Am 22.4. wäre Lenin 150 Jahre alt geworden. Seine Ideen werden regelmäßig von VertreterInnen aller politischer Couleur verfälscht. Willy Hämmerle beleuchtet die wichtigsten Stationen in seinem Leben und verteidigt sein Erbe.

Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, wurde 1870 in Simbirsk an der Wolga geboren. Es waren turbulente Zeiten. Russland war eines der letzten Länder Europas, die die Fesseln der alten feudalen Ordnung noch nicht abgeworfen hatten. Am Land herrschten noch immer die adeligen Großgrundbesitzer mit harter Hand über die Bauern, die massenhaft im Elend lebten. Viele von ihnen trieb es in die Städte, wo sich die moderne Industrie mit rasanter Geschwindigkeit entwickelte. An der Spitze des Ganzen herrschte der Zar despotisch über das halbfeudale Land.

Im Angesicht dieser Despotie war es die s.g. Intelligenzija (Studenten, Schriftsteller, Ärzte, Lehrer, Wissenschaftler, Künstler usw.), die zunehmend revolutionäre Schlüsse zog – und sich dem Terrorismus zuwandte. Die Idee war, dass eine spektakuläre Aktion die Bauern gegen den Zaren wachrütteln soll, damit diese dann eine freie Gesellschaft, eine Art „Agrarsozialismus“, schaffen. Ihren Höhepunkt hatte diese Strömung in den 1870er Jahren bis zum 1. März 1881, als es den Terroristen der Organisation „Volkswille“ gelang, Zar Alexander II in die Luft zu jagen. Aber die Bauern rührten sich nicht, sie misstrauten den „Städtern“ und das erhoffte große Erwachen blieb aus.

Auch Lenins großer Bruder Alexander, genannt Sascha, war ein Anhänger des „Volkswille“ und beteiligte sich 1887 an der Planung für ein neuerliches Attentat, diesmal auf Zar Alexander III. Da war die terroristische Strömung aber nach jahrelangem Misserfolg, trotz der größten Bemühungen, schon kaum mehr am Leben. Es war ein letztes verzweifeltes Aufbegehren. Schlussendlich kam es nicht einmal zum Attentat selbst. Sascha und seine Genossen wurden verhaftet und hingerichtet.

Sein Tod kam für seine Familie, die von seinen politischen Aktivitäten kaum etwas wussten, überraschend. Bis dahin hatte der damals 17-jährige Lenin mit revolutionärer Politik nicht viel am Hut. Während Alexander im gemeinsamen Zimmer das Kapital von Karl Marx studierte, beschäftigte sich sein kleiner Bruder mit der russischen Literatur. Die Verhaftung, der Prozess und die bald darauf folgende Hinrichtung Alexanders änderten aber alles.

Wie Lenin politisiert wurde

Lenin versuchte herauszufinden, wofür sein Bruder bereit war, sein Leben zu lassen und begann die klassischen Schriften der „Narodniki“ oder auch „Volkstümler“, in deren Tradition sich die Anhänger des „Volkswillen“ sahen, zu lesen. Allen voran war dabei Nikolai Tschernyschewskis Werk „Was Tun?“. Lenin sagt darüber: „Das Buch zeigt uns nicht nur, dass jeder richtig denkende Mensch ein Revolutionär sein muss, sondern auch etwas noch viel wichtigeres: Wie ein Revolutionär sein soll, welche Regeln er befolgen muss, wie er auf sein Ziel zugehen und welche Mittel er dabei verwenden soll

Tschernyschewski erweckte aber nicht nur Lenins revolutionären Geist. Er war es auch, der ihm die materialistische Philosophie und die Dialektik Hegels näherbrachte, noch bevor er auf Marx und Engels gestoßen war. Dieser Weg, vom „Volkswille“ und Tschernyschewski zum Marxismus, war damals bezeichnend für eine ganze Generation junger Revolutionäre, die nach dem Scheitern der terroristischen Strategie eine neue Theorie für die Revolution suchten. So einer war auch Georgi Plechanow – der später sogenannte „Vater“ des russischen Marxismus.

Aber dieser Weg war nicht geradlinig. Lenin wurde nicht über Nacht vom braven Schüler zum marxistischen Berufsrevolutionär. Im Sommer 1887, nur wenige Monate nachdem sein Bruder hingerichtet wurde, ging Lenin nach Kasan um Recht zu studieren. Er wurde aber bald von der Universität verwiesen und in ein kleines Dorf verbannt, weil er sich an einem Protest beteiligte. In dem Protest ging es um verhältnismäßig wenig, doch beim Namen Uljanow wollten die Behörden kein Risiko eingehen.

In der darauffolgenden Zeit geriet er in Kontakt mit verschiedensten politischen Zirkeln, in denen auch die marxistische Literatur immer populärer wurde. Er studierte vor allem „das Kapital“, das ihn in den Händen seines Bruders zuhause noch gar nicht interessierte. Jetzt gab es ihm aber ein tiefes Verständnis von der Gesellschaft, in der er lebte.

Es brauchte aber noch ein paar Jahre, mehrere Wohnsitzwechsel und das Nachholen seines Universitätsabschlusses, bis er vollständig vom Marxismus überzeugt war. Er hatte sich in der Zwischenzeit eingehend mit den Werken von Marx und Engels beschäftigt und Kontakt zur Gruppe „Befreiung der Arbeit“ von Plechanow aufgenommen. Es war diese Gruppe, die für den Großteil der Übersetzungen von Marx und Engels in Russische sorgte und sich als erste dezidiert marxistische Gruppe verstand. Aus dem Schweizer Exil, in dem sie sich befanden, lieferten sie die theoretische Vorarbeit für den Aufbau der Arbeiterbewegung in Russland.

Im Jahr 1893 zog Lenin schließlich nach St. Petersburg, um sich dem Aufbau einer marxistischen Gruppe auch in Russland zu widmen. Kurz nach seiner Ankunft traf er seine zukünftige lebenslange Kampfgefährtin Nadeschda Krupskaja und freundete sich mit Julius Martow an, der viele Jahre später dann sein politischer Gegner wurde.

Der theoretische Schwerpunkt von Lenin und seinen GenossInnen war der Kampf gegen die noch immer populäre Vorstellung der Narodniki, dass sich eine Revolution in Russland in erster Linie auf die Bauernschaft stützen muss.

Die MarxistInnen hingegen waren der Ansicht, dass sich der Kapitalismus in Russland zwar in einem anderen Tempo und mit gewissen Besonderheiten entwickelt – aber trotzdem den gleichen Gesetzen wie im Westen folgt: Der zentrale Konflikt war zwischen Kapital und Arbeit, und nur die in Russland noch junge, aber schnell wachsende Arbeiterklasse wäre in der Lage, die Produktion in ihre eigene Hände zu nehmen und eine freie Gesellschaft zu schaffen.

1894 schreibt Lenin seine erste längere Schrift „Was sind die „Volksfreunde“ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten“ und beteiligte sich damit an dieser Auseinandersetzung. Er zeigt darin auf, dass der Kapitalismus längst die dominierende Wirtschaftsweise in Russland geworden war.

1895 mündete die Arbeit der MarxistInnen in der Gründung des „Kampfbunds zur Befreiung der Arbeiterklasse“. Das war der erste Versuch, die vielen marxistischen Zirkel zu einer echten Organisation zu vereinen, mit dem Ziel, die St. Petersburger Arbeiter für die Revolution zu gewinnen. Sie verteilten Flugblätter und agitierten vor Fabriken, wie z.B. den Putilow-Werken, wo 30.000 Menschen oft mehr als 12 Stunden am Tag arbeiteten. Revolutionäre in anderen Städten machten es ihnen nach und gründeten ihrerseits „Kampfbünde“. Aus ihnen geht nur wenige Jahre später die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands hervor.

Was tun?

Das nächste Ziel des Kampfbunds war die Herausgabe einer eigenen Zeitung. Kurz bevor die erste Ausgabe in Druck ging kam ihnen allerdings die Geheimpolizei auf die Schliche und Lenin wurde mit einigen anderen führenden Mitgliedern ins Gefängnis gesteckt und später ins Exil nach Sibirien geschickt.

Nach seinem sibirischen Exil, jetzt im westeuropäischen Exil, konzentrierte sich Lenin ab 1900 darauf, eine Zeitung herauszugeben – die Iskra, auf deutsch: Der Funke. Die Herausgabe einer Zeitung war für Lenin von zentraler Bedeutung. Sie sollte der Sammelpunkt aller MarxistInnen in Russland werden und nicht nur das kollektive Gesicht der Partei sein, sondern auch das Gerüst, das dem Aufbau der Partei einen Rahmen gibt. Die Iskra wurde schnell zur erfolgreichsten Untergrundzeitung in Russland. In der Redaktion saßen neben den „Jungen“ – Lenin, Martow und ein gewisser Potressow, auch die „Alten“ von der „Befreiung der Arbeit“: Plechanow, Wera Sassulitsch und Pavel Axelrod. Später kam noch Leo Trotzki dazu, der in der Ukraine auf sich aufmerksam machte. Die Zeitung druckte auch Beiträge bekannter Figuren der internationalen Arbeiterbewegung, wie Rosa Luxemburg oder Karl Kautsky.

In dieser Zeit schrieb Lenin sein berühmtes Buch „Was Tun?“, wo er gegen die reformistischen Tendenzen in der Partei auftrat, die s.g. „Ökonomisten“, und für den Aufbau einer straff organisierten Partei argumentierte, die es braucht, um die sozialistische Revolution durchzuführen. 1903 fand der zweite Kongress der Sozialdemokratischen Partei statt, der ihr eigentlicher Gründungskongress war (am ersten Kongress nahmen nur 9 Delegierte teil, die danach alle verhaftet wurden). Hier konnte sich die Iskra mit ihrem revolutionären Programm durchsetzen und wurde zur vorherrschenden Strömung, allerdings taten sich innerhalb der Redaktion die ersten Differenzen auf.

Anhand von kleineren organisatorischen Fragen entbrannte ein Konflikt zwischen Lenin und Martow, deren jeweilige Anhänger von nun an „Bolschewiki“ und „Menschewiki“ genannt wurden – Mehrheitler und Minderheitler. Diese erste Spaltung kam für alle überraschend. Es ging unter anderem um eine Meinungsverschiedenheit in der Definition der Mitgliedschaft. Es wird sich in den folgenden Jahren herausstellen, dass beide Richtungen völlig verschiedene Perspektiven für die Revolution in Russland hatten.

Alle waren sich einig, dass die kommende Revolution in Russland „bürgerlich-demokratisch“ sein wird – also der Sturz des Zarismus und der alten feudalen Strukturen, die Aufteilung des Landes unter den Bauern und die Errichtung einer Verfassung und eines Parlaments. Die Frage war aber: wer spielt die führende Rolle? Für die Menschewiki müssten die Bürgerlichen ihre eigene Revolution anführen, aber Lenin und die Bolschewiki argumentierten, dass es die ArbeiterInnen sein werden.

Die Einschätzung über die führende Rolle der Arbeiterklasse in der kommenden Revolution bestätigte sich schon 1905, als sie schließlich ausbrach. Während die liberalen Bürgerlichen auf Verhandlungen mit dem Zaren setzten, trat die Arbeiterklasse in Aktion. Eine riesige Streikwelle überrollte das Land und um das weitere Vorgehen zu koordinieren, bildete sie spontane „Arbeiterräte“ – die so genannten Sowjets – für Lenin die Keimform der Arbeitermacht.

Die Sozialdemokratische Partei, die bisher als illegale Untergrundorganisation arbeiten musste, wuchs schlagartig. Den revolutionären ArbeiterInnen gelang es aber nicht, den Zaren zu stürzen – die Revolution, die Lenin später als Generalprobe für die Oktoberrevolution von 1917 bezeichnet, wurde besiegt. Der zaristische Staat saß wieder fest im Sattel und läutete eine Periode der Reaktion ein. Die Partei musste wieder in den Untergrund, ihre führenden Kader wanderten ins Gefängnis oder flohen ins Exil.

In der Revolution waren die Bolschewiki und Menschewiki wieder näher zusammengewachsen, wobei die Bolschewiki die Tendenz der Menschewiki, sich den Bürgerlichen unterzuordnen, immer wieder kritisierten. So z.B. Lenin im Sommer 1905 in seinem Buch „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie“. Die jeweiligen Lehren, die die beiden Fraktionen aus der Revolution zogen, führten über die Jahre aber zur endgültigen Spaltung, bis sie sich 1912 schließlich als eigenständige Parteien konstituierten.

Reformismus oder Revolution

Die Menschewiki waren zu dem Schluss gekommen, dass die Arbeiterklasse sich mit einem Platz in der zweite Reihe begnügen und sich der Bourgeoisie unterordnen sollte. Die Bolschewiki wollten davon nichts hören. Ihrer Ansicht nach hatte die Revolution gezeigt, dass die Bürgerlichen gar nicht in der Lage waren, eine Revolution zu machen, weil sie zu eng mit den Großgrundbesitzern und dem Staat verbandelt sind. Die Arbeiterinnen und Arbeiter sollen daher, unterstützt von den Bauern, die Revolutionanführen. Das Ziel war eine „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauern“. Trotzki ging noch einen Schritt weiter. Er stimmte Lenin zu, dass die Arbeiter die Revolution anführen würden, aber sie dürften dabei nicht stehen bleiben, sondern müssten damit beginnen, sozialistische Maßnahmen durchzusetzen: Das Konzept der permanenten Revolution.

Nach der Niederlage der 1905er-Revolution lag die Arbeiterbewegung am Boden. Erst 1912 richtete sie sich langsam wieder auf, als nach einem Massaker an Minenarbeitern eine Streikwelle ausbrach. Die Bolschewiki konnten aus der Isolation ausbrechen und gewannen kontinuierlich an Unterstützung – bis 1914 schlagartig der 1. Weltkrieg ausbrach.

Über die Periode zwischen 1905 und dem Ausbruch des Kriegs, wird normalerweise nicht viel geschrieben. Zum Verständnis für Lenins Methode ist diese Zeit aber zentral. „Ohne revolutionäre Theorie, kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben“, schrieb er in „Was Tun?“. Und er meinte es auch so. Die Niederlage von 1905 und der darauffolgende allgemeine Pessimismus eröffneten auch innerhalb der Reihen der Bolschewiki viele Diskussionen. Soll man am Parlament teilnehmen, oder nicht? Soll man nur im Rahmen der legalen Möglichkeiten arbeiten, oder soll man auch illegale Arbeit machen? In allen diesen Fragen weigerte sich Lenin, theoretische Zugeständnisse zu machen. Immer wieder pochte er auf die Grundlagen des Marxismus. Und als dieser selbst in Frage gestellt wurde, verfasste er „Materialismus und Empiriokritizismus“, um sicherzustellen, dass die Partei auf einem sicheren, philosophischen Fundament beruhte.

Mit ihrer Opposition gegen den Krieg stand die Mehrheit der Russischen Sozialdemokraten in Europa fast alleine da. In den meisten anderen Ländern verrieten die Führer der sozialistischen Parteien die Arbeiter und unterstützten ihre eigene herrschende Klasse. Nur eine Handvoll Internationalisten hielt dagegen: Luxemburg und Liebknecht waren noch die Bekanntesten, aber die Parlamentsfraktion der SPD stimmte fast geschlossen für die Kriegskredite des Kaisers. In den anderen Ländern sah es nicht besser aus. Lenin konnte es kaum glauben, und hielt die Meldung für ein Fake der Geheimdienste, doch nachdem sich die Wahrheit herausstellte, zog er alle Konsequenzen: die Sozialistische Internationale war tot, eine neue Internationale musste her.

Im Allgemeinen waren die Marxisten völlig isoliert. Die Aussicht auf eine Revolution wirkte nicht sehr vielversprechend. Auch damals legte Lenin größten Wert auf Theorie. In seinem Buch „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ analysierte er 1916 den Gesamtzustand der kapitalistischen Weltwirtschaft, die die Grundlage für den tobenden Weltkrieg legte. Eine Analyse, die an Aktualität nichts eingebüßt hat und den heutigen Zustand der Welt noch genau so gut beschreibt, wie damals.

Noch im Jänner 1917 schließt Lenin in einem Vortrag über die Revolution von 1905:

Wir, die Alten, werden vielleicht die entscheidenden Kämpfe dieser kommenden Revolution nicht erleben. Aber ich glaube mit großer Zuversicht, die Hoffnung aussprechen zu dürfen, dass die Jugendlichen, die so ausgezeichnet in der sozialistischen Bewegung der Schweiz und der ganzen Welt arbeiten, dass sie das Glück haben werden, nicht nur zu kämpfen, sondern auch zu siegen in der kommenden proletarischen Revolution

Nur wenige Wochen später bricht die Revolution in Russland aus. Innerhalb weniger Tage muss der Zar abdanken und die Macht liegt auf der Straße. Es bilden sich zwei Ausschüsse. Auf der einen Seite: die provisorische Regierung. Sie bestand aus liberalen Bürgerlichen und gemäßigten Monarchisten. Später traten auch Menschewiki und Sozialrevolutionäre (eine Nachfolgepartei der Narodniki) in sie ein. Auf der anderen Seite wählte sich die Arbeiterklasse ihre eigene Vertretung – die Sowjets – wie sie es schon 1905 getan hatten.

Lenin in der Russischen Revolution

Als Lenin hörte, dass die Mehrheit des Petrograder Sowjets, die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, die provisorische Regierung unterstützten, schrieb er sofort an die örtlichen Bolschewiki: „Keine Unterstützung für die Provisorische Regierung! Kein Vertrauen in Kerenski!“

LeninMitKatzeZu Lenins Hobbys zählten Eislaufen, Schwimmen, Jagen und Schach.

Er schrieb in seinen „Briefen aus der Ferne“:

Unsere Revolution ist eine bürgerliche Revolution, deshalb müssen die Arbeiter die Bourgeoisie unterstützen, sagen die Führer der Menschewiki.

Unsere Revolution ist eine bürgerliche Revolution, sagen wir Marxisten, deshalb müssen die Arbeiter dem Volk über den Betrug der bürgerlichen Politiker die Augen öffnen und es lehren, Worten keinen Glauben zu schenken, sich nur auf die eigenen Kräfte, auf die eigene Organisation, auf den eigenen Zusammenschluß, auf die eigene Bewaffnung zu verlassen.

Lenin fasste die Aufgabe so zusammen: „unsere Revolution in den Prolog zur sozialistischen Weltrevolution verwandeln“. Die örtliche Führung der Bolschewiki – diejenigen, die es am Schnellsten aus dem Exil zurück geschafft haben (in Petrograd, wie St. Petersburg nun hieß, waren das Stalin und Kamenew) – sahen das nicht so. Auch sie akzeptierten die provisorische Regierung.

Ihnen donnerte Lenin nach seiner Ankunft in Russland die „Aprilthesen“ entgegen. Die Kernaussage war: „Es braucht eine zweite Revolution, alle Macht den Sowjets!“ Im Sowjet, der von den Menschewiki und Sozialrevolutionären dominiert war, hielt man Lenin wegen seinen Thesen für einen Verrückten. Selbst die Führung seiner eigenen Partei zweifelte. Bei den ArbeiterInnen in den Bezirksgruppen schlugen diese Thesen aber ein, wie eine Bombe. Sie hielten es wie Trotzki, der erzählte: „Zwei oder Drei Tage, nachdem ich in Petrograd ankam, las ich Lenins Aprilthesen. Sie waren genau das, was die Revolution brauchte!“ Innerhalb weniger Wochen orientierte sich die Partei um, und Lenins Aprilthesen wurden zu ihrem Programm.

Von nun an galt die gesamte Agitation der Partei der Machtübernahme durch die Arbeiterklasse. Mit dieser Position waren die Bolschewiki noch in der Minderheit: sie forderten die Menschewiki und Sozialrevolutionäre im Sowjet auf, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Schluss mit der provisorischen Regierung, die nur die Interessen der Kapitalisten vertritt! Anders können die unmittelbaren Forderungen der Massen – Frieden, Brot und Land für die Bauern nicht gelöst werden. Die Devise lautete: „Geduldig erklären“. Zu diesem Zweck schrieb Lenin im Sommerauch sein wohl bekanntestes Werk, „Staat und Revolution“, in dem er darlegt, dass der kapitalistische Staat nur den Kapitalisten dient, und die Arbeiterklasse ihn zerschlagen muss. Das war nicht Lenins Erfindung. In „Staat und Revolution“ verteidigt er die grundlegenden Positionen von Marx und Engels, die er ausführlich zitiert und die auch heute noch aktuell sind.

Durch die Klarheit der bolschewistischen Position und das Zögern der Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die sich hinter der provisorischen Regierung versteckten, gewannen die Bolschewiki immer mehr Unterstützung. Im Juli demonstrierten bewaffnete Arbeiter und Soldaten für die Machtübernahme – aus Sicht Lenins noch zu früh. In Petrograd könnten sie vielleicht gewinnen, aber der Rest des Landes war noch nicht bereit dafür. Die Demonstration wurde niedergeschlagen und die provisorische Regierung drängte die Bolschewiki in den Untergrund. Die provisorische Regierung dachte, sie könnte sich so konsolidieren.

Diese Vorstellung entlarvte sich nur ein paar Wochen später als Illusion. Während die Menschewiki und Sozialrevolutionäre ihr Bestes taten, den Bürgerlichen nicht auf die Füße zu treten, regte sich im August eine Verschwörung um den reaktionären General Kornilow, der alle Arbeitervertreter zum Teufel jagen und eine Militärdiktatur errichten wollte. Im Kampf gegen Kornilow stellte sich heraus, dass nur die Bolschewiki wussten was zu tun war. Sie kümmerten sich um die Produktion von Waffen, zur Verteidigung der Revolution und organisierten Streiks gegen diejenigen Unternehmer, von denen bekannt war, dass sie die Verschwörung unterstützten. Bolschewistische Soldaten überzeugten Kornilovs Truppen, dass es sich nicht lohnt mitzumachen und die Eisenbahnarbeiter blockierten die Gleise nach Petrograd.

Schnell wurde klar, dass die Bolschewiki die entschlossensten Kämpfer gegen die Reaktion waren. Durch ihre Strategie wurde aus der ganzen Affäre nichts. Kornilovs Soldaten gingen einfach nachhause. Es dauerte von nun an nicht mehr lange, bis die Bolschewiki auch die Mehrheit in den Sowjets gewonnen und die Staatsmacht erobert hatten. Durch die geduldige Vorarbeit war die tatsächliche Machtübernahme eine relativ einfache Angelegenheit. Bewaffnete Arbeiterund Soldatenabteilungen, die Roten Garden, besetzten strategisch wichtige Orte, verhafteten die provisorische Regierung. Der mehrheitlich bolschewistische Sowjetkongress beschloss, mit dem Aufbau der Sozialistischen Ordnung anzufangen.

Innerhalb weniger Tage wurde ein Friedensdekret erlassen, die Bauern erhielten Land, die Geheimdiplomatie wurde abgeschafft und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen wurde zum gültigen Prinzip. Die neue Regierung, der Rat der Volkskommissare, mit Lenin an der Spitze, setzte die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau durch und verordnete die völlige Trennung von Kirche und Staat. In den Betrieben wurde die Arbeiterkontrolle eingeführt. Von nun an soll nichts mehr gehen, wenn es die ArbeiterInnen nicht erlauben. Alles, was die Menschewiki und Sozialrevolutionäre für unmöglich hielten, wurde in kürzester Zeit durchgesetzt.

Für die Kapitalisten war es eine völlige Katastrophe. Nur wenige Tage, nachdem der Sowjet die Regierungsgewalt in die Hand nahm, organisierten die s.g. Weißen Generäle konterrevolutionäre Truppen gegen das nunmehr Rote Petrograd. Ihnen schlossen sich nicht wenige an, die von den Roten Garden zwar eingesperrt wurden, aber wieder frei kamen, nachdem sie schworen nicht mehr gegen die Revolution zu kämpfen. Sie stürzten das ganze Land in den Bürgerkrieg, der die junge Republik in den nächsten vier Jahren im Griff hielt.

Lenins Erbe

Für Lenin und die Bolschewiki war klar, dass die Russische Revolution auf sich alleine gestellt nicht überleben werden kann. Sie sahen die dringlichste Aufgabe in der Ausbreitung der Revolution und begannen mit dem Aufbau einer neuen internationalen Kampforganisation – der kommunistischen Internationale (Komintern).

Diese Organisation wurde nach ihrer Gründung 1919 mit enormen Enthusiasmus aufgenommen. In vielen Ländern bildeten sich Kommunistische Parteien mit massenhafter Unterstützung. Doch es waren nicht die besten Voraussetzungen. Lenin und die Bolschewiki hatten über viele Jahre eine straffe Organisation aufgebaut, die fest auf dem Boden des revolutionären Marxismus stand. 1917 gab es in Russland sozusagen schon einen Generalstab für die Revolution, während sich die Kommunistinnen und Kommunisten in den anderen Ländern diesen erst schaffen mussten. So schafften es die Bürgerlichen mithilfe der Reformisten gerade noch, die revolutionäre Welle, die den 1. Weltkrieg beendete, in sichere Bahnen zu lenken.

In der Geschichtsschreibung ist es heute populär, Lenin als blutrünstigen Diktator darzustellen, der erst die Grundlage für die mörderischen Exzesse des Stalinismus legte und keine abweichenden Meinung toleriert. Genau das Gegenteil ist der Fall! Die bolschewistische Partei war extrem demokratisch und ihr inneres Leben war von ständigen Debatten geprägt. Oft wurden Fraktionskämpfe ausgetragen, in denen Lenin selbst öfters in der Minderheit war, oder sich nur knapp durchsetzen konnte. Wie kann es so etwas in einer diktatorisch beherrschten Partei geben?

Tatsächlich ist es so, dass die Bolschewiki, die die Oktoberrevolution durchgeführt haben, und Stalins bürokratisches Regime durch ein Meer von Blut voneinander getrennt sind. Die Autorität Lenins entstammte seinen Ideen, die von der Praxis bestätigt wurden. Stalin und seine Clique zerstörten diese Partei mit bürokratischen Manövern und Gangstermethoden bis hin zur Ermordung unzähliger Revolutionäre. Noch zu Lebzeiten führte Lenin gemeinsam mit Trotzki einen Kampf gegen diese damals schon sichtbaren Entwicklungen. Es reicht ein Blick, in die letzten Bände der Lenin Werke und sein politisches Testament, indem er die Entfernung Stalins als Generalsekretär forderte, um den Mythos vom Oberteufel Lenin zu widerlegen.

In den letzten Jahren seines Lebens war es ihm aber immer weniger möglich am politischen Leben teilzunehmen. Er erlitt zahlreiche Schlaganfälle und konnte zeitweise nicht einmal sprechen. Am 21. Jänner 1924 starb er schließlich.

Wir feierten dieses Jahr den 150. Geburtstag Lenins. Vieles hat sich seither verändert, doch die Gesellschaft in der wir leben, funktioniert nach den gleichen Regeln. Noch immer sorgt der Kapitalismus für Krisen, Elend und Barbarei. Er und die Bolschewiki waren es, die zum ersten Mal Schluss damit machten. Es liegt an uns, in ihre Fußstapfen zu treten.

(Funke Nr. 183/27.4.2020)

Buchtipp:

leninuTrotzki cover

Lenin und Trotzki - wofür sie wirklich kämpften

Das Buch wurde von den britischen Marxisten Ted Grant und Alan Woods im Jahr 1969 als Antwort auf einen Artikel von Monty Johnstone geschieben, dem führenden Theoretiker der Kommunistischen Partei Großbritanniens. Dieser versuchte, aus stalinistischer Sicht Trotzki und seinen Beitrag zur Oktoberrevolution zu diskreditieren, um zu verhindern, dass die Mitglieder der Kommunistischen Jugend unter den Einfluss des britischen Trotzkismus gerieten. Der Text erscheint nun erstmals in deutscher Sprache.

Taschenbuch, 320 Seiten
2017

ISBN: 978-3-902988-09-6


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