Im heurigen Gedenkjahr stehen die Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Gründung der Republik Österreich an. Die revolutionären Wurzeln der Republik werden dabei wenig Beachtung finden. Von Gernot Trausmuth.
Herbst 1918. Seit vier Jahren tobt nun schon der Erste Weltkrieg. Millionen Tote auf den Schlachtfeldern, Millionen Krüppel und Invalide. Und im Hinterland herrscht bitterste Not. Eine Weiterführung des Krieges ist unter diesen Bedingungen undenkbar geworden. Zu Tausenden verweigerten Soldaten den Dienst. Die k.u.k.-Armee des Habsburgerreiches war dem Zusammenbruch nahe.
Nach mehr als vier Jahren des Krieges war eine neue Zeit angebrochen. Die Revolution, die ein Jahr zuvor in Russland ihren Lauf genommen hatte, brach sich nun binnen Wochen endgültig ihre Bahn. Die Kette war an ihrem schwächsten Glied gebrochen, und nun begann es entlang der gesamten Kette zu rasseln. Die Kerkermauern des Habsburgerreiches wurden in jenen Tagen gesprengt, und die unterdrückten, slawischen Nationen strebten der Unabhängigkeit entgegen, bildeten auf dem Gebiet der einstigen Donaumonarchie neue Nationalstaaten.
Die deutschsprachigen Abgeordneten ergriffen diese Dynamik vor Augen die Initiative, einen selbständigen deutschösterreichischen Staat zu errichten und konstituierten sich als provisorische Nationalversammlung, deren Vollzugsausschuss (der Staatsrat) künftig die Regierungsgeschäfte übernehmen sollte. Die Sozialdemokratie sah nun ihre Stunde gekommen und leitete einen geordneten Übergang hin zu einer Republik ein. Ab dem 21. Oktober war klar, dass man sich am Beginn eines revolutionären Prozesses befand. In einem Aufruf in der Arbeiterinnen-Zeitung hieß es am Tag darauf:
„In ernster Stunde sprechen wir zu euch, um euch aufzufordern, die Notwendigkeit der Zeit zu erkennen. Alles Alte wankt und stürzt, Einrichtungen, die im Sinne des Volkes als ewig feststehend, als unabänderlich galten, versinken, Neues entsteht und wächst heran.“
Die gewöhnliche Arbeiterin hatte noch keinen Blick für die große Stunde, sie kämpfte in jenen Tagen noch um das tägliche Überleben. Auf Wiens Märkten fehlte es an fast allem, nachdem aus Böhmen, Mähren und Ungarn kaum noch Gemüse geliefert wurde. Angeboten wurden fast nur noch diverse Rübensorten und Kraut, für das man sich lange anstellen musste. Obst blieb völlig aus. An Tagen, an denen Äpfel und Birnen geliefert werden, sind diese binnen kürzester Zeit ausverkauft. Fleisch und Fisch sind längst Luxusprodukte, die sich nur die wenigsten leisten können. Noch drehen sich die Gedanken der Menschen um die Mühen des Alltags, doch in der Gesellschaft gärt es. Schon wenige Tage später wird das Murren über die schlechte Versorgungslage, die Sorge um die Kinder und die Männer an der Front in Protestschreie umschlagen.
An diesem Wendepunkt der Geschichte berief die Sozialdemokratie in allen Wiener Bezirken Versammlungen ein, die massenhaft besucht werden. Die Nachricht vom nahenden Frieden und vom Ende des Habsburgerreiches wurde mit tosendem Jubel aufgenommen. Die Bewegung, die nach der Niederlage des Jännerstreiks, dem ersten Massenstreik gegen den Krieg, und der Streikwelle im Juni kurzfristig abgeebbt war, war nun erneut ins Rollen gekommen. Anders als im Jännerstreik war die revolutionäre Linke durch Verhaftungen und Repression jedoch massiv geschwächt und der im Jänner entstandene Arbeiterrat nunmehr fest in der Hand der sozialdemokratischen Parteiführung und nicht eigenständiger Ausdruck der revolutionär gesinnten Teile der Arbeiterschaft. Nichtsdestotrotz macht die organisierte Arbeiterbewegung zusehends Druck. Die Straßenbahner machten den Anfang, forderten höhere Löhne und erkämpften erste Zugeständnisse. Die Forderung nach der vollständigen Herstellung der Pressefreiheit und Verhandlungen über die Freilassung aller politischen Gefangenen wurde erhoben. Am Tag darauf wurde die Vorzensur nicht mehr exekutiert. Die Zeitungen der Arbeiterbewegung, die vor einigen Tagen noch mit weißen Flecken (oder überhaupt nicht) erschienen waren, konnten endlich frei berichten. Zwei Tage später wurden die 14 noch Inhaftierten des Jännerstreiks endlich freigelassen.
Die Massen erzwingen die Republik
In der Zwischenzeit überstürzen sich die Ereignisse. Am 29. Oktober entsenden Belegschaften Deputierte ins Parlament, um von der Sozialdemokratie die unverzügliche Abhaltung einer Massendemonstration für die Republik zu organisieren. Am 30. Oktober wird angekündigt, dass am darauffolgenden Tag die Nationalversammlung tagen wird. Ihr Vollzugsausschuss soll bei dieser Sitzung die Funktion des Staatsrates und somit die Regierungsgeschäfte übernehmen. Auf den Tag genau 70 Jahre nach der blutigen Niederschlagung des Oktoberaufstandes der 1848er-Revolution wird also die Grundlage für die Republik Deutschösterreich gelegt. Noch am 30. Oktober verlagerte sich jedoch die Initiative auf die Straße. Die Massen betreten erstmals wieder die Bühne der Geschichte.
Die Geister von 1848 waren wieder zu neuem Leben erwacht. Und sie kehrten an den Ort des Geschehens der ersten österreichischen Revolution zurück, vor das Landhaus. Tausende Arbeiter und Studenten zogen schon am Nachmittag durch die Herrengasse. Und mit ihnen demonstrierten hunderte Reserveoffiziere der in Auflösung begriffenen k.u.k.-Armee. Der Ruf „Hoch die Republik - die Republik Deutschösterreich“ wollte nicht mehr verstummen. Die Soldaten nahmen die Kokarden von ihren Feldmützen und ersetzten sie mit roten oder mit schwarz-rot-goldenen Rosetten. Höhere Offiziere, die dies nicht von sich aus taten, wurden von Demonstranten dazu nachdrücklich aufgefordert.
Es gab keinen offiziellen Aufruf zu dieser Demonstration. Die Arbeiter-Zeitung schrieb „ohne eine Verabredung, aus der Empfindung für die geschichtliche Stunde“, legten die Arbeiter am Nachmittag gegen 15 Uhr die Betriebe still und zogen aus der Vorstadt ins Stadtzentrum. Schon am Vormittag hatten sich die Studenten an der Universität Wien versammelt, gegen 14 Uhr fanden sich mehrere Hundert von ihnen, die meisten deutschnationaler Gesinnung, in der Herrengasse ein. Mit den spontanen Arbeitsniederlegungen und der Formierung von eigenen Demonstrationszügen änderten die Arbeiterinnen und Arbeiter, die meisten noch in der Arbeitsmontur, den Charakter der Kundgebung. Jedem Zug gingen rote Fahnen und Standarten voran, auf denen ein sofortiger Friedensschluss und die Freilassung von Friedrich Adler gefordert wurde, der für sein Attentat auf den Regierungschef zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Aus den Reihen der Deutschnationalen gab es zwar vereinzelt Pfuirufe, doch bald schon dominierten die Arbeiter eindrucksvoll die Szenerie. Die Masse war in ständiger Bewegung, erhobene Fäuste, Hüte, Tücher wurden geschwenkt, wenn vom Balkon ein sozialdemokratischer Redner von den jüngsten Entwicklungen berichtete. Und immer wieder die Rufe „Her mit dem Frieden!“, „Hoch die Republik!“, „Nieder mit dem Kaisertum!“
Als der christlich-soziale Bürgermeister Weiskirchner das Wort ergreifen sollte, lässt ihn die Masse kaum sprechen. Seine Rede geht im empörten Lärm der Menge unter. Dann zogen Demonstrationszüge weiter zum Parlament, wo die rote Fahne vor dem Gebäude gehisst wurde, und dann zum Kriegsministerium. Das Ministerium am Stubenring war nicht nur das Herz des k.u.k.-Militarismus, sondern auch der Ort, wo die Kriegshetzer zu Beginn des Krieges ihre Kundgebungen abhielten. Überwog bis dahin noch eine Feier- und Jubelstimmung, so waren die Menschen hier ernst und entschlossen, den Verantwortlichen für ihr Leid zu zeigen, wie es dem Volk wirklich geht. Noch einmal kochte die Stimmung hoch, als ein Demonstrationszug von Arbeitern aus der Landstraße beim Offizierskasino am Schwarzenbergplatz vorbeikam und dort blockierte. Auch hier trugen sie Standarten mit sich, die „Hoch die soziale Republik“ forderten.
Die Republik war nun eine Tatsache, die Revolution in ihrem vollen Lauf. Und das Besondere an dieser Umwälzung ist, dass die alten Machthaber keinerlei offenen Widerstand leisten können. Sie sind zu völliger Ohnmacht verdammt, nachdem der Staatsapparat in Form der bewaffneten Einheiten Armee und Polizei nicht mehr funktionsfähig ist. Die Macht liegt nun in den Händen der Führung der Arbeiterbewegung. (Fortsetzung folgt)
(Funke Nr. 167/Oktober 2018)
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