger, im Rauschen aller Artikel eines Fachgebietes ein Signal zu erkennen. Die Publizierbarkeit wird zum Maß der Qualität von Forschung, was auch dazu führt, dass Forschungstreibende zuweilen eher seichten Trends folgen, deren Bearbeitung einerseits schnell veröffentlichbare Artikel und andrerseits Forschungsgelder verspricht. Letztere kommen entweder von öffentlichen Stellen, deren Funktionäre sich besonders innovativ darstellen wollen, oder aus der Privatwirtschaft, die, auf der Suche nach wissenschaftlicher Legitimation und neuen Profitquellen, natürlich ihr gefällige Projekte unterstützt. So fördert die Autoindustrie zum Beispiel lieber die Entwicklung von Technologien, die in Luxusautos anstatt Autobussen landen, Cryptowährungsspekulanten lassen nach effizienteren Wegen forschen, wie ihr Spielgeld von A nach B (und vielleicht am Finanzamt vorbei) verschoben werden kann, und Waffenhändler sponsern zur Aufbesserung ihres Images „Nachhaltigkeitsforschung“. Für Grundlagenforschung oder Forschung, die nicht direkt wirtschaftlich verwertbar ist, ist es schwieriger Forschungsgelder zu bekommen.
Die Schrankenwärter des wissenschaftlichen Betriebs sind die wissenschaftlichen Verlage, die Konferenzen veranstalten und Journale herausgeben. In einem System, das auf den außenstehenden Beobachter völlig absurd wirken muss, begutachten Wissenschaftler ohne Entgelt die anonymisierten Einreichungen ihrer Kollegen, um zu bestimmen, welche Artikel veröffentlicht werden – das sogenannte Peer Review. Die Autoren jener Artikel, die veröffentlicht werden, respektive ihre Universitäten, entrichten dann eine Konferenzgebühr an den Verlag (hunderte bis tausende Euros), der die Journale und Konferenzbände dann wiederum um zehntausende von Euros im Jahr an Universitätsbibliotheken verkauft. Weder an der Forschung noch an der Qualitätssicherung durch das Peer Review sind die Verlage in relevanter Weise beteiligt, sie sind ausschließlich mit der Gewinnschöpfung betraut.
Die durch die Publish-or-Perish-Situation aufgeblähte Anzahl an Artikeln und die unverfrorene Ausbeutung durch Wissenschaftsverlage führt dazu, dass das Peer Review nicht immer seinen Zweck erfüllt: einerseits kann es sein, dass schlampige Arbeit, wo sie nicht zu offensichtlich ist, ihren Weg in Journale findet, andrerseits geht zuweilen gute Wissenschaft in der schieren Masse an Einreichungen unter.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass im Kapitalismus auf eine Art geforscht wird, die die Wissenschaftstreibenden zur Selbstausbeutung zwingt und nicht einmal die bestmöglichen Resultate hervorbringt, während sich Verlage und Industrie bereichern. Gleichzeitig ist der Fokus der Forschung nicht objektiv determiniert, sondern orientiert sich bedingt durch die Abhängigkeit von Drittmitteln oft direkt an wirtschaftlichen Interessen. Trotz dessen kann die Parole nicht nicht lauten: „Gegen die (kapitalistische) Wissenschaft!“, sondern „Über die kapitalistische Wissenschaft hinaus – für eine sozialistische Wissenschaft im Dienst des Proletariats!“.
(Funke Nr. 214/24.05.2023)