Als am 30. Oktober unter dem Druck der Straße im niederösterreichischen Landhaus die Republik ausgerufen wurde, war die Lokomotive der Geschichte voll in Fahrt gekommen. Nichts und niemand konnte sich mehr dem Willen der Massen entgegenstellen. Von Gernot Trausmuth.

Eine Woche zuvor hatten die Vertreter der wichtigsten bürgerlichen Parteien, die Christlichsozialen wie auch die Deutschnationalen, in der provisorischen Nationalversammlung noch allesamt verlautbart, dass sie für eine konstitutionelle Monarchie sind. Einzig Victor Adler sprach sich im Namen der Sozialdemokratie für eine Republik aus. Die Befürworter der alten Ordnung hofften in diesen Tagen des Umbruchs auf die Christlichsozialen. Doch diese waren angesichts der revolutionären Grundstimmung auf Wiens Straßen zu keiner eigenständigen politischen Initiative mehr imstande und gaben aus Angst vor einer Revolution wie in Russland ihren Widerstand gegen die demokratische Republik auf.

Die alte Armee des Habsburgerreiches war in den letzten Kriegstagen in Auflösung begriffen. Die wenigen, noch handlungsfähigen Truppenteile wagte niemand einzusetzen. Nach Jahren der sinnlosen Menschenschlachterei an der Front und der mit dem Kriegsrecht durchgesetzten Überausbeutung im Hinterland war der k.u.k.-Militarismus völlig verhasst. Der Sturm auf die Rossauer Kaserne, in der sich auch der Garnisonsarrest befand, die spontanen Demonstrationen vor dem Kriegsministerium und die Übergriffe auf monarchistische Offiziere ließen keinen Zweifel an der Stimmung in der Bevölkerung.

Revolutionär gesinnte Armeeangehörige gründeten nun nach russischem Vorbild einen Soldatenrat und sprachen bei Karl Seitz, dem sozialdemokratischen Präsidenten der Nationalversammlung vor. Dabei erhoben sie die Forderung, dass die neue Armee eine nach demokratischem Prinzip aufgebaute Volkswehr sein müsse. Den anwesenden Militärs, die noch die alte Uniform mit den kaiserlichen Emblemen trugen, riefen sie zu: „Mit euch wird es bald aus sein, jetzt werden WIR Ordnung machen.“

Nachdem bei einer Massenversammlung der sozialdemokratischen Arbeiterschaft in Graz gedroht wurde, man würde eigenhändig alle kaiserlichen Adler und Aufschriften mit „k.k.“ beseitigen, beugten sich die Behörden dem Druck und erledigen dies selbst. In allen Hotels wurden Aufschriften, die an die Monarchie erinnerten, überklebt und die Kaiserbilder versteckt. In der Militärstrafanstalt Möllersdorf desertieren die Wachen und alle Gefangenen kamen frei. Bei den Soldatenversammlungen versuchte der Soldatenrat die radikalisierte Stimmung zum Aufbau einer starken Organisation zu nutzen. Der spätere Wiener Polizeipräsident Brandl schrieb dazu in seinem Tagebuch: „[Der Bolschewismus] wird immer rühriger. Man hört den Ruf, eine rote Garde zu bilden; der ‚Soldaten-, Arbeiter- und Bauernrat‘ nach russischem Muster beginnt in den Köpfen zu spuken.“

Rund um den Reporter Egon Erwin Kisch und Leo Rothziegel, der schon im Jännerstreik eine wichtige Rolle spielte, bildet sich auch die Rote Garde, die als linke Wehreinheit mit einigen hundert Mann ihr Ziel in einer sozialistischen Revolution sah. Doch es ist die Sozialdemokratie, die der Masse an revolutionär gesinnten Soldaten, einen neuen organisatorischen Rahmen gibt. Die Volkswehr wird gebildet, in die sich auch die Rote Garde eingegliedert. Offiziere, die sich der Volkswehr anschließen wollen, müssen sich einer politischen Überprüfung und einer Wahl stellen. Dass diese neue Truppe von den „Roten“ dominiert wird, steht vom ersten Tag fest. Die Bürgerlichen können dem ganzen Prozess nur zuschauen und müssen froh sein, dass die sozialdemokratische Führung der kommunistischen Tendenzen unter den Kriegsheimkehrern einigermaßen Herr wird.

Die Gründung der Roten Garde

Die monarchistische Stadtkommandatur ist mittlerweile auf vier Kompanien zusammengeschrumpft, sie kann gerade noch das Schloss Schönbrunn, die Hofburg, das Belevedere und das Augartenpalais bewachen. Der Kaiser ist inzwischen völlig planlos und hat sich aufgegeben. Er geht im Lainzer Tiergarten jagen und sorgt dafür, dass der Privatschmuck der Habsburger in die Schweiz transferiert wird. Aus Angst die massenhafte Demobilisierung der Armee würde die Revolution weiter anheizen, nimmt das Armeeoberkommando lieber in Kauf, dass hunderttausende Soldaten noch in die Kriegsgefangenschaft geraten, anstatt endlich zu ihren Familien heimkehren zu können. So viel zum angeblichen Patriotismus der herrschenden Kaste.

Doch nicht alle sind bereit, dem Untergang der Monarchie tatenlos zuzusehen. Der Oberbefehlshaber der schwer geschlagenen Isonzo-Armee, Feldmarschall Boroevic, bietet Kaiser Karl an, er würde mit zuverlässigen Einheiten Wien besetzen. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Die Reaktion sieht angesichts der Revolution nur noch eine Chance: Abtauchen und auf bessere Zeiten warten.

In den Ministerien übernehmen nun Sozialdemokraten das Ruder. Und sie stehen unter dem Druck ihrer Basis. Hunderte Soldatenräte und Arbeitervertreter sprechen direkt und lautstark vor. Wären da nicht die alten Beamten, die tunlichst darauf achten, dass die bürgerliche Ordnung nicht gänzlich über den Haufen geworfen wird.

Doch nicht nur in Österreich herrscht Revolution. Die Nachrichten über den Matrosenaufstand und Massenproteste in Deutschland geben der Revolution in Wien weiteren Antrieb. Am 9. November musste Wilhelm Hohenzollern angesichts eines drohenden Generalstreiks als deutscher Kaiser abdanken und nach Holland fliehen. Während die Bürgerlichen in Wien vergeblich auf einen mutigen General hoffen, der die Kaiserstadt vom roten Mob befreit, forderte die Arbeiterschaft Taten. Der hohe Polizeibeamte Brandl schrieb: „Von der Tätigkeit christlichsozialer oder deutschnationaler Parteiführer sieht und hört man nichts. Als ob sie der Erdboden verschluckt hätte! Rot ist Trumpf!“ Jetzt war nur noch die Frage, ob die Republik ‚auf der Straße“ proklamiert und die Rote Garde gegen Schönbrunn marschieren würde, oder ob die Vertreter der neuen Ordnung diesen Prozess in geordnete Bahnen lenken könnten. Bei intensiven Verhandlungen zwischen der kaiserlichen Regierung und der sozialdemokratischen Parteispitze wurde eine gemeinsame Vorgangsweise vereinbart. Am 11. November musste Kaiser Karl die ihm vorgelegte Verzichtserklärung unterzeichnen. Die Monarchie war Geschichte.

Am nächste Tag erfolgte die offizielle Proklamation der Republik mit einer von der Sozialdemokratie organisierten Großdemonstration vor dem Parlament. Es sollte der Triumphzug der Revolution werden, an dem sich eine halbe Million Menschen beteiligte. Gerüchte von einem Putschversuch der Roten Garde machten die Runde. In bürgerlichen Kreisen wurde dies vermengt mit antisemitischen Verschwörungstheorien. Da die Polizei zu verhasst war, übernahm die Sozialdemokratie den Schutz des Parlaments und versuchte zur Freude der Bürgerliche Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten. Am 12. November versuchte die Rote Garde gemeinsam mit der kurz zuvor gegründeten Kommunistischen Partei vor dem Parlament in einer abenteuerlichen Aktion eine sozialistische Republik auszurufen. Angesichts der revolutionären Grundstimmung in der Arbeiterschaft war die Perspektive einer sozialistischen Revolution durchaus richtig, doch die KommunistInnen hatten eine viel zu geringe Verankerung in der Klasse und versuchten dies mit einer putschistischen Taktik zu ersetzen, was als völlige Farce enden musste.

Die österreichische Revolution vollzog sich nun vorerst auf demokratischem Wege und musste durch die Schule der Sozialdemokratie gehen.


Sozialdemokratie und die Revolution

Im Herbst 1918 ist die Sozialdemokratie die einzige Kraft, die wirksam agieren kann. Was sie vorschlägt, wird wenige Tage später Gesetz sein. Ihr Konzept lautet: Errichtung einer demokratischen Republik, auf deren Grundlage das Proletariat bei freien Wahlen die Macht erobern solle. Mit dem Zerfall der staatlichen Ordnung des alten Österreichs würden in einer ersten Phase die neuen Nationalstaaten entstehen, wobei hier Bourgeoisie und Proletariat zusammenarbeiten müssten, und erst dann könne das Proletariat um die Herrschaft ringen. Das war also eine klassische Etappenkonzeption der Revolution, wie sie die Menschewiki in Russland vertreten hatten.

Diese Idee war äußerst schematisch und berücksichtigte nicht die konkreten Bedingungen des revolutionären Prozesses am Ende des Krieges in der Folge der siegreichen Revolution in Russland, die auf ganz Europa ausstrahlte und Deutschland und Österreich zutiefst erschütterte. Obwohl es sich um einen internationalen Prozess handelte, beschränkte die Sozialdemokratie den Blick rein auf Österreich. Da die Arbeiterschaft aber eine Revolution wie in Russland wollte, musste die Partei die Bremse ziehen. Es waren gerade die Vertreter des linken Flügels, wie Otto Bauer und Max Adler, die die Argumente für diese Linie formulierten.

Der Parteitag der Sozialdemokratie am 31. Oktober forderte die Arbeiter und Soldaten auf, „im gegenwärtigen Augenblick Ruhe, Ordnung und Disziplin zu bewahren, damit unsere jüngsten Errungenschaften gesichert und ausgebaut werden können; aber auch wachsam und kampfbereit zu bleiben, damit wir in jeder Stunde gerüstet seien, jeden Anschlag der Reaktion zurückzuweisen und den Sieg der vollen Demokratie innerhalb der deutschösterreichischen Republik zu erringen.”

Dabei wurde der eigenen Basis stets die Perspektive einer sozialistischen Umwälzung aufgezeigt – doch erst nach der geschlagenen Wahl. Doch bis dahin müsse die Arbeiterschaft „die Krot‘ schlucken“ und eine Zusammenarbeit mit den Bürgerlichen dulden.

(Funke Nr. 168 / November 2018)


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