Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk beendete den ersten Weltkrieg in Osteuropa. Für den Frieden mussten die Bolschewiki große Gebietsverluste hinnehmen. Doch Trotzki nutzte die Verhandlungen geschickt als Propagandaplattform. Von Jannis Brugger


Am 10. Februar 1918 erklärte Trotzki den Kriegszustand mit den Mittelmächten Deutschland und Österreich-Ungarn für beendet und stellte den Befehl zur vollständigen Demobilisierung der russischen Truppen an allen Fronten in Aussicht. In der gleichen Rede äußerte er die Hoffnung, dass andere Länder es Russland gleichtun werden. Er unterstrich, dass die Forderungen der Mittelmächte nicht mit den Interessen der arbeitenden Bevölkerung zu vereinbaren waren – ja, dass sie einzig der herrschenden Klasse dienten.
Diskussionen der Bolschewiki

Bereits drei Monate zuvor, nur gut einen Monat nach der Oktoberrevolution und nach drei Jahren Krieg, hatte die junge Sowjetregierung im Dezember 1917 mit den Mittelmächten einen Waffenstillstand vereinbart, worauf die schwierigen Verhandlungen um einen Friedensvertrag begannen. Diese fanden in der Festungsstadt Brest-Litowsk an der deutsch-russischen Grenze statt und standen auf russischer Seite unter der Führung von Leo Trotzki.

Trotzki bat schon bald um eine Verhandlungspause und kehrte nach Petrograd zurück, um sich mit dem Zentralkomitee abzusprechen. Unter dessen Mitgliedern herrschte Uneinigkeit über das weitere Vorgehen. Eine Minderheit um Lenin wollte um jeden Preis einen Friedensvertrag unterzeichnen, da sie der Ansicht war, dass die russische Armee nicht in der Lage sei, den Krieg fortzusetzen. Tatsächlich war die Armee in einem desolaten Zustand, kriegsmüde und schlecht ausgerüstet. Ein nicht unerheblicher Teil der Soldaten war desertiert und die noch verbliebenen Truppen hätten es ihnen wohl gleichgetan, wäre die Offensive tatsächlich befohlen worden.

Eine weitere, linksradikale Fraktion im Zentralkomitee, sprach sich für die Fortsetzung des Krieges aus. Sie befürchtete, dass durch die Verhandlungen der Anschein hätte aufkommen können, dass die Bolschewiki die arbeitenden Massen Europas im Stich ließen. Der Fakt, dass diese hoffnungsvoll nach Russland blickten und die russische Revolution als Vorbild betrachteten, gebiete es, mit den Mittelmächten auf keinen Fall an einen Tisch zu sitzen – und also den Krieg weiterzuführen.

Lenin und Trotzki waren sich absolut bewusst, dass die sozialistische Revolution nicht auf Russland beschränkt bleiben durfte, sondern sich zunächst nach Deutschland und später über den Rest der Welt ausbreiten musste. Die Friedensverhandlungen zogen die Augen aller ArbeiterInnen Europas auf sich – alle blickten sie nach Russland. So boten sich die Verhandlungen als ideale Bühne, um an die Arbeiterinnen und Arbeiter Europas zu appellieren.

So war es dann auch Trotzkis Vorschlag, die Verhandlungen bis zum absehbaren Kriegsende und der Niederlage der Mittelmächte hinauszögern, um die ArbeiterInnen in Europa ebenfalls zur Revolution zu bewegen. Nur im Falle einer erneuten deutschen Offensive wollte er einer Kapitulation zustimmen. Da er auch der Überzeugung war, dass ein Weiterführen des Krieges unmöglich war, eine Kapitulation aber ebenfalls außer Frage stand, lautete seine Parole: «Weder Krieg noch Frieden».

Verhandlung als Propaganda

Trotzki gelang es schließlich, das Zentralkomitee von seinen Plänen zu überzeugen und am Ende Januar 1918 sprach sich die Versammlung des Zentralkomitees für Trotzkis Taktik aus. Kurz darauf kehrte er wieder an den Verhandlungstisch nach Brest-Litowsk zurück.

Er verfolgte die beschlossene Absicht, die Verhandlungen als Plattform für revolutionäre Propaganda zu nutzen, geschickt und machte keinen Hehl daraus. Er hielt lange Reden im Bewusstsein, dass diese von den ArbeiterInnen auf der ganzen Welt gelesen würden und trieb damit seine Verhandlungsgegner zur Weißglut, wie diese wiederholt in Briefen und Rapporten betonten.

 

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Waffenstillstand? Faustschlag!

Die deutsche Delegation aber gab bekannt, dass auf einen Waffenstillstand ohne Friedensvertrag unweigerlich wieder Kampfhandlungen folgen würden. Trotzki sah eine erneute Offensive Deutschlands aufgrund der sich abzeichnenden Revolution in Deutschland als unwahrscheinlich an, was sich aber als Trugschluss erweisen sollte.

Am 16. Februar gab die deutsche Heeresleitung bekannt, dass sie den Waffenstillstand am 17. Februar für abgelaufen betrachtete und gab somit der russischen Armee lediglich zwei Tage Zeit, um sich auf die kommende Offensive vorzubereiten. Wie angekündigt, begann die deutsche Armee also mit der Offensive «Operation Faustschlag».

Die deutschen Truppen kamen gegen die desolate russische Armee sehr schnell voran. Innerhalb weniger Tage hatten sie große Teile der Ukraine unter ihre Kontrolle gebracht und schon am 19. Februar Lenin erklärte vor dem Moskauer Sowjet: «Es gibt keine Armee mehr», und bat die Deutschen um Frieden.

Die deutsche Heeresleitung antwortete erst vier Tage später und stellte harsche Forderungen: Russland solle sich jetzt aus Finnland, Livland (der damalige Begriff für Estland und Lettland) und der Ukraine zurückziehen und die gesamte russische Armee demobilisieren.

Ehrenvoll zugrunde gehen?

In der Folge wurde innerhalb der bolschewistischen Führung hitzig diskutiert und auch in der Bevölkerung herrschte Uneinigkeit. Viele proletarische Bastionen liebäugelten mit einem Guerillakrieg, während die Bauern und Soldaten kriegsmüde waren. Die Linksradikalen um Bucharin votierten für eine Fortsetzung des Krieges. Das Weiterführen des Kriegs hätte die Gefahr mit sich gebracht, dass sich die Avantgarde (die proletarischen Zentren) von den Massen (den Bauern und Soldaten) getrennt hätte.

Lenin hingegen war der Überzeugung, dass Russland eine Verschnaufpause benötigte, um das neue System zu stabilisieren. Er war sich der Gefahr bewusst, in der sich die Revolution befand, falls die Deutschen weitere Siege erzielen würden. Schließlich stand deren Armee nur noch gut hundert Kilometer vor Petrograd und die russische Armee hatte ihr kaum etwas entgegenzusetzen. Es ging darum, Sowjetrussland am Leben zu erhalten, denn seine Zerstörung hätte einen äußerst harten Schlag für die Moral der europäischen Arbeiterklasse bedeutet. Lenin spekulierte auf die baldige Niederlage der Deutschen im Weltkrieg und auf die Revolution in Deutschland. Zudem ist stark zu bezweifeln, dass ein Weiterführen des Krieges mit allen Mitteln die deutsche Revolution in irgendeiner Art und Weise begünstigt hätte.

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Der «Raubfrieden» – eine Niederlage?

Am 3. März wurde der Friedensvertrag von Brest-Litowsk unterzeichnet, der als «Raubfrieden von Brest-Litowsk» in die sowjetische Geschichtsschreibung eingehen sollte. Durch den Vertrag verlor Russland große Gebiete in Osteuropa, wodurch revolutionäre Bestrebungen von den deutschen Besatzern rigoros unterdrückt wurden. Zudem büßte Russland einen erheblichen Teil seiner Industrie und Ressourcen ein.
Auch wenn die Unterzeichnung des Friedensvertrages nach der ersten Verhandlungsrunde für die junge Sowjetrepublik betreffend der verlorenen Gebiete und Industrie wohl vorteilhafter gewesen wäre, konnte ihr jetzt niemand mehr eine Kollaboration mit den imperialistischen Mächten oder eine Kapitulation ohne Kampf vorwerfen. Durch das verzögerte Unterzeichnen verlor Russland zwar enormen Reichtum, gewann aber das politische Vertrauen der arbeitenden Klasse auf der ganzen Welt.

Revolutionäre Diplomatie

Lenin und Trotzki waren sich, als die Verhandlungen begannen, bewusst, dass eine fortlaufende militärische Konfrontation mit den Mittelmächten für Russland nicht zu gewinnen war. Mit ihren Einschätzungen zur revolutionären Situation in Deutschland und Europa lagen sie keineswegs weit daneben: Kurze Zeit später erhoben sich die Arbeiterinnen und Arbeiter in Deutschland und beendeten damit den ersten Weltkrieg. Leider wurde diese Revolution verraten und die von Lenin erhoffte politische Lösung für die verlorenen Gebiete wurde verunmöglicht.

Das Beispiel des Brester Friedensvertrages zeigt anschaulich, wie eine revolutionäre Organisation auch widrige Umstände zur Agitation der arbeitenden Klasse nutzen muss. Eine revolutionäre Organisation darf sich nicht in Hinterzimmerdeals verwickeln lassen und muss immer die Interessen der Massen im Auge behalten. Verhandlungen können auch eine Bühne sein, um die Ideen des Sozialismus zu verbreiten.


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