Der 100. Geburtstag von Bruno Kreisky bringt nicht nur einige Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt sondern auch ein Revival eines sozialdemokratischen Mythos. Von Gernot Trausmuth.
Kreisky (Jahrgang 1911) entstammte bürgerlichen Verhältnissen, schloss sich aber schon als Schüler der Sozialdemokratie an. Im Großen Sozialistenprozess von 1936 stand er vor dem austrofaschistischen Richter und verteidigte dort die Idee des Klassenkampfs „als das einzige Mittel zur Befreiung der Arbeiterschaft“. Als die Nazis in Österreich einmarschierten, kam er wieder ins Gefängnis, konnte später aber nach Schweden ins Exil gehen. Dort wird unter dem Eindruck der Erfolge der schwedischen Sozialdemokratie aus dem revolutionären Sozialisten ein reformistischer „Realpolitiker“.
In den Nachkriegsjahren war Kreisky als Diplomat und Außenpolitiker tätig. Seine Arbeit ist eng verbunden mit den Bemühungen um den Staatsvertrag und die Neutralität. Kreisky verkörperte wie kaum ein anderer die Außenpolitik der SPÖ, die nach 1945 ihre Hauptaufgabe in der Wiedererrichtung eines kapitalistischen Österreichs sah, das zwar neutral, aber ganz klar im von den USA geführten Westen verortet war. Sozialpartnerschaft, Große Koalition und Integration in den Westen waren die großen Projekte der Nachkriegssozialdemokratie, die Kreisky aktiv mitgestaltete.
Die „Ära Kreisky“
Die Figur, als die Bruno Kreisky aber in die Geschichtsbücher eingehen sollte und als die er im kollektiven Bewusstsein der österreichischen ArbeiterInnenbewegung bis zum heutigen Tag verankert ist, ist die des Bundeskanzlers einer SPÖ-Alleinregierung. Vor dem Hintergrund eines weltweiten Linksrucks („68er-Bewegung“, Klassenkämpfe in ganz Europa, nationale Befreiungsbewegungen,...) wehte auch ein frischer Hauch durch das konservativ verstockte Österreich, das die SPÖ seit dem Kriegsende mitverwaltet hatte. Einen politischen Ausdruck fand dies im Erstarken der Sozialdemokratie. 1970 wurde die SPÖ erstmals stimmenstärkste Partei bei Nationalratswahlen. Mit Unterstützung der FPÖ macht Kreisky eine SP-Minderheitsregierung. Unter dem Motto „Lasst Kreisky und sein Team arbeiten!“ errang er wenige Monate später die absolute Mehrheit, die er 1975 und 1979 verteidigen sollte.
Was Kreiskys Reformpolitik Anfang der 1970er Rückenwind verschaffte, war die günstige Wirtschaftsentwicklung. Der Boom erlaubte eine Politik, die alle gesellschaftlichen Kräfte gleichzeitig zufrieden stellte. Die ArbeiterInnen verbanden mit Kreisky ein wahres Feuerwerk an Reformen, die mit der ÖVP undenkbar gewesen wären. Mehr Urlaub, 40-Stunden-Woche und der Ausbau des Sozialsystems brachten eine spürbare Verbesserung des Lebensstandards. Dazu kamen die Fristenlösung, die Gleichstellung von ehelichen und unehelichen Kindern, Familienrechtsreformen, die Frauen endlich rechtliche Gleichstellung garantierten und die Legalisierung der Homosexualität. Damit reagierte die SPÖ auf ganz zentrale Forderungen der Frauenbewegung der 1970er. Herzstück der sozialdemokratischen Reformpolitik war die Durchsetzung des freien Hochschulzugangs. Endlich sollte es auch ArbeiterInnen möglich sein, ihren Kindern eine höhere Bildung zukommen zu lassen. All das erklärt den großen Rückhalt, den die SPÖ damals in der ArbeiterInnenschaft genoss. Der Reformismus war in Österreich auf seinem Höhepunkt angelangt.
Auch das Kapital konnte mit dieser Politik gut leben, weil die SPÖ einen wesentlichen Beitrag zur nötigen Modernisierung der Wirtschaft leistete und damit die internationale Wettbewerbssituation des österreichischen Kapitalismus verbesserte. So hieß es in der Regierungserklärung von 1971: „Es ist die Überzeugung der Bundesregierung, daß sich Österreichs Beteiligung an der europäischen Integration in dem Maße friktionsfrei gestalten wird, als es gelingt, Österreich auf vielen Gebieten europareif zu machen. Dies gilt im besonderen für die Wirtschaft, die systematisch von den Fesseln überholter protektionistischer und bürokratischer Bürden befreit werden muß. Der Prozeß der Strukturverbesserungen soll beschleunigt fortgesetzt werden. Mittel hiezu sind die Erleichterungen der Unternehmensfinanzierung, die Förderung der Forschung und technischer Innovationsprozesse, sowie der Institutionen zur Aus- und Weiterbildung, insbesondere zur Managerschulung. Konzentrations- und Kooperationsvorgänge im Unternehmensbereich, die Weckung und Stärkung der unternehmerischen Eigeninitiative und die Förderung eines freien und geordneten Wettbewerbs sollen zu einer Modernisierung und ständigen Erneuerung wirtschaftlicher Aktivität in neue, zukunftsträchtige Bereiche führen.“
Diese Wirtschaftspolitik führte zu einer vom Staat bewusst geförderten Stärkung des österreichischen Kapitalismus. Auch rüttelte die SPÖ nicht an der Ausrichtung der Verstaatlichten Industrie als Lieferantin billiger Rohstoffe und Vorprodukte für die Privatwirtschaft, was die wahre Ursache für die Verstaatlichtenkrise der 1980er Jahre darstellte. Die Hochschulreform oder das neue Betriebsverfassungsgesetz, die von der ArbeiterInnenklasse als Fortschritte begrüßt wurden, sind aber auch im Rahmen der Interessen des Kapitals zu sehen. Die Zuführung breiter Schichten zu höherer Bildung war angesichts der Modernisierung der Wirtschaft unumgänglich.
Konsenspolitik
Trotz Alleinregierung bemühte sich die SPÖ unter Kreisky weiterhin um eine Zusammenarbeit der Klassen. Die Sozialpartnerschaft, die in ihrer institutionalisierten Form sogar eine Art Nebenregierung darstellte, wurde genauso wenig in Frage gestellt wie das Proporzsystem, das der ÖVP weiterhin einen großen Einfluss im Beamtenapparat oder bei der Nationalbank einräumte. Wurde von Otto Bauer noch die Devise ausgegeben, „50 Prozent + 1 Stimme“ seien die nötige Voraussetzung für die Errichtung des Sozialismus, so ging es der SPÖ jetzt nur noch um die bessere Verwaltung des Kapitalismus.
Die SPÖ-Alleinregierung bedeutete zwar, dass sich das Kräfteverhältnis prinzipiell zugunsten der ArbeiterInnenklasse verschoben hatte, aber gleichzeitig wurde diese von der SPÖ in Form der Sozialpartnerschaft und weitgehenden Konsenspolitik ideologisch entwaffnet und in politischer Passivität gehalten. Die durchaus vorhandenen Kampftraditionen gingen somit verloren. Dass die Lohnabhängigen in den letzten beiden Jahrzehnten den Angriffen der Bürgerlichen auf die sozialen und demokratischen Errungenschaften der 1970er Jahre wenig bis nichts entgegenzusetzen hatten, ist somit direktes Ergebnis der Stellvertreterpolitik, die von Kreisky wie von keinem anderen vorgelebt wurde. Nicht zufällig erhielt der rote Kanzler den Beinamen „Sonnenkönig“.
Wer sich in der Sozialdemokratie für einen linken, klassenkämpferischen Kurs einsetzte, wurde entweder isoliert (wie Josef Hindels) oder ausgeschlossen (wie Teile der Jugendorganisationen).
Zäsurpunkt Krise
Die Weltwirtschaftskrise von 1974/75 und vor allem die Krise von 1980-82 ließen den Spielraum für eine Reformpolitik jedoch merklich schrumpfen. Reformen gab es jetzt nur noch solche wie im Justizbereich, die „nichts kosten“. Die Vollbeschäftigung war nun nicht mehr zu garantieren, ab 1978 begannen die Reallöhne wieder zu sinken, die Lohnquote (also der Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen) sollte ab 1981 wieder deutlich abnehmen. Die Regierung Kreisky versuchte durch antizyklische Maßnahmen die Arbeitslosigkeit gering zu halten, was im europäischen Vergleich auch gelang. Seinen Sager, ein paar Milliarden Schulden mehr seien ihm lieber als 100.000 Arbeitslose, ziehen die Bürgerlichen bis heute genüsslich hervor, wenn es darum geht, die angeblich „mangelnde Wirtschaftskompetenz der Roten“ vorzuführen. Die Verstaatlichte Industrie wurde gezielt für diese Arbeitsmarktpolitik eingesetzt und die damit verbundene Kostenexplosion im Vergleich zur Konkurrenz führte dazu, dass sie Mitte der 1980er unter dem Druck der internationalen Märkte bitter bestraft wurde. Unterstützt wurde diese Politik, die Arbeitslosigkeit künstlich niedrig zu halten, aber auch durch den massiven Abbau von „Gastarbeitern“.
Das ist nur eines von vielen Beispielen, die zeigen, was Kreisky mit dem Spruch „Solange ich regiere, wird rechts regiert“ meinte. Dazu gehörte die Aussöhnung mit dem Hause Habsburg, mit dem katholischen Klerus, aber auch mit den alten Nazis, denen sogar Ministerposten anvertraut wurden (z.B. Karl Lütgendorf). Die SP-geführte Verstaatlichte Industrie ging weiters an den Aufbau einer Waffenindustrie, die auch Diktaturen in der „Dritten Welt“ (u.a. Pinochtes Chile) belieferte.
So ist es auch kein Wunder, dass sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre die SPÖ-Alleinregierung immer häufiger mit großen sozialen Protestbewegungen konfrontiert sah (Anti-AKW-Bewegung, Friedensbewegung,...). Dies und die Tatsache, dass Kreisky dann mit seinem Mallorca-Paket auch gezwungen war das erste Sparpaket zu schnüren, kostete der SPÖ 1983 die absolute Mehrheit. Ein Reformismus, der angesichts der kapitalistischen Krise keinen Spielraum für Reformen vorfindet, muss zwangsläufig selbst in die Krise geraten. Die Erben Bruno Kreisky mussten das leidvoll erkennen. Die Banker und Manager, die nachher die SPÖ führen sollten, machten daraus eine Tugend und versuchten die SPÖ in eine normale bürgerliche Partei zu verwandeln.
Was blieb?
Im historischen Rückblick und vor allem angesichts der krisenhaften Entwicklung der SPÖ nach dem Abgang Kreiskys bleibt seine Ära vom Standpunkt vieler SozialdemokratInnen im strahlenden Licht stehen. Der älteren Generation sei ein gewisses Maß an Verklärung der eigenen Geschichte erlaubt, vor allem weil sie mit den 1970ern einen tatsächlichen gesellschaftlichen Aufbruch und soziale Verbesserungen verbinden. Dass auch in der SJ der Mythos Kreisky unkritisch gepflegt wird, zeugt jedoch von sehr geringem Verständnis für den tatsächlichen Charakter des sozialdemokratischen Reformismus, dem unter den Bedingungen der Krise kein zweiter Frühling gegönnt ist. Keine Frage: Alle Errungenschaften dieser Ära, die heute noch bestehen, müssen von uns mit allen Mitteln verteidigt werden – auch gegen eine SP-geführte Regierung. Wer heute aber Illusionen in diese Ära schürt, anstatt diese Periode der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung kritisch aufzuarbeiten, der begeht einen schweren politischen Fehler.
Dieser Artikel erschien im Oktober 2010 in unserer Zeitschrift "Der Funke". In der aktuellen Ausgabe befindet sich ein Artikel, der das Verhältnis zwischen Kreisky und den sozialdemokratischen Jugendorganisationen aus der Perspektive eines SJ-Aktivisten aus den 1970ern behandelt.