Zum hundertsten Jubiläum der russischen Revolution 1917 widmen wir den Ereignissen des Jahres eine Artikelserie. Dieses Mal zeichnen wir die Ereignisse der Februarrevolution nach.Von Florian Keller.


Vor hundert Jahren stand Russland vor einer gesellschaftlichen Explosion. Der erste Weltkrieg sorgte nach Jahren des sinnlosen Sterbens zusammen mit den sozialen Gegensätzen, schlechten Lebensbedingungen für die ArbeiterInnen und der Unterdrückung durch die Zarenherrschaft für eine gewaltige Auftürmung der gesellschaftlichen Widersprüche.

In seinem Buch „Geschichte der Russischen Revolution“ schreibt Leo Trotzki, selbst führend an den Ereignissen des Jahres 1917 beteiligt: „Der unbestreitbarste Charakterzug der Revolution ist die direkte Einmischung der Massen in die historischen Ereignisse.“ (1) Schon in den Wochen zuvor begannen sich diese Massen zu regen und die Widersprüche führten auf der einen Seite zu immer mehr Streiks und Demonstrationen, auf der anderen Seite zu zunehmender Unsicherheit der Staatsführung (siehe Teil eins unserer Reihe).

Die Stimmung war vor allem in den großen Betrieben der Hauptstadt Petrograd (das heutige St. Petersburg) bis zum Zerreißen gespannt. So berichtet der Bolschewik Schljapnikow, dass „irgendein Pfiff oder ein Lärm genügte, die Arbeiter glauben zumachen, es sei das Signal zur Arbeitseinstellung.“ (2) Die Zahl der Streiks war so hoch wie seit Beginn des Krieges nicht mehr und sie hatten oftmals direkt politischen Charakter. So fanden große Streiks am Jahrestag des Beginns der Revolution von 1905 und am Tag der Eröffnung der Duma (des russischen Parlamentes) statt. Dazu kamen eine Reihe von spontanen Ausbrüchen, so wurden etwa nach der Einführung von Brotkarten eine Reihe von Bäckereien von der aufgebrachten Menge geplündert.

Auch die Herrschenden wussten, dass jeder Tropfen das Fass zum überlaufen bringen konnte. Der liberale Fürst Lwow etwa legte einem britischen Diplomaten ein Memorandum vor, in dem er warnte, dass es zu einer Revolution innerhalb von 3 Wochen kommen würde, wenn sich das Auftreten des russichen Monarchen, des Zaren, nicht ändern würde. Der Zar glänzte tatsächlich mit besonderer Realitätsferne. Doch letztendlich war nicht dieser oder jener Charakterzug des Zaren für die kommende Revolution verantwortlich (oder ein anderes Benehmen hätte sie verhindern können), sondern die massiven Widersprüche in der russischen Gesellschaft.

Nach den Erfahrungen der gescheiterten Revolution von 1905 bereitete sich die Staatsmacht diesmal auf neue Auseinandersetzungen umfassend und penibel vor. Oberflächlich betrachtet hatte unter diesen Bedingungen keine größere Bewegung eine Chance auf Erfolg. Die politische Geheimpolizei, die Ochrana, unterwanderte alle oppositionellen Parteien und Organisationen, vor allem die revolutionären. Diese Arbeit führte immer wieder zu Massenverhaftungen. Gleichzeitig wurden die regulären Polizeikräfte vorbereitet, in allen größeren Industriezentren des Landes wurden sie in bewaffnetem Straßenkampf geschult. Die Hauptstadt war ein Heereslager, vor allem Reserveeinheiten waren hier stationiert. Daneben wurden aber auch als besonders zarentreu geltende Regimenter, Offiziersschüler und Kosakeneinheiten[2] zusammengezogen, insgesamt waren so etwa 150.000 Soldaten in Petrograd stationiert. Im Jänner 1917 wurde der Einsatz dieser Kräfte bei eventuellen Aufständen auch detailliert geplant:

„Die Stadt war in sechs Bezirke mit je einem Polizeimeister zerlegt, die Bezirke wiederum in Rayons. An die Spitze der gesamten bewaffneten Macht war der Kommandeur der Gardereservetruppen, General Tschebykin, gestellt; die Regimenter den Rayons zugeteilt; in jedem der sechs Polizeibezirke das Kommando über Polizei, Gendarmerie und Truppen besonderen Stabsoffizieren übertragen. Die Kosakenreiterei unterstand dem persönlichen Befehl Tschebykins, für Operationen größeren Maßstabes. Die Reihenfolge der Niederwerfungsmaßnahmen war so vorgesehen: zuerst geht die Polizei allein vor, dann treten die Kosaken mit Nagajkas[3] auf den Schauplatz, und nur im Notfalle werden Truppen mit Gewehren und Maschinengewehren aufgeboten.“ (3)

Doch all diese Vorbereitungen sollten letztendlich die Zarenherrschaft nicht retten können. Die Revolution findet ihren Ausgang, nicht geplant oder erwartet, am Internationalen Frauentag 1917, dem 8. März (23. Februar nach altem Kalender). Innerhalb von fünf Tagen sollte die ganze Fassade des alten Russlands in sich zusammenbrechen. Doch die Revolution beginnt als spontaner Streik von Textilarbeiterinnen, der sich schnell ausbreitet (siehe: „Unsere Revolutionäre Tradition“).

Vom Schwung des erfolgreichen Frauentages angespornt, streikt am nächsten Tag schon etwa die Hälfte der IndustriearbeiterInnen Petrograds, vor allem in den Großbetrieben. Große Demonstrationen ziehen ins Zentrum der Stadt. Es kommt zu Zusammenstößen mit der Polizei, die versucht, die ArbeiterInnen zurückzuschlagen. Die zaristische Polizei ist verhasst, immer wieder wurde sie in den vergangenen Jahren zur Unterdrückung der ArbeiterInnen eingesetzt. Dementsprechend werden ihre Angriffe auch mit Steinen und Eisstücken beantwortet. Vereinzelt werden auch Kosakeneinheiten aufgeboten, die jedoch – vorerst und laut Plan – noch nicht zur Schusswaffe greifen. Doch schon an diesem Tag zeigt sich, dass die Disziplin der zaristischen Armee an einem seidenen Faden hängt.

Am nächsten Tag, den 10. März, streiken nach Regierungsangaben bereits 240.000 ArbeiterInnen. Faktisch herrschte an diesem Tag in Petrograd bereits ein Generalstreik. Leo Trotzki beschreibt die Ereignisse:

„[…] es streiken bereits viele kleinere Betriebe, die Trams bleiben stehen, die Handelsunternehmen ruhen. Im Laufe des Tages schließen sich die Schüler der höheren Lehranstalten dem Streik an.“ (4)

Die Polizei ist immer machtloser, die Ereignisse alleine aufzuhalten, es brechen bewaffnete Auseinandersetzungen aus:

„Die berittene Polizei eröffnet das Feuer. Ein Redner stürzt verwundet nieder. Schüsse aus der Menge töten einen Polizeiwachtmeister, verwunden einen Polizeimeister und einige Polizisten. [...] Die Soldaten verhalten sich passiv, mitunter auch feindselig gegen die Polizei. In der Menge erzählt man sich erregt, daß die Kosaken, als die Polizisten am Denkmal Alexander III. die Schießerei eröffneten, eine Salve auf die berittenen Pharaonen (Spitzname für die Schutzleute) abgegeben hätten und diese flüchten mußten.“ (5)

Auf der anderen Seite kommt es auch zu Zwischenfällen, wo Soldaten auf die Demonstranten schießen. Die Polizei wird von diesem Tag an nur noch aus dem Hinterhalt agieren und schießen, dabei werden aber weiterhin dutzende Menschen sterben.

Am 10. März ist klar, dass die Masse der ArbeiterInnen, und mit ihnen große Teile der StudentInnen und KleinbürgerInnen Petrograds, für einen Aufstand gegen die Zarenherrschaft bereit sind. Das revolutionäre Zentrum Petrograds, das Stadtviertel Wyborg mit seinen riesigen Fabriken und Arbeitersiedlungen, ist bereits vollständig in der Hand der Revolution. Der Militärkommandant von Petrograd schreibt ein Ultimatum aus, in spätestens drei Tagen sollen die ArbeiterInnen ihre Arbeit wieder aufnehmen, oder alle Streikenden würden unverzüglich an die Front gebracht. Es gibt kein Zurück mehr. In der Nacht werden über 100 Revolutionäre verschiedener Parteien festgenommen. Die Alternativen sind jetzt: Vollständiger Sturz der Zarenherrschaft oder ein Blutbad unter den Aufständischen. Die Haltung der Soldaten wird jetzt entscheidend für den Gang der kommenden Ereignisse.

Der scheinbar letzte Trumpf der Herrschenden, der umfassende Einsatz der Armee gegen die Aufständischen, soll am 11. März laut Plan und auch auf Wunsch des Zaren, gespielt werden. An diesem Tag gibt es tatsächlich viele Opfer zu beklagen, vor allem die Offiziersschüler schießen gehorsam. Mehr als 40 Menschen sterben, als große Demonstrationen sich aus den Arbeiterbezirken in die Innenstädte bewegen. Doch die Stimmung unter den Massen ist nicht eine der Einschüchterung, sondern des Siegesbewusstseins. Der Agent Schurkanow berichtet an seine Vorgesetzten:

„Da die Truppen die Menge nicht hinderten, […] sondern in einzelnen Fällen sogar Maßnahmen zur Paralysierung der Polizeiaktionen trafen, wuchs in den Massen das Gefühl der Straffreiheit, und heute, nach zwei Tagen ungehinderten Umhergehens in den Straßen, nachdem die revolutionären Kreise die Parolen „Nieder mit dem Krieg“ und „Nieder mit dem Selbstherrschertum“ aufgestellt haben, hat sich im Volke der Glaube festgesetzt, die Revolution habe begonnen, der Erfolg sei den Massen sicher, die Regierung ohnmächtig, die Bewegung zu unterdrücken, da die Truppen auf seiten des Volkes ständen, der entscheidende Sieg sei nahe, weil die Truppen heute oder morgen offen auf die Seite der revolutionären Streitkräfte übergehen würden, die entfesselte Bewegung werde nicht mehr innehalten, sondern ununterbrochen wachsen, bis zum völligen Siege und zum Staatsumsturz.“ (6)

Unter den Soldaten selbst gärt es gewaltig.

“Diesen Menschen, in ihrer Mehrzahl Familienväter, stand bevor, in die Schützengräben zu gehen, wiewohl der Krieg bereits verloren, das Land ruiniert war. Sie wollten den Krieg nicht, sie wollten nach Hause, zu ihrer Wirtschaft zurück. Sie wußten sehr gut, was am Hofe sich abspielte, und fühlten nicht die geringste Anhänglichkeit für die Monarchie. Sie hatten keine Lust, gegen die Deutschen zu kämpfen und noch weniger gegen die Petrograder Arbeiter. Sie haßten die regierende Klasse der Hauptstadt, die sich während des Krieges dem Wohlleben hingab. Unter ihnen waren Arbeiter mit revolutionärer Vergangenheit, die all diesen Stimmungen einen verallgemeinernden Ausdruck zu geben wußten.“ (7)

Auch unter den ArbeiterInnen sind es vor allem diejenigen, die schon in der vorherigen Periode revolutionäre Erfahrungen gesammelt haben und oft Mitglieder der Bolschewistischen Partei[1] sind, die die Führung der Bewegung übernehmen.

Schon am Abend des 11. März kommt es zu ersten Meutereien unter den Truppen. Doch entscheiden sollte der 12. März werden: An diesem Tag bricht sich der bewaffnete Aufstand, nicht durch Anleitung von einer zentralen revolutionären Führung, sondern aus der Logik der Situation heraus, selbst die Bahn: „Eine Leitung der Massen von oben gab es fast nicht. Die Zeitungen schwiegen, denn es war Streik. Ohne sich umzuschauen, machten die Massen selbst ihre Geschichte“ (8)

Viele Armeeeinheiten gehen auf die Seite der Revolution über. Wo sich die Offiziere dem entgegenstellen und mit Zwangsmaßnahmen versuchen, die Disziplin wieder herzustellen, werden sie entwaffnet oder getötet. Selbst der Teil der in Petrograd zurückgebliebenen persönlichen Leibgarde von Nikolaus II meutert: Sie „erscheint in der Reichsduma und bittet um Erlaubnis, jene Offiziere zu verhaften, die sich geweigert, am Aufstand teilzunehmen.“ (9)

Mit diesen Ereignissen ist das Schicksal der Monarchie besiegelt. Die jahrhundertelange Herrschaft der Zaren bricht innerhalb weniger Tage vollständig zusammen. Die zaristische Regierung ist völlig paralysiert: Bei einer Sitzung wird auf das Gerücht hin, dass Revolutionäre sich nähern, das Licht ausgemacht, einige der feinen Herren verkriechen sich unter dem Tisch. Sie werden schließlich von den Revolutionären verhaftet. Der Zar selbst, der sich im Hauptquartier der Armee in Mohilew befindet, entschließt sich zur Rückkehr nach Petrograd. Doch daraus wird nichts: Sein Zug wird wegen streikenden BahnarbeiterInnen mehrmals umgeleitet und muss schließlich umkehren. Eine Expedition des Generals Iwanow, der am 12. März mit „treuen Truppen“ von der Front zur Hauptstadt aufbricht, muss angesichts der Lage unverrichteter Dinge wieder umkehren.

Im restlichen Land wird der Aufstand im Prinzip einfach nachvollzogen: Zuerst rund um Petrograd und in Moskau, dann in den Provinzstädten und schließlich auf dem flachen Land. Nirgends findet sich jemand der bereit wäre, für den Zaren und seine Herrschaft zu sterben, und so kommt es im restlichen Land auch nicht zu wirklichen Kämpfen.

Die Revolution kostete in Petrograd knapp 1.500 Menschen das Leben. Im Vergleich mit den umgebenden blutigen Schlachten des ersten Weltkrieges, die Millionen Menschen das Leben kosteten, war das nicht viel. Und doch war es die wichtigste all dieser Schlachten. Die Waffen hatten sich nicht, wie in den Jahren zuvor, gegen die ArbeiterInnen und Bauern der „anderen“ Länder gerichtet, sondern gegen die eigenen UnterdrückerInnen. Schon im ersten Anlauf wurde der Zarismus unwiederbringlich hinweggefegt. Doch was ihn ersetzen sollte, war für den größten Teil der Massen nicht klar.

Die Februarrevolution war ein Ergebnis der konkreten Lebensbedingungen der Unterdrückten. Das Sterben an der Front, Lebensmittelknappheit, Kälte, die Ausbeutung durch Fabrik- und Gutsbesitzer, die Unterdrückung durch die Offiziere war der Auslöser für diesen gewaltigen Aufstand. Doch wer sollte diese Dinge ändern?

Die Macht lag auf der Straße. Überall waren die alten Würdenträger, von der Regierung abwärts verhaftet, diskreditiert, orientierungslos, desorganisiert. Die siegreichen Massen begannen sofort, sich in diesem Machtvakuum selbst zu organisieren. Wie schon 1905 begannen die ArbeiterInnen in den Betrieben damit, Delegierte zu wählen, die sich in Räten (russisch: Sowjets) organisierten. Derselbe Prozess fand auch in den verschiedenen Militäreinheiten statt, mit Verspätung auch unter den einfachen Bauern auf dem Land. Doch die Massen der normalen ArbeiterInnen und Soldaten, gerade erst zum politischen Leben erwacht, waren noch zu unerfahren, zu unorganisiert, als dass sie die Situation voll begreifen und ausnutzen konnten.
Neben den Sowjets bildete sich eine bürgerliche „provisorische Regierung“. Diese hatte keinerlei Interesse daran, die Forderungen der einfachen Soldaten, ArbeiterInnen und Bauern umzusetzen.

Im Gegenteil, ihr Hauptaugenmerk war es, die „Ruhe und Ordnung“ wieder herzustellen. Für den Moment gab sie sich einen „revolutionären“ Anstrich und wurde von den Massen geduldet, nachdem sie auch von vielen zuvor illegalen oppositionellen und „revolutionären“ Parteien gestützt wurde. Diese sogenannte „Doppelherrschaft“ löste nichts Grundlegendes, die Würfel über der russischen Revolution waren noch nicht gefallen. Doch in den nächsten Monate sollten in einem gewaltigen Auf und Ab der Ereignisse die Massen diese Erfahrungen nachholen.


Glossar: 

  • [1] Bolschewiki – Revolutionäre Sozialdemokratie (später Kommunistische Partei), die politische Strömung Lenins
  • [2] Kosaken – Wehrbauern, die in Russland als Reitertruppen eingesetzt wurden und als besonders zarentreu galten
  • [3] Nagajka – Aus Leder geflochtene Riemenpeitsche, mit einem kurzen Stiel oder auch ohne Stiel nur an einer Schlaufe um das Handgelenk getragen

Zitate:

(1) Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Band 1, Vorwort
(2) ebd., Kapitel 3
(3) ebd., Kapitel 7
(4) - (9) ebd.


  

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