In den Medien mehren sich Berichte über skandalöse Justizverfahren. Dass Iustitia zunehmend auf einem Auge blind ist, berichtet unser Gerichtskorrespondent.

Alljährlich wählt die „Forschungsstelle Österreichisches Deutsch“ nicht nur das Wort des Jahres, sondern auch das Unwort. 2010 bewies die Kommission ein gutes Händchen: Das Unwort des Jahres ist „Humane Abschiebung“, der Unspruch lautet „Es gilt die Unschuldsvermutung“. Damit drückten die WissenschaftlerInnen den Unmut all jener ÖsterreicherInnen aus, die diese Floskeln täglich in den Tageszeitungen lesen. Denn dass die uneingeschränkte Unschuldsvermutung längst nicht für alle gilt, rückt in jüngster Zeit immer tiefer ins kollektive Bewusstsein.

In seiner ersten Ausgabe des neuen Jahres hat das Nachrichtenmagazin profil eine interessante Statistik veröffentlicht. Im Rahmen einer alljährlichen Umfrage „Wem vertrauen Sie heute weniger als noch vor einem Jahr?“ nannten 55 Prozent der befragten Personen spontan das österreichische Rechtssystem. Damit befindet sich die Justiz gemeinsam mit der Bundesregierung, den Banken und dem ORF auf einem Abstiegsplatz in der Beliebtheitsskala. Und an diesem Vertrauensverlust ist sie alles andere als unschuldig.

Die Zweifel am Rechtsstaat sind in den vergangenen Monaten durch zahlreiche dubiose Gerichtsverfahren genährt worden. In den Mittelpunkt des skandalösen Treibens in österreichischen Gerichtssälen rückte der Prozess gegen 13 TierschützerInnen nach Paragraph 278a STGB, dem sogenannten „Mafia-Paragraphen“. Aus dem Landesgericht Wiener Neustadt wurden seit dem ersten Verhandlungstag im März 2010 zahlreiche Details bekannt, welche eine dubiose Rechtsauffassung der Justiz durchblicken ließen, sowie illegale Ermittlungsverfahren der Polizei aufdeckten. Der Prozess strotzt vor Ungereimtheiten, es mangelt an Beweisen und das dilettantische Auftreten von Richterin Sonja Arleth lässt sogar GrundrechtsexpertInnen am Rechtsstaat zweifeln.

Ein pikantes Detail wurde erst kürzlich bekannt und übertrifft sogar die schlimmsten Befürchtungen um das österreichische Rechtssystem. Demnach wurde die zur Observierung der TierschützerInnen eingerichtete Sonderkommission „Soko Bekleidung“ auf Intervention des Chefs der größten österreichischen Modekette Kleider Bauer, Werner Graf, ins Leben gerufen. Medienberichten zufolge wurde innerhalb von 48 Stunden eine eigene Polizeitruppe zusammengestellt, weil dem Textilindustriellen der Wagen im Wiener Nobelviertel Grinzing zerkratzt wurde. Selbstverständlich waren die TierrechtlerInnen schon zuvor unangenehm aufgefallen, sorgten sie doch mit ihren Aktionen vor den Filialen für Umsatzeinbußen bei Kleider Bauer. Bis zu drei Dutzend Beamte hatten nach der Intervention Grafs seit April 2007 gegen TierrechtsaktivistInnen ermittelt, teilweise auch verdeckt. Die Frage darf also gestellt werden: Wer hat in diesem Land Lenkungsgewalt über Exekutive und Justiz? Es sind die einflussreichen Industriellen, über deren Köpfe sich keinE PolitikerIn, PolizeikommandantIn oder RichterIn hinwegzusetzen wagt.

Denn während die 13 TieraktivistInnen durch den seit Monaten andauernden, lückenhaften und undurchsichtigen Prozess in ihrer Existenz bedroht sind – der Arbeitsplatzverlust ist mangels der Existenz einer Gefängniskarenz unvermeidlich –, speisen krimineller Machenschaften verdächtigte Industrielle weiterhin in den Wiener Nobelrestaurants. Dass ein Karl-Heinz Grasser, ein Julius Meinl (der sich kürzlich die schweren Verluste der Meinl Bank mit einem Aufsichtsratsgehalt von 2,4 Mio. Euro vergüten ließ) oder der adelige Waffenlobbyist Alfons Mensdorff-Pouilly, noch ohne Verurteilung durch die Straßen ziehen, muss erfahrenen StrafrechtlerInnen die Schamesröte ins Gesicht treiben. Die Ermittlungen gegen Grasser wegen offensichtlicher Ungereimtheiten bei der Privatisierung der Bundeswohnungen (BUWOG) liefen bisher ins Leere: Meinl ist trotz dreister Abzocke von KleinanlegerInnen nach der Hinterlegung einer Kaution von 100 Mio. Euro auf freiem Fuß und der Großgrundbesitzer und Gatte von Ex-Ministerin Maria Rauch-Kallat, Mensdorff-Pouilly, wartet bezüglich der Bestechung bei Rüstungsdeals immer noch auf ein Urteil. Frei nach dem Industriellen und Grasser-Trauzeugen Walter Meischberger stehen die Gerichte „supernackt“ da. „Je prominenter die Causa, umso auffälliger Justitias Lustlosigkeit“, fasste profil kürzlich treffend zusammen.

Aktiv wurde die Exekutive indessen nach einem Mistkübelbrand vor einer Filiale des Arbeitsmarktservice (AMS) in Wien-Margareten. Rasch wurden vier Kunststudierende ausfindig gemacht, die mit dieser Aktion auf „kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse am Arbeitsmarkt“ hinweisen wollten. Der Mistkübelbrand endete jedoch überraschend nicht in einer Sachbeschädigungsanzeige, sondern kumulierte in Ermittlungen nach Paragraf 278a – Bildung bzw. Teilnahme an einer terroristischen Vereinigung. Zwischen Juli und August 2010 verbrachten die vier StudentInnen sechs Wochen in Untersuchungshaft. Bis heute tappt die Polizei allerdings nach einem im selben Monat begangenen Brandanschlag auf ein Asyl-Wohnheim in Wien-Floridsdorf im Dunkeln. Zwar vermutet man hinter der lebensgefährlichen Brandstiftung einen Zirkel von Neonazis, Ergebnisse konnte die Exekutive indessen noch keine vorlegen. Die Stadtzeitung Falter berichtete damals schon von mehreren Brandanschlägen auf das Haus sowie von Drohungen gegen die BewohnerInnen. Allerdings befand die Polizei bis dahin ein Einschreiten für nicht notwendig – immerhin wurde keinem Industriellen die Autotür zerkratzt.

Die jüngsten Zahlen aus der profil-Studie sorgten für Erstaunen, stellt nicht zuletzt das Rechtssystem einen Pfeiler der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie dar. Wenn die Gleichheit schon vor dem Gesetz untergraben wird, welcher Institution dieses Staates können wir dann noch vertrauen? Ein Vertrauensverlust der Judikative kann somit stellvertretend als Misstrauensantrag für die herrschenden Verhältnisse in Österreich gesehen werden.

Die letzten Monate lehren uns also: Wer in Österreich Geld hat, darf sich über lasche Ermittlungen und milde Urteile freuen. Wenn in Österreich der Begriff der Klassenjustiz fällt, dann schwingt unweigerlich das historische Erbe des „Schattendorfer Urteils“ mit. Im politisch aufgeheizten Klima der 1920er Jahre endete eine sozialdemokratische Versammlung im burgenländischen Schattendorf mit zwei Toten und fünf Verletzten. Die aus dem austrofaschistischen Lager stammenden Mörder wurden 1927 im sogenannten „Schandurteil“ freigesprochen, was zu großen Protesten der ArbeiterInnen Österreichs, Streiks und schließlich zum Brand des Justizpalastes führte. Bekanntlich hat die jahrzehntelange sozialpartnerschaftliche Packelei das Kampfbewusstsein der österreichischen ArbeiterInnen betäubt, doch in vielen wächst der Zorn, wenn über die oberen Zehntausend ungeachtet ihrer krimineller Machenschaften täglich in den Zeitungen steht: „Es gilt die Unschuldsvermutung“.


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