Im November 1918 brach in Deutschland die Revolution aus. Im Frühjahr 1919 schaffte es die Arbeiterklasse in Bayern, die Macht zu übernehmen und eine Räterepublik zu errichten. Während ihres Bestehens hatte sie nicht nur mit offenen konterrevolutionären Angriffen zu kämpfen, sondern auch mit ihrer eigenen Unerfahrenheit. Trotz allem ist die kurze, aber heroische Geschichte der bayerischen Räterepublik eine der inspirierendsten Episoden der Deutschen Revolution von 1918 bis 1923. Und die Lehren, die aus dieser Erfahrung gezogen werden können, halten für Revolutionäre heute wertvolle Lehren bereit, wie Florian Keller aufzeigt.
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Im November 1918 konnten die ArbeiterInnen und Soldaten in Deutschland es nicht länger ertragen: nach Jahren des Blutvergießens und Leidens im 1. Weltkrieg brach ein Aufstand der Matrosen in Kiel aus, der sich in Windeseile in ganz Deutschland ausbreitete. Am 9. November hatten die Massen den verhassten Kaiser Wilhelm II. gestürzt und der Kapitalismus in Deutschland war tief erschüttert. Die sogenannte „Novemberrevolution“ legte den Grundstein dafür, dass die ArbeiterInnen in Bayern fünf Monate später die Macht übernehmen konnten. Im November 1918 konnten die ArbeiterInnen und Soldaten in Deutschland es nicht länger ertragen: nach Jahren des Blutvergießens und Leidens im 1. Weltkrieg brach ein Aufstand der Matrosen in Kiel aus, der sich in Windeseile in ganz Deutschland ausbreitete. Am 9. November hatten die Massen den verhassten Kaiser Wilhelm II. gestürzt und der Kapitalismus in Deutschland war tief erschüttert. Die sogenannte „Novemberrevolution“ legte den Grundstein dafür, dass die ArbeiterInnen in Bayern fünf Monate später die Macht übernehmen konnten.
Die Novemberrevolution in Bayern
Ein paar Tage bevor die Revolution Berlin erfasste, rollte sie über Bayern hinweg. Die herrschende Klasse dort war schon nervös und hoffte auf die Führer der SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands), um die Arbeiterklasse in Schach zu halten. Am 6. November verkündete der sozialdemokratische Abgeordnete Erhard Auer während einer Sitzung des letzten vom König bestellten Ministeriums den bürgerlichen Ministern selbstbewusst:
„Reden sie doch nicht immer von [Kurt] Eisner: Eisner ist erledigt. Sie dürfen sich darauf verlassen. Ich gehe selbst mit dem Zuge. Es geschieht gar nichts.“[1]
Am nächsten Tag war die bayerische Monarchie gestürzt und Kurt Eisner – der Vorsitzende der zentristischen[2] USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) – wurde der erste Ministerpräsident des republikanischen Bayerns. Wie konnte das geschehen?
Am 7. November demonstrierten nach Aufruf der SPD und der USPD hunderttausende Menschen, überwiegend Arbeiterinnen und Arbeiter, auf der Münchner Theresienwiese für „Frieden und Freiheit“. Ein Teil der Versammlung marschierte daraufhin geführt von Auer hinter einer Musikkapelle in die Stadt, begnügte sich aber mit dieser symbolischen Aktion und löste sich kurz darauf auf.
Kurt Eisner (USPD) forderte in seiner Rede, die er vor einem anderen Teil der Versammlung hielt, einen sofortigen Frieden, den 8-Stunden-Arbeitstag, Hilfe für Arbeitslose, die Abdankung des bayerischen Königs Ludwig III. und des deutschen Kaisers, Wilhelm II. Er rief auch zur Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten auf, bevor er mit einem Teil der Menge zu den verschiedenen Kasernen zog.
Die kriegsmüden Soldaten schlossen sich dort massenhaft der Bewegung an und die ArbeiterInnen bewaffneten sich. Nachdem durch die Revolutionäre politische Gefangene befreit und strategisch wichtige Punkte der Stadt besetzt worden waren, gründeten sie einen Arbeiter- und Soldatenrat, zu dessen Vorsitzendem Eisner gewählt wurde. Der König floh etwa um diese Zeit in einer Nacht- und Nebelaktion im Auto zu seinem Gut am Chiemsee – dass er wenige Tage später seine Abdankung bekannt gab, war nur noch Formsache. So beendete die Revolution innerhalb weniger Stunden die 738 Jahre andauernde Herrschaft der Dynastie der Wittelsbacher.
In ganz Deutschland waren die Monarchien durch die revolutionäre Bewegung der Massen gestürzt worden. Die Frage war jetzt: Was würde sie ersetzen? Das war alles andere als klar. Die russische Revolution, in der die ArbeiterInnen durch ihre Sowjets die Macht selbst übernommen hatten („Sowjet“ ist das russische Wort für „Rat“ oder „Komitee“), war ein eindrückliches Beispiel für die Massen in Bayern und ganz Deutschland. Die ArbeiterInnen in Deutschland organisierten sich tatsächlich auch in Arbeiter- und Soldatenräten, welche das Pendant zu den russischen Sowjets waren.
In Bayern bildeten sich unter dem Eindruck der Revolution und der Führung der Gebrüder Gandorfer, die den linken Flügel des Bayerischen Bauernbundes (BBB) anführten, Bauernräte und zwar in größerem Ausmaß wie irgendwo sonst in Deutschland. So gab es im Dezember 1918 insgesamt schon etwa 7000 Räte in ganz Bayern, die vielfach die Organisierung des öffentlichen Lebens übernahmen.
Für den Moment war die Dynamik eindeutig auf Seiten der Massen – in Nürnberg, Augsburg, Rosenheim, Passau und Bayreuth wurden wie in München Amtsgebäude von Revolutionären besetzt und politische Gefangene befreit. Nur in Regensburg ergriff der Bürgermeister aus Angst vor den Massen selbst die Initiative, berief die Vertreter der bürgerlichen Parteien, der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften ins Rathaus und gründete mit ihnen einen „Ordnungsausschuss“.
Trotzdem blieben neben diesen Räten die alten Staatsinstitutionen bestehen, die die Interessen der Kapitalistenklasse repräsentierten. Im Grunde herrschte eine Situation der „Doppelmacht“, ähnlich der Periode nach der Februarrevolution in Russland 1917, wo auch die organisierte Macht der Arbeiterklasse zeitweise neben der der Bourgeoisie bestand. So eine Situation konnte nicht ewig anhalten. Früher oder später musste eine Klasse siegreich sein.
Die Rolle von SPD und USPD
Doch nach einem ersten Schock blieben auch die alten Eliten, die Kapitalisten, Adligen und Generäle nicht untätig. Wie in ganz Deutschland waren sie sich bewusst, dass sie den Arbeitermassen zu diesem Zeitpunkt nicht direkt entgegentreten konnten und stützten sich so vor allem auf die Führer der SPD, um für „Ruhe und Ordnung“ zu sorgen.
Die SPD war eine der beiden großen Arbeiterparteien zu diesem Zeitpunkt. Die andere war die USPD, die aus einer Spaltung der SPD während des Krieges hervorging. Vor 1914 hatte die SPD immer wieder versprochen, gegen jeden imperialistischen Krieg zu kämpfen. Bei Kriegsbeginn machte die Parteiführung jedoch eine 180°-Wende hin zur vollen Unterstützung der Kriegsziele des deutschen Imperialismus.
Mit Fortschreiten des Krieges wuchs die Opposition von links gegen diese offizielle Linie. Ein Teil der SPD-Abgeordneten wurde durch den Druck von unten gezwungen, sich dem Krieg auf pazifistischer Basis entgegenzustellen. Sie wurden aus der Partei ausgeschlossen und gründeten 1917 die USPD. Obwohl die ArbeiterInnen, die die Basis der USPD bildeten, in eine revolutionäre Richtung gingen, schwankte die Führung andauernd zwischen Reformismus und Revolution.
Seit dem Ausbruch der Novemberrevolution versuchte die SPD bewusst, die Revolution zu bremsen. Als die revolutionäre Welle bis nach Berlin schwappte, fühlte sich der Fraktionsvorsitzende der SPD im Reichstag, Philipp Scheidemann, dazu gezwungen, die Republik auszurufen – aber er tat das nur, um die Bewegung unter Kontrolle zu bekommen.
In Bayern spielte die SPD unter der Führung von Auer und anderen die gleiche Rolle. Die Massen waren auf die Bühne getreten und weder der Staatsapparat, noch die Führer der Sozialdemokratie konnten ihnen etwas entgegensetzen. Die SPD-Führung hatte viel von ihrer Autorität unter den ArbeiterInnen eingebüßt. Am Tag nach der Revolution in Bayern, am 8. November, schrieb Auer in der „Münchner Post“, dass die Führung der Sozialdemokratie nicht einmal die Revolution gegen die Monarchie wollte:
„Unter dem Druck der furchtbaren Drangsale des deutschen Vaterlandes hat sich die gestrige Kundgebung ohne unser Zutun zu einem politischen Willensakt gesteigert, mit dem alle Teile der Bevölkerung rechnen müssen.“[3]
Aber mittlerweile war die Revolution zu einem Fakt geworden. Arbeiter- und Soldatenräte bildeten sich überall und die Kapitalisten waren in der Defensive. Deswegen änderte die SPD-Führung auch den Kurs, gab sich nach außen hin schnell revolutionär, um ihre Basis in der Arbeiterschaft nicht zu verlieren – und versuchte die Räte unter Kontrolle zu bekommen. Insgesamt hatten sie zu Beginn damit auch Erfolg, insbesondere außerhalb von München.
In München selbst bildete sich jedoch spontan der Revolutionäre Arbeiterrat (RAR), der ein Sammelbecken der Linken war. Als Vertretung der Münchner Arbeiterklasse wurde auf seine Initiative hin ein Münchner Arbeiterrat gewählt, der wichtigste Rat in Bayern. So hatte der RAR auch die Autorität, eine Landesorganisation der Räte in Bayern und damit die Schaffung eines Zentralrates zu organisieren.
Eisner wurde formell zum Vorsitzenden des RAR gewählt und wurde auch zum Ministerpräsidenten der neuen Republik in Bayern ernannt. Aber er hatte keine eindeutige Perspektive für die Revolution und schwankte sichtlich zwischen der Initiative der Massen und dem Druck des Kapitals hin und her. Die Bourgeoisie war in die Knie gegangen, aber anstatt ihr den Gnadenstoß zu versetzen, nützte Eisner seine Autorität und die der Räte, um sie zu beschützen.
Schon in der ersten Sitzung des provisorischen Nationalrats (einer Mischung aus Vertretern der Arbeiter- und Soldatenräte und vorwiegend sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten sowie Gewerkschaftsvertretern) musste er einigen Widerstand brechen, um die Wahl der vorgeschlagenen sozialdemokratischen Minister für die Übergangsregierung durchzusetzen. Auer wurde so Innenminister. Auch zwei bürgerliche Minister wurden in die Regierung geholt. Diese Leute waren bei den aktivsten Teilen der Arbeiterschaft wegen ihrer Rolle im Krieg tief verhasst. Letztendlich hoffte Eisner darauf, anstatt die Arbeiterklasse zur Macht zu führen, den alten monarchistischen Beamtenapparat für eine „demokratische Republik“ gewinnen zu können.
Die Regierung machte einige Zugeständnisse, um dem enormen Druck von unten etwas entgegenzusetzen. Aber letztlich tat sie alles, um die Revolution auf den harmlosen Pfad der bürgerlichen Demokratie zu lenken. Fünf Tage nach dem Umsturz versuchte die Regierung so etwa, die Bildung der Soldatenräte, die sich überall spontan bildeten, unter ihre Kontrolle zu bringen. Ein neues Gesetz räumte den Soldatenräten Rechte ein, die weiter gingen als in anderen Teilen Deutschlands. Die Macht der Offiziere wurde stark beschränkt. Die Soldatenräte erhielten das Recht, einige Unteroffiziere abzusetzen, bei anderen die Absetzung zu beantragen, sowie eigene Vorschläge für Ersatz zu machen. Auf der Oberfläche schien es, als dass die Revolution in der Praxis die Macht der Offiziere über „ihre“ Soldaten in Bayern sehr gründlich gebrochen hätte. Aber im Grunde versuchte Eisners Regierung auf diesem Weg, die Soldatenräte, die praktisch die Macht in ihren Einheiten gewonnen hatten, zu „beratenden“ Gremien abzuwerten. Die Machtposition des Generalstabs blieb unangetastet.
Im Endeffekt bewegte das Programm Eisners die Revolution in Bayern auf eine Sackgasse zu. Sein Plan war es, vor der Etablierung einer „formellen Demokratie“ (der Einberufung eines Landtages) eine „lebendig tätige Demokratie“ der Massen zu schaffen – eine utopische Position der Versöhnung der Rolle von Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräten mit dem bürgerlichen Parlamentarismus.
Dass er diese Position einnahm, war ein Ergebnis der Kombination des Drucks der Bourgeoisie und des heißen Atems der Münchner Arbeiterschaft, die er vermittelt über die Räte verspürte. In einer Sitzung des Ministerrates brachte er das offen zum Ausdruck:
„[…] selbst wenn die Nationalversammlung nicht so ausfällt, wie wir erwarten, so hat das Parlament nicht mehr die Rolle wie früher, sondern gegen den Arbeiterrat von München kann nie mehr regiert werden, sonst wird eine zweite Revolution da sein.“[4]
Eisner blieb mit dieser Position der „Versöhnung“ auf halbem Weg zu einer tatsächlichen Arbeiterdemokratie – das heißt einer Räterepublik nach russischem Vorbild – stehen. Er versuchte, die Interessen der Arbeiterklasse und der Kapitalisten in einer Art „Machtteilung“ unterzubringen – eine Formalisierung der Doppelmachtsituation, die in Bayern herrschte. Aber diese beiden Klassen haben unvereinbare Interessen, die Herrschaft der einen schließt die Herrschaft der anderen aus. Eisners Idee, die darauf hinauslief, zwischen den Klassen zu „verhandeln“, konnte nur zu Demoralisierung und Desorientierung in der Arbeiterklasse führen. Das erlaubte der Konterrevolution, sich zu sammeln und zurückzuschlagen.
Eisner war kein Marxist: Eine tatsächliche sozialistische Umwälzung, eine Enteignung des Großgrundbesitzes und der Großindustrie, lag ihm fern – die wirtschaftliche und damit letztendlich auch die politische Macht blieb so weiterhin beim Bürgertum. So musste die Etablierung der „lebendig tätigen Demokratie“ tatsächlich utopisch bleiben. Trotzdem stand er links von der Politik der Sozialdemokratie, die mit der Unterstützung des Bürgertums daran ging, in ganz Deutschland und unter allen Umständen eine möglichst rasche Wahl zu Parlamenten voranzubringen, um den Arbeiterräten etwas entgegenzusetzen und sie schließlich zu zerstören.
Aber die sozialen Spannungen nahmen immer mehr zu. Nach dem Waffenstillstand hatten zehntausende Kriegsheimkehrer keine Wohnung und Massenarbeitslosigkeit griff um sich. Nur eine sozialistische Umwälzung, gestützt auf die Räte, hätte die Probleme der Arbeiterschaft lösen können. Dass Eisner nicht mit der Bourgeoisie brach, führte zu einer weit verbreiteten Enttäuschung über seine Regierung in der Arbeiterschaft.
Die erste Welle der Revolution endete so in ganz Deutschland mit einem Betrug: Nachdem die Arbeiterinnen und Arbeiter die herrschende Klasse besiegt hatten, übergaben sie die Macht ihrer traditionellen Partei, der Sozialdemokratie. Deren Führer aber gaben sie umgehend an das Bürgertum zurück und organisierten mit ihm zusammen eine blutige Konterrevolution. Der Spartakusaufstandes in Berlin im Januar 1919 war ein verzweifelter Versuch, diese Dynamik von unten aufzuhalten. Er wurde brutal niedergeschlagen und seine Führer, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, wurden ermordet. Das markierte das Ende der ersten Welle der Revolution in Deutschland.
Kaum war die Kommunistische Partei Deutschlands gegründet, als ihre wichtigsten Köpfe, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, ermordert wurden.
Auch in Bayern änderte sich die Stimmung schnell. Eisner gab dem Druck des Bürgertums und der Sozialdemokratie schließlich nach. Er setzte für den 12. Januar eine Landtagswahl an, die dann unter dem direkten Eindruck der Niederschlagung des Spartakusaufstandes am selben Tag stattfand. Nachdem Eisner und die USPD die Revolution nicht weitergeführt hatten und keine alternative Partei vorhanden war, setzte eine gewisse Demoralisierung ein. Das Wahlergebnis war wie zuvor 1912 ein Sieg der BVP (Bayerischen Volkspartei), die aber viele Stimmen verlor. Die SPD holte mit 33% fast doppelt so viele Stimmen wie bei der Landtagswahl 1912. Die USPD dagegen erhielt nur 2,5% der Stimmen.
Dieses Ergebnis zeigte einerseits, dass die ländlichen Gebiete bis dahin kaum von der Revolution erfasst worden waren, das Bewusstsein der Massen daher trotz ihres gewaltigen Sieges gegen das alte Regime noch hinter den tatsächlichen Ereignissen zurückblieb. Gerade auf dem Land gab es stellenweise einen scharfen Klassenwiderspruch zwischen Landarbeitern, armen Bauern und Großgrundbesitzern: Die 230.000 ärmsten Bauern bestellten insgesamt nur 170.000 Hektar. Die 584 größten Betriebe umfassten dagegen alleine 100.000 Hektar! Doch die Frage einer Landreform wurde von der Regierung Eisner nie auch nur aufgeworfen und so schaffte sie es nicht, die Unterstützung der Armen auf dem Land zu gewinnen.
Andererseits spiegelte das Ergebnis auch wider, dass ein großer Teil der Arbeiterinnen und Arbeiter, die durch die Revolution zum ersten Mal zum politischen Leben erweckt wurden, die SPD mit ihrer neuentdeckten linken Rhetorik als einfachsten Weg ansahen, ihre Interessen zu vertreten. Die Führer der viel kleineren USPD schafften es nicht, eine Alternative zur SPD zu bilden. Schließlich hob sich ihr Programm nicht entscheidend von dem der SPD ab und Eisner war deshalb unfähig, die sozialen Probleme zu lösen. Daher drückte sich der Klassenkampf auch in den zukünftigen Ereignissen durch die SPD aus. Ihre einfachen Wähler und Mitglieder würden unter dem Eindruck der Ereignisse oft revolutionäre Schlussfolgerungen ziehen, ihre Führer spielten jedoch eine bewusst konterrevolutionäre Rolle.
Die Revolution flammt wieder auf
Obwohl die Parlamentswahlen stattgefunden hatten, war der Druck der Massen weiterhin so stark, dass der Landtag über einen Monat lang nicht einberufen werden konnte. Generell überschlugen sich die Ereignisse auch in Bayern in diesen Tagen und Wochen. Am 12. Februar gab es eine Erklärung vom Innenminister Auer zur Einberufung des Landtages, die er nicht in der Regierung abgesprochen hatte. Das provozierte eine Großdemonstration am 16. Februar auf der Theresienwiese in München, bei der die Rätemacht gefordert wurde.
Der Anarchist Erich Mühsam beschrieb den Protest folgendermaßen:
„Von den öffentlichen Gebäuden in ganz München wehten die roten Fahnen, ebenso von vielen Privathäusern, an denen der Zug vorbeikam. Es mögen etwa 15.000 Personen daran teilgenommen haben. Die Sektionen der KPD bildeten allein einen ganzen Zug. Mehrere Regimenter der Münchener Garnison stellten geschlossene Formationen. Die Schwerverwundeten wurden in Wagen mitgefahren. Viele Mitglieder des Rätekongresses beteiligten sich, diverse Betriebe waren durch Abordnungen vertreten. Der ‚Revolutionäre Arbeiterrat‘ als Organisator des Ganzen trug ein mächtiges revolutionäres Emblem vor sich her und wurde stürmisch begrüßt. Eisner aber fuhr an der Spitze dieses gegen seine eigene Politik demonstrierenden Zuges und kam sich dabei selbst so deplaciert vor, daß er auf halbem Wege sein Auto schwenken ließ und dann mit dem Minister Unterleitner und Jaffé im Deutschen Theater die Abordnung der Massen erwartete, als deren Sprecher Landauer die Forderungen des Proletariats vortrug.“[5]
Kundgebung auf der Theresienwiese am 7. November 1918
Diese Ereignisse ließen Auer davor zurückschrecken, den Landtag einzuberufen, während er hinter den Kulissen weiterhin daran arbeitete, die Räte zu untergraben. Erst als am 19. Februar der Rätekongress auf Druck der SPD-Führung beschloss, das Landtagsgebäude zu räumen, war der Weg frei für eine konstituierende Sitzung. Währenddessen wurden verschiedene reaktionäre Kräfte aber immer ungeduldiger mit Eisner und entschlossen sich dazu, die Dinge schließlich selbst in die Hand zu nehmen.
Am 21. Februar machte sich Eisner auf den Weg zur konstituierenden Sitzung des Landtages, um dort seinen Rücktritt bekannt zu geben. Doch so weit sollte es nicht kommen. Noch bevor er den Landtag erreichte, ermordete ihn der Leutnant Graf Arco-Valley mit zwei Kopfschüssen von hinten. Vor seiner Tat schrieb er in einer Notiz:
„Eisner ist Bolschewist, er ist Jude, er ist kein Deutscher, er fühlt nicht deutsch, untergräbt jedes vaterländische Denken und Fühlen, ist ein Landesverräter.“[6]
Der Mord war in den bürgerlichen Zeitungen durch eine wahre Hetzkampagne heraufbeschworen worden, die die reaktionäre Gesinnung der alten Elite aus Adel, Offizieren und Kapital offen zur Schau stellte. Für sie war Eisner – obwohl er auf keinen Fall ein Bolschewik war – mit seiner „unklaren Haltung zur Ruhe und Ordnung“ und seiner Offenheit für den Druck der ArbeiterInnen ein Dorn im Auge.
Während die Bourgeoisie heimlich frohlockte, breitete sich in der Münchner Arbeiterschaft Bestürzung und Wut aus. Ein Mitglied des RAR, der Koch Alois Lindner, stürmte zum Landtag und schoss auf Auer, nachdem dieser trotz des Mordes die Landtagssitzung eröffnet hatte. Im folgenden Tumult erschoss ein Unbekannter den konservativen Abgeordneten Osel. So ging der Landtag auseinander, ohne eine Regierung gewählt zu haben.
Durch die bayerische Arbeiterschaft hingegen ging unter dem Eindruck des Mordes an Eisner eine neue revolutionäre Welle. Ein Generalstreik brach sofort aus und die Reaktionäre, die zuvor durch die Schwankungen der Führung der Arbeiterklasse immer mutiger wurden, waren völlig paralysiert. Am 25. Februar tagte erneut der bayerische Rätekongress und übertrug seiner Exekutive, dem „Zentralrat der bayerischen Räte“, die gesetzgebende Gewalt. Außerdem beschloss er die Bewaffnung der Arbeiterklasse. Am 26. Februar begleiteten hunderttausende den Sarg von Kurt Eisner auf einem Trauerzug. Am 1. März proklamierte der Rätekongress eine eigene Regierung.
Die Stimmung war bis zum Anschlag gespannt. Aber die Arbeiterklasse hatte immer noch keine klare revolutionäre Führung. Die reformistischen und zentristischen Führungen der SPD und USPD standen weiterhin an der Spitze der Arbeiterbewegung. Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) war gerade erst gegründet worden.
Im Gegenteil zur Bolschewistischen Partei in Russland, die als marxistische Kaderorganisation über eineinhalb Jahrzehnte vor der russischen Revolution aufgebaut worden war, wurde die KPD in der Hitze des Gefechts der deutschen Revolution selbst geschmiedet. Obwohl Rosa Luxemburg die Parteiführung schon zuvor scharf kritisiert hatte, wurde der Spartakusbund (der Vorgänger der KPD) von ihr und anderen erst nach dem Kriegsbeginn gegründet.
Er blieb ein loses Netzwerk von Revolutionären, bis vom 30. Dezember 1918 bis 1. Januar 1919 der Gründungsparteitag der KPD stattfand. Doch schon kurz nachdem die Partei das Licht der Welt erblickt hatte, wurden ihre wichtigsten führenden Köpfe, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, in Berlin ermordet.
Trotz ihrer Unerfahrenheit, ihrer geringen Mitgliedszahl in Bayern und der insgesamt schwachen Basis unter den ArbeiterInnen, genoss ihr Programm der sozialistischen Räterepublik enorme Unterstützung in der Arbeiterschaft, wie die Großdemonstration gegen die Landtagseröffnung am 16. Februar gezeigt hatte. Der Vorsitzende der Partei in Bayern, Max Levien, war sehr bekannt und in der Arbeiterbewegung allgemein anerkannt, er war auch der Vorsitzende des Münchner Soldatenrates. Aber das spiegelte sich für die KPD nicht in einer großen Mitgliedszahl oder einer starken Organisation wider.
Karl Retzlaw, ein 23-jähriger Arbeiter und KPD-Organisator aus Berlin, beschreibt ein Treffen mit Levien. Hier wird der Widerspruch zwischen dem breiten Interesse, das das Programm der Partei hervorrief, und ihrer geringen Größe deutlich:
„Die Versammlung fand in einem der großen Biersäle Münchens statt. Dicht gedrängt, auf Tischen und Stühlen sitzend und in den Gängen stehend, mögen wohl an die dreitausend Menschen im Saal gewesen sein. Obwohl noch eine Stunde Zeit war bis zum angekündigten Beginn, herrschte bereits ein beängstigendes Gedränge. Das Rednerpult stand auf dem Podium, von dem herab gewöhnlich Blechmusik in den Saal schmetterte. Das Podium wurde von Ordnern freigehalten. Max Levien erschien mit einem zahlreichen Gefolge. Wie ich erfahren sollte, stellte dieses Gefolge fast die gesamte Kommunistische Partei von München dar.“[7]
Selbst im Vergleich zur jungen Gesamtpartei waren die Mitglieder und Kader der KPD in Bayern sehr unerfahren, die Partei machte daher viele Fehler. So boykottierte sie die Landtagswahlen, die Wahlen zur Nationalversammlung und lehnte geduldige Arbeit in den Gewerkschaften ab, was es ihr erschwerte, eine stabile Basis in der Arbeiterschaft aufzubauen und die Reichweite der Partei zu erhöhen. Auch ein systematischer Kampf um die Erringung der Mehrheit in der Arbeiterbewegung und den Räten wurde nicht geführt. Während die Partei also einen breiten Einfluss hatte, fehlte ihr die organisatorische Stärke, um die Arbeiterklasse im entscheidenden Moment anzuführen. Das sollte sich später als fatal herausstellen.
Statt geduldig zu arbeiten, gab es unter vielen Mitgliedern Illusionen in die Rolle der USPD und der Anarchisten. Der systematische Aufbau der eigenen Partei wurde lange vernachlässigt. Die Situation war so schlecht, dass sich die KPD-Führung entschloss, zum Parteiaufbau eine Reihe von erfahrenen Kadern nach München zu schicken: Der wichtigste von ihnen war Eugen Leviné, außerdem Retzlaw, den wir schon erwähnt haben, sowie Paul Frölich. Erst nachdem sie angekommen waren, begann Mitte März 1919 der systematische Aufbau von Parteizellen in den Betrieben und Kasernen.
Räterepublik in aller Munde
Der scharfe Linksschwenk in der Gesellschaft führte zu einer Krise in der SPD. Nach der Ermordung Eisners verließen viele Mitglieder die Partei und traten oftmals der USPD und der KPD bei. Doch keine dieser Parteien schaffte es, die ausschlaggebende Führungsrolle in der Bewegung einzunehmen. Der Druck wuchs auf die SPD-Führung, die darauf reagierte, indem sie Funktionäre in den Vordergrund schob, die zumindest in Worten „für die Rätemacht“ argumentierten.
Das war kein wirklicher Schwenk nach links, sondern ein Manöver, um die Autorität der Partei zu erhalten und die Revolution zurückhalten zu können. Die Parteispitze der SPD stemmte sich mit ganzer Macht gegen eine „zweite Revolution“. Das wurde etwa daran völlig deutlich, dass die vom Rätekongress bestimmte Regierung nie zusammentrat – die SPD unterstützte sie nicht, obwohl ein SPD-Mitglied (Martin Segitz) als Ministerpräsident vorgesehen war! Deswegen bestand diese „Regierung“ auch nur auf dem Papier.
Auch das Bürgertum konnte jedoch trotz aller Versuche und der expliziten Unterstützung der SPD die Lage nicht stabilisieren. Erst am 17. März wurde nach einem Kompromiss gewagt, den Landtag erneut einzuberufen und Johannes Hoffmann (SPD) wurde zum Ministerpräsidenten gewählt. Seine Regierung hatte aber besonders im Zentrum der Revolution, in München, keinerlei Basis – nicht einmal eine bewaffnete Macht, auf die sie sich stützen konnte.
Doch das Kapital konnte nicht länger warten. Die „Wirtschaft“ verlangte Ruhe und Ordnung! Auch die Reichsregierung unter Phillip Scheidemann (SPD), die auf der Basis von rechten Freikorps durch Massaker an ArbeiterInnen in ganz Deutschland eine vorübergehende Friedhofruhe in der Arbeiterschaft erzwungen hatte und bedeutend fester im Sattel saß, übte Druck in diese Richtung aus. So berief der Ältestenrat des Landtages für den 8. April eine Sitzung ein, um der Regierung endlich das Arbeiten zu ermöglichen.
Für die organisierte Arbeiterschaft war dies nach den vorhergegangenen Ereignissen ein rotes Tuch und ein deutliches Zeichen, dass die Revolution und ihre Errungenschaften beseitigt werden sollten. Gleichzeitig war auf internationaler Ebene ein weiteres starkes Vorbild geschaffen, nachdem am 2. März 1919 in Ungarn die sozialistische Räterepublik ausgerufen worden war. Der Gedanke an eine neue Revolution, die eine Räterepublik schaffen sollte, bekam in Bayern immer mehr Unterstützung.
Die Führung der Sozialdemokratie erkannte, dass sie von einer neuerlichen Konfrontation mit den Wünschen der Arbeiterklasse weggefegt und jegliche Kontrolle über die Bewegung verloren gehen würde. Daher entschloss sich ein Teil der Parteiführung, den „Tiger zu reiten“, um ihn zu bändigen. Auf einer Reihe von Parteiveranstaltungen wurden Beschlüsse zur Ausrufung der Räterepublik gefasst. In einer Sitzung in der Nacht vom 4. zum 5. April, an der der „Zentralrat der bayerischen Republik“, die Führer der USPD, der SPD, des BBB und einige Anarchisten teilnahmen, sollte beschlossen werden, die Räterepublik auszurufen. Als einziges stellte sich zur Überraschung aller Anwesenden der Vertreter der KPD, Eugen Leviné, gegen diese Proklamation. Seine Erklärung ist es wert, ausführlich zitiert zu werden.
„Wir Kommunisten hegen das größte Mißtrauen gegen eine Räterepublik, deren Träger die sozialdemokratischen Minister Schneppenhorst und Dürr sind, die die ganze Zeit den Rätegedanken mit allen Mitteln bekämpften. Wir können es uns nur als einen Versuch bankrotter Führer, durch eine scheinbar revolutionäre Aktion den Anschluß an die Massen zu gewinnen, oder als eine bewußte Provokation erklären. Wir wissen aus Beispielen in Norddeutschland, daß die Mehrheitssozialisten häufig bestrebt waren, verfrühte Aktionen ins Leben zu rufen, um sie desto erfolgreicher abwürgen zu können. Die ganze Art Eures Vorgehens gebietet die größte Wachsamkeit. Eine Räterepublik wird nicht vom grünen Tisch proklamiert, sie ist das Ergebnis von ernsten Kämpfen des Proletariats und seines Sieges. Das Münchner Proletariat steht noch vor solchen Kämpfen. Wir bereiten uns dazu vor und haben Zeit. Gegenwärtig ist der Augenblick der Proklamierung einer Räterepublik außerordentlich ungünstig. Die Massen in Nord- und Mitteldeutschland sind geschlagen und sammeln sich erst zu neuen Kämpfen, und Bayern ist kein wirtschaftlich geschlossenes Gebiet, das sich selbständig längere Zeit halten könnte. Nach dem ersten Rausch würde folgendes eintreten: die Mehrheitssozialisten würden sich unter dem ersten besten Vorwand zurückziehen und das Proletariat bewußt verraten. Die USPD würde mitmachen, dann umfallen, anfangen zu schwanken, zu verhandeln und dadurch zum unbewußten Verräter werden. Und wir Kommunisten würden mit dem Blut unserer Besten Eure Taten bezahlen.“[8]
Diese Vorhersage sollte sich, wie wir sehen werden, tragischerweise bis ins Detail bestätigen. Das wirkliche Motiv der SPD-Spitzen für die Ausrufung einer Räterepublik war es, die fortgeschrittensten ArbeiterInnen in München durch einen verfrühten Aufstand von der breiten Masse der ArbeiterInnen und Bauern zu isolieren. So würde die politische Grundlage für eine Mobilisierung der Konterrevolution gelegt werden. Genau das war in Berlin mit dem Spartakusaufstand passiert: Die fortgeschrittensten ArbeiterInnen wurden zu einem Aufstand provoziert, ohne dass die Massen im Rest des Landes davon überzeugt waren, dass dies nötig wäre. So war das Ergebnis eine blutige Niederlage. Die SPD-Führer blickten jetzt nach Berlin als Vorbild, um die Arbeiterklasse in Bayern zu besiegen.
Laut verschiedensten Zeugen argumentierte etwa der anwesende Kriegsminister Schneppenhorst von der SPD extrem energisch für die Ausrufung der Räterepublik. Noch bevor diese tatsächlich ausgerufen war und die alte Regierung für abgesetzt erklärt wurde, argumentierte er für eine Verschiebung der Ausrufung um zwei Tage, um andere Städte für die Idee zu gewinnen. Dann reiste er aus München nach Nordbayern ab, um dort laut eigener Aussage „für die Räteidee zu werben“. In Wirklichkeit schloss er sich sofort der aus München nach Bamberg geflohenen Regierung Hoffmann an, die dort umgehend begann, konterrevolutionäre Truppen (die „Weißen“) zu sammeln, vor allem quasi-faschistische Freikorps.
Die „Scheinräterepublik“
Die Räteregierung wurde schließlich am 6. April ausgerufen und von ArbeiterInnen in ganz Bayern enthusiastisch begrüßt. In einer ersten Welle schlossen sich auch bis zum 8. April die größeren Räte fast ganz Südbayerns und aller großen Städte – mit der Ausnahme Nürnbergs – der Räterepublik an. Doch schon am 9. April begann dieser Prozess sich umzukehren, in einigen Städten wie Ingolstadt und Würzburg beseitigten konterrevolutionäre Soldaten und Studenten mit bürgerlicher Unterstützung die Räteherrschaft.
Währenddessen hatten diejenigen Führer der SPD, die die linken Organisationen in München so lautstark zur Ausrufung der Räterepublik gedrängt hatten, eine 180°-Wende vollzogen. Jetzt riefen sie zu einer Verteidigung des Landtages und der offiziellen Regierung auf. In vielen Räten führte die klare konterrevolutionäre Positionierung der SPD-Führung dazu, dass die Mehrheit in den Räten kippte. Das spitzte den Widerspruch zwischen Parteiführung und Basis zu. Aber in der Verwirrung schafften es die SPD-Regierung und die Reaktionäre, in wichtigen Städten – besonders im Norden von Bayern – an der Macht zu bleiben.
Nachdem sich die sozialdemokratischen Führer in München sofort aus dem Staub gemacht hatten oder einfach nichts taten, blieben so als „Führung“ eine Reihe von zufälligen Gestalten übrig. Dazu gehörten Anarchisten wie Erich Mühsam und Gustav Landauer; Kaffeehausliteraten, Abenteurer, die keinerlei Basis in der Arbeiterklasse, aber dafür ein nicht enden wollendes Reservoir an völlig utopisch-romantischen Vorstellungen hatten.
Paul Fröhlich (KPD), der später ein Buch über die Ereignisse der Räterepublik schreiben sollte, beschrieb sie so:
„Die Herren, welche an der Verschwörung teilgenommen hatten, wählten sich gegenseitig. Rücksicht auf politische Erfahrung wurde nicht genommen. So kam eine Auslese von brüchigen Charakteren und unklaren Köpfen zustande.“[9]
Der „Volksbeauftragte für Äußeres“ Lipp, der auf Vorschlag von Mühsam sogar zum Vorsitzenden des Vollzugsrates gewählt wurde, den aber niemand kannte, stellte sich als geisteskrank heraus. Nachdem er unter anderem versucht hatte, Württemberg und der Schweiz den Krieg zu erklären, wurde er abgesetzt und in eine Nervenklinik eingewiesen.
Die USPD war, wie von Leviné vorhergesehen, völlig paralysiert. Nach der Ermordung Eisners war der Pazifist Ernst Toller ihr Vorsitzender geworden, der nur wenige Monate politischer Erfahrung aufweisen konnte. Jetzt bekam er die Leitung des Zentralrates und übernahm damit die Regierungsspitze.
USPD Führer Ernst Toller spielte in den letzten Tagen der Bayerischen Räterepublik eine klägliche Rolle.
Doch unter seiner Führung passierte nichts. Statt mit dem Aufbau einer neuen Ordnung zu beginnen, wurde etwa der 7. April zum Nationalfeiertag erklärt. Anstatt die Arbeiterklasse zu mobilisieren und zu bewaffnen, um die zentralen Kommunikations- und Verkehrsknotenpunkte zu besetzen, die Verteidigung zu organisieren, die Versorgung sicherzustellen, die Großbetriebe zu vergesellschaften, „vergesellschafteten“ diese Herren am 7. April – die Universität! Frölich schreibt:
„Ein Plakat purpurrot prangte an den Straßenecken: Diktatur des Proletariats! Die Bourgeoisie war gefällt – durch ein Plakat. Die Arbeiterklasse war in den Sattel gehoben, ohne daß sie das Geringste dazu getan hatte, durch ein Techtelmechtel politischer Abenteurer. Diktatur des Proletariats bestand nur in einem: Man gab ihm ein Fest.“[10]
Die Arbeiterklasse stand dieser neuen „Räterepublik“ insgesamt freundlich gegenüber, aber praktisch hatte sie mit ihrer Ausrufung „am grünen Tisch“ nicht die Zügel in der Gesellschaft in die Hände bekommen. Die bürgerliche Propaganda verbreitete währenddessen Horrormeldungen über die Zustände in München, insbesondere in der Bauernschaft (die damals in Bayern noch fast 40% der Bevölkerung ausmachte). Eine ganze Reihe von Bauernräten, die immer mehr von Großbauern dominiert wurden und damit unter Einfluss des rechten Flügels des BBB geraten waren, gaben als Reaktion darauf eine Lebensmittelsperre für München bekannt, was die Ernährungssituation verschärfte. Die Räterepublik war in ernsthafter Gefahr.
Erst am 10. April begann die Regierung die ArbeiterInnen zu bewaffnen. Doch sie konnte insgesamt nur 600 Gewehre auftreiben. Daraufhin erließ sie einen Erlass an die konterrevolutionäre Bourgeoisie, die Waffen abzuliefern. Da sie keinerlei Machtmittel hatte, um diesen Erlass durchzusetzen, waren die Ergebnisse dessen mehr als kläglich.
Der Palmsonntagsputsch
Die Konterrevolution wurde derweil immer selbstbewusster. Sie konnte durch diese tagelange Paralyse nur den Schluss ziehen, dass man an die neue Räterepublik nur mit einem festen Hieb herantreten müsste, damit sie wie ein Kartenhaus zusammenfallen würde. So fuhr Alfred Seyffertitz, der Kommandant der konterrevolutionären „Republikanischen Schutztruppe“ (die unbehelligt in München weiter existierte) nach Beratungen mit Münchner SPD-Führern nach Bamberg, um sich vom Ministerpräsidenten Hoffmann aus dem Exil die Erlaubnis für einen Putsch gegen die Räteregierung zu holen.
Dieser fand schließlich am Morgen des Palmsonntags, am 13. April 1919 statt. Im Namen der „gesamten Garnison Münchens“ wurden Plakate aufgehängt, die den Zentralrat für abgesetzt erklärten. Die „Republikanische Schutztruppe“ besetzte die Räumlichkeiten des Zentralrates, verhaftete eine Reihe von Führern der Räterepublik, unter anderem Erich Mühsam, und brachte sie aus München heraus.
Die KPD hatte ursprünglich die Deklaration der Räterepublik „am grünen Tisch“ abgelehnt. Damit hatte sie recht gehabt. Die Macht zu übernehmen war ein Abenteuer gewesen, das die Konterrevolution gestärkt hatte. In Wirklichkeit wäre es zuerst nötig gewesen, die breiteren Massen zu gewinnen, insbesondere die Bauernschaft. Jetzt aber war die Räterepublik ein Fakt, und wurde von breiten Schichten der Arbeiterklasse unterstützt. Eine Niederlage der Räterepublik würde bedeuten, dass die Revolution eine Niederlage erleiden würde, und der Arbeiterklasse war das klar.
Trotzdem schwankte die KPD angesichts der Konterrevolution. Nach der blutigen Erfahrung des gescheiterten Spartakusaufstandes und den Morden an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die noch frisch im Gedächtnis waren, spielte die Führung mit dem Gedanken, sich die Niederlage einzugestehen. Paul Frölich berichtet, dass die Parteiführung zuerst der Meinung war, „den Umschwung [gemeint ist der Putsch, Anm. d. Verf.] als vollzogene Tatsache [zu] betrachten und sich in den Aktionen der Partei darauf einrichten zu müssen.“[11]
Aber die wirkliche Situation war eine völlig andere. Schon vor dem Putschversuch hatte es aus den Kasernen und Fabriken enormen Druck auf die junge KPD gegeben, in die Räteregierung einzutreten oder sie sogar komplett zu übernehmen. Jetzt, wo das Schreckgespenst des konterrevolutionären Terrors sich deutlich abzeichnete, mobilisierten die Massen. Sie waren bereit, zu kämpfen. Retzlaw berichtet:
„Jetzt zeigte sich ein uns alle überraschender revolutionärer Elan. Es kamen nicht nur unsere Parteimitglieder, sondern Tausende von Arbeiter, die sich zum Kampf zur Verfügung stellten. In der Stadt kam es mittlerweile überall zu Zusammenstößen mit den weißen Truppen.“[12]
Die KPD wusste, dass die ursprüngliche Proklamation der Räterepublik halb Abenteuer, halb Provokation gewesen war. Aber jetzt, da sie zum Fakt geworden war und die ArbeiterInnen, konfrontiert mit der Perspektive der offenen Konterrevolution, mobilisierten, um sie zu verteidigen, konnte die Partei nicht abseitsstehen.Auf Aufruf der KPD hin bildeten sich daher Einheiten bewaffneter ArbeiterInnen, viele Soldaten schlossen sich ihnen an. Kämpfe brachen aus, und die konterrevolutionären Truppen zogen sich bis zum Hauptbahnhof zurück. Schließlich wurde der Bahnhof gestürmt und Seyffertitz floh mit den Truppen, die nicht gestorben oder gefangengenommen worden waren, mit einer Lokomotive aus München. Trotz aller Fehler ihrer Führung und den großen Ressourcen, die die Konterrevolution in ihren Händen hatte, besiegte die Münchner Arbeiterklasse die bürgerliche Konterrevolution mit Leichtigkeit und legten die Macht in die Hände der Kommunistischen Partei.
Die KPD an der Macht
Eine Konferenz der Betriebs- und Kasernenräte erklärte den alten Zentralrat für aufgelöst und schuf am 13. April einen 15-köpfigen Aktionsausschuss als neue Regierung. Die neue Regierung kam unter Beteiligung von SPD-, USPD- und KPD-Mitgliedern zustande, stand jedoch unter klarer kommunistischer Führung: An ihrer Spitze stand der Kommunist Leviné, das Programm der neuen Räteregierung war tatsächlich ein Programm der vollständigen sozialen Revolution.
Aus dem Kern der revolutionären Truppen, die den Putsch besiegten, wurde unter Führung des erst 24-jährigen Matrosen Rudolf Egelhofer die Rote Armee Bayerns gebildet. Die Banken wurden verstaatlicht. Abhebungen durften nur mit der Zustimmung der Betriebsräte, bei Summen über 1200 Mark sogar nur mit der Zustimmung des Volksbeauftragten für das Finanzwesen (Finanzminister) abgehoben werden. Die Verwaltung wurde unter Kontrolle der Betriebsräte gestellt – sie konnten Beamte entlassen, die gegen die Rätemacht arbeiteten. Um die Versorgung sicherzustellen, wurden große Mengen Lebensmittel von Spekulanten beschlagnahmt. Die Betriebsräte sollten die vollständige Kontrolle über die Produktion übernehmen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter in München und dessen Umland waren zum ersten Mal in der Geschichte tatsächlich die Herren über ihre eigene Lage!
Der Sieg gegen die Konterrevolution hatte der aktiven Schicht der Arbeiterklasse enormes Selbstvertrauen gegeben und gleichzeitig die Fronten deutlicher geklärt. Viele Illusionen in der Arbeiterklasse über die Haltung der SPD-Führung waren verflogen und die ArbeiterInnen in München gingen weit nach links. Doch die objektiven Bedingungen waren nicht besser geworden – die Räterepublik war in einem Teil im Süden von Bayern rund um München isoliert, die konterrevolutionären Truppen marschierten gegen sie auf.
Die neue Räteregierung ging sofort daran, in einer sehr schlechten Lage eine entschiedene Verteidigung zu organisieren. 20.000 Gewehre wurden an die Betriebe geliefert, wo rote Garden zur Verteidigung gebildet wurden. Aus den revolutionären Truppen und Freiwilligen wurde eine Rote Armee ganz im Geiste des Internationalismus gebildet – neben russischen und italienischen Kriegsgefangenen traten auch viele Österreicher in die Armee ein. Das Bürgertum und Konterrevolutionäre wurden von Roten Garden entwaffnet. Retzlaw berichtet:
„Die Kasernen waren immer noch voller Soldaten, die zwar demobilisiert waren, aber nicht nach Hause gehen wollten, und wir erfuhren, daß sie zum großen Teil von Offizieren zum Bleiben veranlasst wurden. Ihren Sold erhielten sie aus Berlin und aus unkontrollierbaren Quellen. […] Täglich mussten wir mit dem Putsch einiger Truppenteile rechnen. Daher appellierten wir an die Arbeiterschaft, sich täglich in den großen Münchner Sälen und auch im Freien zu versammeln. So war die Arbeiterschaft stets eingreifbereit und die konterrevolutionären Offiziere wagten keinen Putsch.“[13]
Zur Mobilisierung der ArbeiterInnen und zur Organisierung der Verteidigung wurde ein 10-tägiger Generalstreik ausgerufen – eine Entscheidung, die die Wirtschaft der Räterepublik völlig abwürgte und von der verzweifelten Lage zeugt.
Lenins Grußadresse
Die Nachricht von der Machtergreifung der Arbeiterklasse war weit über die Grenzen Bayerns hinaus enthusiastisch aufgenommen worden, repräsentierte sie doch einen weiteren Schritt nach vorne für die internationale sozialistische Revolution, die zum damaligen Zeitpunkt nach der Revolution in Russland und Ungarn scheinbar unaufhaltsam voranschritt. Die KPD hoffte insbesondere darauf, dass die Nachricht der Errichtung der Räterepublik in Bayern den Kampfeswillen der Arbeiterinnen und Arbeiter im Rest von Deutschland wiederbeleben würde.
Auch nach Sowjetrussland war die Nachricht von der Errichtung der Räterepublik in Bayern vorgedrungen, nachdem Leviné eine Grußadresse geschickt hatte. Lenin, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwei Jahre lang in München gewohnt hatte, fand trotz des Bürgerkriegs in Russland selbst die Zeit, ebenfalls eine Grußadresse zurückzuschicken, die es wert ist, ungekürzt zitiert zu werden:
„Grußschreiben an die Bayerische RäterepublikWir danken für Ihren Gruß und begrüßen unserseits von ganzem Herzen die Räterepublik in Bayern. Wir bitten Sie sehr, möglichst oft und möglichst konkret mitzuteilen, welche Maßnahmen Sie zum Kampf gegen die bürgerlichen Henker Scheidemann und Co. durchgeführt haben. Haben Sie Arbeiter- und Gesinderäte in den Stadtteilen geschaffen, die Arbeiter bewaffnet, die Bourgeoisie entwaffnet, die Bestände an Kleidung und anderen Erzeugnissen verwendet, um den Arbeitern und besonders den Landarbeitern und Kleinbauern sofortige und umfassende Hilfe zu leisten, haben Sie die Fabriken und die Reichtümer der Kapitalisten in München wie auch die kapitalistischen landwirtschaftlichen Betriebe in seiner Umgebung enteignet, die Hypotheken und Pachtzahlungen für die Kleinbauern aufgehoben, die Löhne für Landarbeiter und ungelernte Arbeiter verdoppelt oder verdreifacht, alles Papier und alle Druckereien zum Druck populärer Flugblätter und Zeitungen für die Massen beschlagnahmt, den Sechsstundentag bei gleichzeitiger zwei- oder dreistündiger Beschäftigung in der Verwaltung des Staates eingeführt, den Wohnraum der Bourgeoisie in München beschränkt, um sofort Arbeiter in die Wohnungen der Reichen einzuweisen, alle Banken in Ihre Hände genommen, Geiseln aus der Bourgeoisie festgesetzt, für die Arbeiter größere Lebensmittelrationen als für die Bourgeoisie eingeführt und die Arbeiter ausnahmslos sowohl für die Verteidigung als auch für die ideologische Propaganda in den umliegenden Dörfern mobilisiert? Die schnellste und umfassendste Durchführung dieser und ähnlicher Maßnahmen bei eigener Initiative der Arbeiter- und Landarbeiterräte und gesondert von ihnen der Kleinbauernräte wird Ihre Stellung festigen. Es ist notwendig, der Bourgeoisie eine außerordentliche Steuer aufzuerlegen und in der Lage der Arbeiter, Landarbeiter und Kleinbauern sofort und um jeden Preis eine faktische Verbesserung herbeizuführen.
Die besten Grüße und Wünsche für den Erfolg
Lenin“[14]
Trotz der sich überstürzenden Ereignisse und der widersprüchlichen Informationen zeugen die Fragen Lenins von einem scharfen Verständnis für die Aufgaben der Räterepublik inklusive der schwachen Seiten ihrer Maßnahmen. Tatsächlich konnte die Räterepublik etwa die Landfrage nie beantworten. Lenin war bewusst, dass nach den Niederlagen in Deutschland die Situation der Bayerischen Räterepublik extrem prekär war. In seiner Nachricht versucht er daher, so gut wie möglich zu skizzieren, wie die Revolution doch Erfolg haben konnte – auch wenn seine Nachricht München erst am 27. April erreichte, als die Niederlage schon besiegelt war.
In Wirklichkeit ist dieses kurze Dokument daher eine Anleitung dafür, wie eine Revolution in einer extrem schwierigen Situation trotzdem siegen kann: Nicht etwa, wie es später die Stalinisten im spanischen Bürgerkrieg argumentierten, dass die sozialen Forderungen der Arbeiterklasse und Bauernschaft in den Hintergrund treten und ein Bündnis mit den „progressiven Teilen der Bourgeoisie“ gegen die Reaktion geschlossen werden sollte – ganz im Gegenteil!
Die Räterepublik konnte nur dann Erfolg haben, wenn sie mit radikalen Maßnahmen der sozialen Verbesserungen die ärmsten, unorganisierten Schichten der Arbeiterklasse und Bauernschaft zum politischen Leben erweckt, aktiviert und ihnen etwas gibt, dass es sich lohnt, zu verteidigen. Auf dieser Basis musste die Revolution rücksichtslos und entschlossen gegen die Reaktion vorgehen – ohne falsche Illusionen in die Absichten des Kapitals, das plante, die Räterepublik im Blut zu ertränken.
Der Kampf gegen die Konterrevolution
Nach dem Sieg gegen den Palmsonntagsputsch konnte die Räterepublik zuerst auch einige wichtige Siege gegen den Versuch der Regierung Hoffmann erringen, die Arbeitermacht militärisch zu zerschlagen. Dabei stellte sich sehr schnell heraus, dass die reguläre bayerische Armee kaum gegen die Revolution einzusetzen war. So entschieden sich am 15. April 1.200 Soldaten des 1. Jägerbataillons in Freising nach Diskussionen mit Revolutionären, ihnen ihre Waffen abzugeben und nach Regensburg zu fahren – die Offiziere mussten sich den Soldaten beugen. Auch in den ersten Kampfhandlungen war die Rote Armee siegreich. Am 15. April vertrieb sie die Weißen aus Allach und Karlsfeld nördlich von München, am 16. April endgültig aus Dachau, wo schon tags zuvor Arbeiter der Pulverfabrik hunderte Weißgardisten überrumpelt und entwaffnet hatten.
Doch diese ersten Siege waren nicht von Dauer: Die Revolutionäre nützten sie nicht aus – nicht zuletzt deswegen, weil der abgesetzte USPD-Vorsitzende Toller, der jetzt die Truppen bei Dachau kommandierte, eine klägliche Rolle spielte. Er drängte auf eine Verhandlungslösung, statt die Weißen zu verfolgen, was der Regierung Hoffmann dringend benötigte Zeit verschaffte. Es war nicht das letzte Mal, dass er so eine schlechte Rolle spielen sollte.
Das erlaubte der Regierung Hoffmann, einen Gegenschlag vorzubereiten. Nach den anfänglichen Rückschlägen für die Weißen hatte es die Revolution nicht geschafft, außerhalb Münchens eine breite Basis zu bekommen. Die Gegenoffensive begann.
Aus dem ganzen Reich wurden konterrevolutionäre Truppen herangekarrt. Anders als die rote Armee waren sie kampferprobt, insbesondere die Freikorps, die nach und nach in Nord- und Mitteldeutschland die verschiedensten Aufstände der ArbeiterInnen blutig unterdrückt hatten. Das „prominenteste“ Beispiel ist dabei sicherlich die Marinebrigade Erhard, die später als die wichtigste Basis des Kapp-Putsches[15] 1920 traurige Berühmtheit erlangen sollte.
Das bayerische Kapital ließ sich die blutige Verteidigung seiner Interessen auch einiges kosten: Der Oberbefehlshaber der Reichswehr in Bayern, Möhl, berichtete an Hoffmann: „Aus Bankkreisen sind dem AOK 690.000 Mk zur Verfügung an die Truppen überwiesen worden.“[16] Insgesamt konnte die Regierung Hoffmann etwa 60.000 einsatzbereite Soldaten sammeln, die nun schnell vorrückten.
Am 20. April wurde Augsburg von den Weißen erobert. In den Vororten gab es aber noch drei Tage lang erbitterten Widerstand. Augsburg hatte sich nicht der Räterepublik angeschlossen, die Arbeiterinnen und Arbeiter waren aber nicht bereit, die bedingungslose Kapitulation und Entwaffnung der Arbeiterklasse, die vom USPD-Stadtkommandanten mit den Freikorps verhandelt worden war, hinzunehmen.
Das Ende der Räterepublik
Die Lage wurde damit immer unhaltbarer, eine Niederlage war nur noch eine Frage der Zeit. Die KPD bestand aus den entschlossensten Revolutionären, aber sie war trotzdem gerade erst einige Monate alt. In Wirklichkeit hatte sie nicht die Arbeiterklasse zur Macht geführt, sondern wurde von den fortgeschrittensten ArbeiterInnen dazu gedrängt, die Macht zu übernehmen. Sie hatte nicht die nötigen Kader, um den Kampf überall vor Ort anzuführen. Daher musste sie sich auf unerfahrene Kommunisten stützen, oder das Feld Opportunisten wie Ernst Toller überlassen. Außerdem war es keine abgetestete Partei mit tiefen Wurzeln in der Arbeiterklasse. Das alles gab der Räteregierung in ihren letzten Tagen einen extrem chaotischen Charakter.
Auch wenn viele Arbeiterinnen und Arbeiter bis zum Schluss kämpfen wollten, so hofften die unentschlosseneren doch auf einen Kompromiss mit den Weißen. Unter diesen Umständen bekam Toller wieder Oberwasser, der hinter den Kulissen schon länger versucht hatte, die KPD-Regierung zu sabotieren und seine Absetzung wieder wettzumachen. Mit der Hoffnung auf eine Verhandlungslösung brachte er am 27. April die Mehrheit der Betriebsräte wieder hinter sich, die die Kommunisten aus der Regierung entfernten. Doch die Hoffnungen der ArbeiterInnen würden schnell verpuffen. Der Ruf nach Verhandlungen hatte die Arbeiterklasse vor den vorrückenden Weißen völlig entwaffnet. Die Regierung Hoffmann wies jeden Versuch der Verhandlung zurück, an denen sie kein Interesse hatte. Jetzt sollte die offene Konterrevolution wüten, um jeden Gedanken der ArbeiterInnen an die Revolution ein für allemal zu unterdrücken.
Mit dem Ausscheiden der Kommunisten aus der Regierung war auch die entschlossene Verteidigung gebrochen – die neue Regierung wollte den Widerstand einstellen. Am 1. Mai wurde München komplett eingeschlossen und bis zum 2. Mai vollständig erobert. Als Letztes wurde Kolbermoor im Landkreis Rosenheim (Oberbayern) am 3. Mai erobert. Jetzt tobte die Konterrevolution mit voller Kraft.
RevolutionärInnen wurden verfolgt und gnadenlos umgebracht. Bei den Kämpfen starben in den letzten Tagen nach offiziellen Angaben 38 Regierungssoldaten und 93 Angehörige der Roten Armee. Doch darüber hinaus wurden hunderte, nach verschiedenen Angaben bis zu 2.000 Rotarmisten und ArbeiterInnen von der wütenden konterrevolutionären Soldateska ermordet, die in den Statistiken entweder als „standrechtlich erschossen“, „verunglückt“ oder gar nicht aufscheinen. 21 Mitglieder eines katholischen Gesellenvereins wurden so zum Beispiel bei der Planung einer Theateraufführung gefangengenommen und misshandelt, einige totgeprügelt, die „Glücklicheren“ erschossen. Auch der Kommandant der Roten Armee, der Matrose Rudolf Egelhofer, sowie Kurt Landauer wurden ermordet. Eugen Leviné wurde gefangen genommen und vor Gericht gestellt. Leviné wusste, dass seine Zeit abgelaufen war und gab eine flammende Verteidigungsrede:
„Wir Kommunisten sind alle Tote auf Urlaub, dessen bin ich mir bewußt. Ich weiß nicht, ob Sie mir meinen Urlaubsschein noch verlängern werden, oder ob ich einrücken muß zu Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Ich sehe auf jeden Fall ihrem Spruch mit Gefaßtheit und mit einer inneren Heiterkeit entgegen.
Die Ereignisse sind nicht aufzuhalten. Die Staatsanwaltschaft glaubt, die Führer hätten die Massen aufgepeitscht. Wie die Führer die Fehler der Massen nicht hintertreiben konnten unter der Scheinräterepublik, so wird auch das Verschwinden des einen oder anderen Führers unter keinen Umständen die Bewegung hindern.
Und über kurz oder lang werden in diesem Raume andere Richter tagen, und dann wird der wegen Hochverrat bestraft werden, der sich gegen die Diktatur des Proletariats vergangen hat. Fällen Sie das Urteil, wenn Sie es für richtig halten. Ich habe mich nur dagegen gewehrt, daß meine politische Agitation, der Name der Räterepublik, mit der ich mich verknüpft fühle, daß der gute Name der Münchener Arbeiter beschmutzt wird. Diese und ich mit ihnen zusammen, wir haben alles versucht, nach bestem Wissen und Gewissen unsere Pflicht zu tun gegen die Internationale, gegen die Kommunistische Weltrevolution!“[17]
Er wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Dieses Urteil wurde von der SPD-Landesregierung bestätigt.
Eugen Leviné, hingerichtet am 5. Juni 1919
Max Levien konnte nach Österreich fliehen. Die vom Sozialdemokraten Karl Renner geführte Regierung sperrte ihn für über ein Jahr ein, während sie abwägte, ob er nach Bayern ausgeliefert werden sollte – wo ihn sicherlich das selbe Schicksal wie Leviné erwartet hätte. Am Ende wurde er freigelassen und ging in die Sowjetunion. Dort fiel er 1937 den blutigen Säuberungen Stalins zum Opfer – einer der Führer der Bayerischen Räterepublik wurde für die „Mitgliedschaft in einer Anti-Sowjetischen terroristischen Organisation“ erschossen. Die tragische Ironie dessen ist sicherlich an Stalins Schlächtern vorbeigegangen, ohne dass sie sie bemerkten.
Nachdem die Arbeiterklasse und die Räterepublik besiegt waren, dauerte es nicht lange, bis die Reaktion in Bayern direkt die Macht errang. 1920 wurde Gustav Ritter von Kahr Ministerpräsident, unter seiner Führung war Bayern eine Quasi-Militärdiktatur, in der faschistische Banden sich ungestört entwickeln konnten – wie der Hitlerputsch in München 1923 deutlich zeigte. Doch auch wenn die Arbeiterklasse besiegt war, lebten die revolutionären Traditionen und Erfahrungen dieser großen Ereignisse weiter. Die ArbeiterInnen hatten gekämpft und verloren, aber sie hatten im Kampf wichtige Erfahrungen gemacht und nahmen auch an den weiteren revolutionären Ereignissen in Deutschland teil.
1871 hatte Karl Marx die ArbeiterInnen von Paris als „Himmelsstürmer“ bezeichnet, als diese die Kommune etablierten und die Macht einige Wochen lang in den Händen hielten. Im ersten Moment mag es passend erscheinen, die Erfahrungen der Bayerischen Räterepublik mit dem Ende der Pariser Kommune zu vergleichen. Beide waren heldenhafte, aber letztendlich gescheiterte Versuche einer proletarischen Revolution.
Aber zwischen 1871 und 1919 hatte sich viel verändert. Die europäische Arbeiterklasse war nicht mehr dieselbe. Paris wurde 1871 als die revolutionärste Stadt der Welt gesehen. Bayern wurde 1919 als eine der konservativsten Regionen Deutschlands gesehen, wie das auch heute noch der Fall ist. Die Bayerische Räterepublik war weit davon entfernt, auf eine Stadt begrenzt zu sein, sondern war im Gegenteil nur eine inspirierende Episode im heldenhaften Kampf der enorm gestärkten deutschen, europäischen und weltweiten Arbeiterklasse.
Kurz gesagt: Die Arbeiterklasse war viel stärker als noch 50 Jahre zuvor. Unter diesen Umständen konnte sogar eine kleine, sehr junge marxistische Organisation wie die KPD eine große Rolle spielen. Aber letztendlich gingen die Aufgaben, die die Geschichte ihr stellte, über die Kräfte der kleinen Organisation hinaus. Die wichtigste Lehre der Bayerischen Räterepublik – und der ganzen Deutschen Revolution – ist, dass eine Partei als Vorhut der Arbeiterklasse, die sie zur Macht führen kann, nicht während der Revolution selbst geschaffen werden kann. Sie muss schon zuvor geduldig aufgebaut werden.
Als die KPD im Dezember 1918 gegründet wurde, hatte sie als Vorbild das größte Ereignis der menschlichen Geschichte: die Russische Revolution. Aber tragischerweise hatten ihre jungen und unerfahrenen Kader zu wenig Zeit, um die Lehren daraus vollständig ziehen zu können, bevor sie in den Wirbelsturm der Deutschen Revolution geschleudert wurden.
Ein Jahrhundert später bereitet sich eine neue Epoche der Weltrevolution vor. Eine neue Generation, die nicht die Last vergangener Niederlagen trägt, tritt zum Kampf an. Die heutige beispiellose Stärke der Arbeiterklasse bedeutet, dass die herrschende Klasse die Arbeiterbewegung nicht wie in den 1920ern schnell und mit einem tödlichen Schlag besiegen kann. Deswegen haben wir noch einen gewissen Zeitraum, um uns vorzubereiten. Wir müssen diese Zeit vernünftig nutzen.
In den Zeiten, die vor uns liegen, ist es entscheidend, dass wir eine gestählte marxistische Organisation mit Wurzeln in der Arbeiterklasse aufbauen. Dafür steht uns eine Schatzkiste voller Erfahrungen zur Verfügung, aus der wir dank der Opfer von KlassenkämpferInnen vergangener Generationen reich schöpfen können – aus der Russischen Revolution, der Deutschen Revolution und der Bayerischen Räterepublik. Die Erinnerung an die Bayerische Räterepublik wird so heute als Teil des wertvollen Erbes der marxistischen Strömung bewahrt.
Es ist unsere Verantwortung vor dieser Generation der Revolutionäre, dass wir aus ihren Siegen, aber auch ihren Niederlagen lernen, indem wir sie tiefgreifend studieren. So können wir rechtzeitig eine revolutionäre Partei aufbauen, die die Arbeiterklasse an die Macht führen und die Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage neu aufbauen kann.
[1] Hans Beyer (1988): Die Revolution in Bayern 1918/1919. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaft, Berlin, S.14.
[2] Der Zentrismus ist eine politische Strömung, die zwischen reformistischer und revolutionärer Politik schwankt. Dabei handelt es sich notwendigerweise um einen kurzlebigen politischen Trend.
[3] Ebd. S. 17.
[4] Ebd. S. 34.
[5] Erich Mühsam (1929): Von Eisner bis Leviné. Fanal-Verlag, Berlin, S. 23.
[6] Ralf Höller (6. Februar 2019): „Der Jude Eisner“, in: Die Zeit, online: https://www.zeit.de/2019/07/antisemitismus-kurt-eisner-freistaat-bayern-rechtsextremismus-attentat (zuletzt aufgerufen: 01.07.2021).
[7] Karl Retzlaw (1976): Spartakus: Aufstieg und Niedergang, Erinnerung eines Parteiarbeiters. Verlag Neue Kritik, Frankfurt a. M., S. 130.
[8] Beyer: Die Revolution in Bayern, S. 75.
[9] Paul Frölich (1920): Die Bayerische Räterepublik: Tatsachen und Kritik. Franke Verlag, Leipzig, S. 19.
[10] Ebd. S. 22.
[11] Ebd. S. 31.
[12] Retzlaw: Spartakus, S. 142.
[13] Ebd. S. 148.
[14] W. I. Lenin (1919): Grußschreiben an die bayerische Räterepublik, in: LW Bd. 29. Dietz Verlag, Berlin, S. 314f.
[15] Ein Putschversuch im März 1920 (benannt nach Wolfgang Kapp), der versuchte die Weimarer Republik zu stürzen, die Monarchie wieder einzuführen und eine Militärdiktatur zu errichten. Der Putsch scheiterte am Massenwiderstand der deutschen Arbeiterklasse, welche mit einem Generalstreik antwortete.
[16] Beyer: Die Revolution in Bayern, S. 131.
[17] Eugen Leviné (1925): Skizzen, Rede vor Gericht und anderes. Verlag der Jugendinternationale, Berlin, S. 46.
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